Freitag, April 19, 2024
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„Wir importieren keine Konflikte, wir exportieren Waffen“

Bild: Die Politologin Rosa Burç , Foto: privat

 

Seit ein paar Wochen wurde es medial ruhig um die syrisch-kurdische Stadt Afrin, die im Januar von türkischen Truppen angegriffen worden war und nun unter Kontrolle der Türkei und der Freien Syrischen Armee steht. Im Zuge des türkischen Einmarschs kam es immer wieder zu Protestdemonstrationen zumeist von kurdischer Seite und damit einhergehenden Konflikten zwischen türkischen und kurdischen Migrant_innen in Deutschland. Insbesondere in Sozialen Medien ärgerten sich viele Menschen darüber, dass der Konflikt hierzulande ausgetragen wird, er gehöre nicht hierher und zudem befänden sich die Kurd_innen ohnehin in ideologischer Nähe zur PKK und seien daher potentielle Unterstützer_innen einer terroristischen Gruppe. Doch stimmt das?
Die Bonner Politikwissenschaftlerin Rosa Burç promoviert zurzeit an der Universität Bonn im Fach Politikwissenschaft. In ihrer Doktorarbeit setzt sie sich mit den verschiedenen kurdischen Gruppierungen auseinander, die von ihr angebotenen Seminare befassen sich mindestens teilweise mit der Thematik, im März war sie für drei Wochen in der im Nordirak gelegenen Autonomen Region Kurdistan (KRG) unterwegs, um Interviewpartner_innen für ihre Doktorarbeit zu finden und ihren Blick für die Region zu schärfen. Für sie ist es wichtig, eine derartige Arbeit mit Praxisbezug und nicht allein am europäischen Schreibtisch zu schreiben: „Dass ein Teil meiner Identität in dieser Region wurzelt, befreit mich nicht von Kategorien und Vorannahmen.“ Wir haben uns mit ihr getroffen, um uns einige Fragen beantworten zu lassen.

Wer sind „die Kurden“? Worin liegt die Problematik bei einer fehlenden Differenzierung?
Häufig findet medial keine Trennung zwischen den verschiedenen kurdischen Akteur_innen und ihren Interessen statt. Für Burç besteht ein großes Problem darin, dass je nach Situation und strategischer Nützlichkeit der Fokus auf andere kurdische Gruppen gelegt wird. Manchmal wird von den Peschmerga gesprochen, denen Waffen zur Selbstverteidigung geliefert wurden, dann von den türkischen Kurd_innen, die als besonders PKK-nah gewaltbereit dargestellt werden. Zudem wird medial häufig unterstellt, alle Kurd_innen teilten die Bestrebung nach einem unabhängigen Nationalstaat Großkurdistan, der sich über Teile Iraks, Irans, Syriens und der Türkei erstrecke. Dies jedoch entspricht nicht der Realität. Nur eine kurdische Gruppe strebt weiterhin nach nationalstaatlicher Autonomie: die nordirakische Autonome Region Kurdistan (KRG). Wenn dort von Unabhängigkeit gesprochen wird, meint dies jedoch nicht die gesamten kurdischen Siedlungsgebiete, sondern nur die irakischen Kurdengebiete. Die Autonomiebestrebungen der KRG werden von der internationalen Gemeinschaft kritisch betrachtet, da man eine Strahlwirkung auf die umliegenden Länder befürchtet. Die sehr viel größeren kurdischen Bevölkerungsanteile etwa in der Türkei und Syrien verfolgen das Nationalstaatsprinzip nicht. Mit der Problematik Israels vor Augen, das sich von feindlichen Staaten umgeben sieht, glauben diese nicht an die Lösung der Kurdenfrage durch einen Nationalstaat. In ihren Augen ist zuerst eine von unten durch die Bevölkerung gehende Demokratisierung der gesamten Region nötig, um überhaupt in Frieden und Freiheit leben zu können, denn, so Burç: „Was bringt ein kurdischer demokratischer Nationalstaat, der sich in Teilen auf die Türkei ausdehnt, wenn die Türkei selbst nicht demokratisch ist? Es hätte eine fortlaufende Feindschaft Ankaras zur Folge.“ Statt eines Staats fordern sie mehr Möglichkeiten zu regionaler Selbstverwaltung ein, die jedoch innerhalb bestehender Staatsgrenzen existieren kann. Statt eines ethnisch-nationalistisch begründeten kurdischen Nationalstaats gehe es um die Demokratisierung der Gesamtbevölkerung in den einzelnen Staaten.

Was ist die aktuelle Situation in Afrin in Nordsyrien?

Ein Praxisbeispiel, das diese demokratischen Vorstellungen des sogenannten demokratischen Konföderalismus darstellt ist das nordsyrische Rojava, in dem die kürzlich durch die Türkei angegriffene Stadt Afrin liegt. Seit etwa sechs Jahren wurden dort regional Organisationsstrukturen aufgebaut. Insbesondere im syrischen Bürgerkrieg diente die Stadt Afrin als Zuflucht für viele Bürgerkriegsflüchtlinge, da sie bis zur „Operation Olivenzweig“ nicht angegriffen worden war. Nach dem Rückzug kurdischer Truppen aus der Stadt sind große Teile der multiethnischen Bevölkerung Afrins in den umliegenden Gebieten untergebracht worden, das Gebiet wird nun von der Freien Syrischen Armee (FSA) und der Türkei kontrolliert.

„Was der IS jahrelang gemacht hat, wird nun teilweise unter dem Deckmantel der Antiterrorbekämpfung durch die türkische Regierung und mithilfe westlicher Kräfte wiederholt.“

Warum dies so fatal ist, macht Burç an einem Foto deutlich, das aktuell in sozialen Medien kursiert. Vor der türkischen Kontrolle bestand die lokale Selbstverwaltung zu etwa der Hälfte aus Frauen, die Angehörigen entstammten erkennbar verschiedenen kulturellen Hintergründen. Nun versammelten sich unter der FSA-Flagge in der lokalen Verwaltung ausschließlich bärtige Männer. Auch wenn dies plakativ klinge, würde dies deutlich zeigen, dass die Türkei aktuell die Region entkurdifiziert. In diesem Kontext werden die zunehmenden Meldungen von entführten und verschwundenen Frauen mit Sorge betrachtet. Afrin war die einzige Stadt Syriens, in der nach dem Angriff durch den IS und die damit einhergehenden Frauenentführungen noch Yezid_innen lebten. Seit der „Operation Olivenzweig“, in deren Reihen viele dschihadistische Söldner und ehemalige IS-Anhänger kämpften und die in der FSA die Stadt kontrollieren, beklagen yezidische Familien erneut das Verschwinden ihrer Töchter. Burç erklärt dies damit, dass für fundamentalistische Weltanschauungen Vergewaltigung ein probates Mittel sei, der dschihadistischen Ideologie zufolge werde eine nichtmuslimische Frau, die durch einen Islamisten vergewaltigt wird, dadurch zwangskonvertiert. Das kurdische Yezidentum steht aufgrund seiner mystischen Elemente und vorwiegend mündlichen Tradition in einem Spannungsfeld zum radikalen Islam, in dessen Zentrum der Koran als Heiliges Wort Gottes steht und der das Yezidentum häufig als ketzerisch und satanistisch porträtiert. Dass nun erneut Verfolgungen und Enthauptungen stattfänden, die im Westen kaum Beachtung erfahren, kritisiert Burç scharf: „Was der IS jahrelang gemacht hat, wird nun teilweise unter dem Deckmantel der Antiterrorbekämpfung durch die türkische Regierung und mithilfe westlicher Kräfte wiederholt.“
Es sei aber sehr wichtig, dass der Westen auf das Gebiet Rojava blickt: Nicht nur sind die Kurd_innen eine große Gruppe und Akteure in vielen verschiedenen Konflikten, sie haben in den vergangenen sechs Jahren mit Rojava eine Selbstverwaltung geschaffen, die bezüglich ihrer demokratischen und freiheitlichen Ansprüche eine Ausnahme innerhalb der Region bildet – dies ist nun bedroht.

Was ist die Situation in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak nach dem Referendum?
Da Rosa Burç kurz vor unserem Gespräch in der Region Erbil war, erlebte sie selbst deutlich die Folgen des Referendums im September 2017. Vor dem Referendum habe man als Deutsche Staatsbürgerin kein Visum benötigt, da man direkt die Flughäfen der international anerkannten Autonomieregion anflog. Nach dem Referendum wurden viele Flughäfen gesperrt, der Flug aus Deutschland geht nun über Bagdad. Dies bedeutet, dass ein irakisches Visum beantragt werden muss – was etwa für deutsche Kurd_innen einen Familienbesuch im Irak erschweren kann. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 seien viele Checkpoints im Irak errichtet worden. Nach dem Referendum habe der irakische Zentralstaat einige Gebiete der kurdischen Kontrolle entzogen. Da diese Gebiete teilweise mitten in kurdischen Gebieten liegen, müssten auch in der Autonomieregion lebende Menschen ohne irakisches Visum nun bestimmte Routen meiden, die vom einen kurdischen Gebiet zum anderen durch irakische Checkpoints führen. Auch in den Flüchtlingslagern, die in den 1990ern nahe der türkischen Grenze entstanden waren, als Kurd_innen aus der Türkei flohen und von der Autonomieregion nicht aufgenommen wurden, sei das Referendum bemerkbar. Die Lager, die ohnehin keine internationale Hilfe erhielten und durch Bagdad und die als korrupt geltende KRG-Regierungspartei KDP nur begrenzt Gelder erhalten, seien von verschiedenen Kräften umzingelt, die versuchen, nach dem Referendum Einfluss auf das Gebiet zu haben. Neben den irakischen Kurd_innen und dem Zentralstaat befindet sich der IS weiterhin in der Nähe, ebenso wir türkische Drohnen, die das Gebiet überfliegen. Das Referendum selbst war auch in der Bevölkerung nicht unumstritten. Allerdings, konstantiert Burç nach ihren Gesprächen mit den Einwohnern der Region, ist für diese nicht das Referendum schuld an der momentanen Situation. Auch, wenn dies möglicherweise zu einem falschen Zeitpunkt abgehalten worden sei- wann sei denn der richtige Zeitpunkt? Es sei rechtlich in der Verfassung vorgesehen und die Bevölkerung habe durch das Referendum erneut das Gefühl bekommen, sehr allein zu sein und keine Unterstützung durch die Internationale Gemeinschaft zu erhalten.

Kurden=PKK=Terror?

Eine häufig anzutreffende Assoziation ist die Annahme, dass alle oder zumindest die meisten Kurd_innen die u.a. von Abdullah Öcalan gegründete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei unterstützen. Diese ist auch in Deutschland als terroristisch gelistet und verboten. Insbesondere in den vergangenen Wochen wurden die syrischen Kurd_innen und ihre Partei PYD wiederholt auch medial als PKK-Ableger bezeichnet. Organisatorisch und personell ist dies jedoch nicht haltbar. Zwar ist es korrekt, dass die PYD bestimmte ideologische Prinzipien mit der PKK teilt und Öcalans politische Schriften aus der Isolationshaft einen großen Einfluss auf die Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava hatten. Die Umsetzung dieser Theorien in der syrischen Region erfolgte jedoch durch die Bevölkerung vor Ort, die das Modell des demokratischen Konföderalismus in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich umgesetzt haben und so viele Teile er Bevölkerung überzeugen konnten. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass die PYD die PKK nicht als Terrororganisation betrachtet. In diesem Kontext betont Rosa Burç, dass in der Einordnung der PKK als Terrororganisation das türkische Narrativ in Deutschland zu selten hinterfragt würde. Ein relevantes Kriterium für die Definition als terroristisch sind willkürliche Angriffe auf zivile Opfer. In der PKK-Historie sei dies zwar enthalten, die PKK habe sich jedoch mit dem Paradigmenwechsel vor etwa 15 Jahren für eine demokratische Lösung ausgesprochen. Es gäbe zwar radikale Splittergruppen, die PKK selbst jedoch habe sich mittlerweile von einer gewalttätigen Lösung abgewandt. In der Einschätzung der PKK als Terrororganisation würden insbesondere die 1990er-Jahre genannt, in denen die PKK sehr gewalttätig war. Allerdings müsse das Verhalten der PKK stets im jeweiligen zeitlichen Kontext betrachtet werden: in den 1990ern habe die Türkei beispielsweise oppositionelle Zeitungsredaktionen innerhalb der Türkei bombardiert und die kurdische Bevölkerung massiv unterdrückt. Mit der kurzzeitigen türkischen Öffnung und beginnenden Friedensverhandlung unter Erdogan hätte sich die PKK sehr offen und bereit zu einem Gewaltverzicht gezeigt. Das Problem sei, dass die türkische Regierung eine Entwaffnung nie gesetzlich habe festhalten wollen. Ohne die Sicherheit, vor Massenexekutionen geschützt zu sein, würde jedoch keine Guerillaorganisation die Waffen niederlegen. Zudem müsse die Rolle Öcalans differenzierter betrachtet werden. Nicht alle Kurd_innen unterstützten die PKK, aber selbst deren Kritiker etwa in Reihen der wesentlich nationalistischen irakischen Kurd_innen würden die Rolle Öcalans als Vordenker eines kurdischen Widerstands anerkennen. Er sei vor allem ein Symbol für eine kurdische Identität geworden, trotz seiner mittlerweile 20 Jahre andauernden Isolationshaft habe er eine lebendige Bewegung in Gang gesetzt. Die PKK habe mit Sicherheit viele Fehler begangen, trotzdem seien selbst Öcalans schärfste Kritiker meist davon überzeugt, dass es ohne die PKK heute keine Kurd_innen mehr in der Türkei gäbe. Eine realistische Betrachtung der PKK müsse auch dies miteinbeziehen.

Welche Rolle und Motivation hat die türkische Regierung?
Ohne die gewaltbereite Phase der PKK zu legitimieren sei es nötig, anzuerkennen, dass die „dunklen 90er“ nicht nur wegen einer radikalen Terrororganisation dunkel waren, sondern auch wegen der repressiven Minderheitenpolitik der Türkei. Das kemalistische Ideal einer homogenen türkischen Nation hat dazu geführt, dass in der Verfassung Minderheiten nicht etwa geleugnet, sondern unsichtbar gemacht wurden. Statt etwa aufzuführen, dass die kurdische Sprache verboten ist, wurde aufgenommen, dass jede andere Sprache neben der türkischen das Türkischsein angreift und deshalb eine Gefahr darstellt. Bis vor wenigen Jahren bedeutete dies, dass türkische Kurd_innen legal keine Bücher in ihrer Sprache lesen oder Serien auf Kurdisch ausstrahlen durften. Burç sieht bei einer Einigung mit der PKK den Staat in der Bringschuld: Auf eine gewalttätige Phase habe die PKK gewalttätig geantwortet, auf eine moderate Phase moderat. Dass Erdogan und die AKP erstmalig überhaupt thematisiert hätten, dass es eine Kurdenfrage gäbe, sei bis daher nie geschehen und daher sehr positiv wahrgenommen worden. Seine Innen- und Außenpolitik hätten jedoch gezeigt, dass die propagierte Öffnung gegenüber den Kurd_innen rein strategisch und machtpolitisch sei. Statt ihnen politische Teilhabe zu erlauben, habe die AKP bestimmte kulturelle Freiheiten wie etwa begrenzte TV-Ausstrahlungen in kurdischer Sprache erlaubt, um die Minderheit ruhigzustellen. Insbesondere aber die politische Kandidatur kurdischer Politiker_innen in den Reihen der HDP (die keine Kurdenpartei ist, jedoch deutliche Forderungen nach einer toleranten türkischen Minderheitenpolitik stellt) habe für Erdogan eine Gefahr für seine Machtposition dargestellt. Das türkische und in der Person Erdogan besonders sichtbare Streben nach Hegemonie auch in der Außenpolitik habe dazu geführt, dass er irgendeinen Umgang mit den Kurd_innen habe finden müssen. In diesem Kontext ist seine enge, auch wirtschaftliche Kooperation mit der irakisch- kurdischen Autonomieregion bedeutsam. Mit dem Ausspielen verschiedener kurdischer Gruppen gegeneinander sowie einer außenpolitischen Hegemonialstellung könne man kurdische Emanzipationsbestrebungen formen und abschwächen. Insbesondere die Strategische Partnerschaft der Türkei mit Deutschland führt jedoch zu Problemen, wenn deutsche Kurd_innen die türkischen Restriktionen hierzulande spüren.

Handelt es sich bei den Demonstrationen um „unsere“ Konflikte?
Das Problem im Umgang mit der PKK insbesondere in Deutschland sieht Burç darin, dass auch kurdischen Dachvereinigungen wie etwa NAV-DEM eine Nähe zur PKK unterstellt würde. Betrachte man die Arbeit dieser Kulturvereine, stelle man jedoch fest, dass diese neben Aufrufen zur Demonstration im Falle Afrins kurdischen Sprachunterricht und wissenschaftliche Vorträge organisieren und Gesellschaftszentren unterhalten. Sie selbst hätte von ihren Eltern, die aus der Türkei geflohen seien, einen kurdischen Zweitnamen erhalten sollen. Dieser sei jedoch in Deutschland nicht eintragungsfähig gewesen, da er sich auf der Liste verbotener kurdischer Namen befand, die die Türkei der Bundesregierung übermittelt habe. Dieser türkische Einfluss auf die deutsche Kurdenpolitik sei beispielsweise auch daran erkennbar, dass vor wenigen Wochen der Mezopotamia-Verlag in Neuss von einer Polizeirazzia betroffen war. Dieser Verlag druckt kurdischsprachige Bücher, etwa Klassiker wie Thomas Mann oder Shakespeare. Auch Schriften Öcalans wurden dort gedruckt. Allerdings, so Burç, sei es problematisch, wenn das alleinige Lesen seiner Schriften schon bestraft würde, denn neben der Tatsache, dass man in Deutschland beispielsweise auch Che Guevara und andere mitunter problematische Revolutionäre lesen könne würde dies verkennen, dass Öcalan trotz seiner Historie einen großen Einfluss auf eine Bevölkerung habe, die auf eine Gesamtgröße von etwa 40 Millionen geschätzt wird. Kurd_innen, die aus der Türkei fliehen, würden hierzulande selten als kurdisch, sondern als türkisch wahrgenommen.

„Man ist der Türkifizierungspolitik in der Türkei entkommen, um nun in Deutschland als türkisch zu gelten.“

Indem deutsche Kurd_innen zudem unter Generalverdacht gestellt würden, erführen sie hierzulande mitunter die gleichen Regulierungen bezüglich ihrer Kultur, vor der sie geflohen seien: „Sie sind der Türkifizierung in der Türkei entkommen, um letztendlich in Deutschland türkifiziert zu werden.“ Die unkritische deutsche Akzeptanz türkischer Kurdenpolitik führe dazu, dass die Kurd_innen selbst nicht als Akteure oder Ansprechpartner wahrgenommen werden, man nicht mit ihnen, sondern über sie spreche. Für deutsche Kurd_innen führe dies etwa im Falle Afrin dazu, dass die Wahlheimat die andere Heimat angreife – und auf diese deutsche Verantwortung würden kurdischstämmige Deutsche etwa durch die Demonstrationen hinweisen. Kurz gesagt: „Meine Staatsangehörigkeit greift mit meinen Steuergeldern meine Herkunft an.“ Gleichzeitig sei es jedoch wichtig, dass die Demonstrationen keine rein kurdischen seien. Burç wundert sich, wieso bisher keine Demonstration zu Afrin ausschließlich von nichtkurdischen Akteur_innen organisiert worden sei: „Eine friedliche Enklave in einem souveränen Staat, der Syrien trotz des Bürgerkriegs noch ist, wird angegriffen. Unter türkischen Flaggen und denen der FSA stehen deutsche Leopardpanzer-was machen die da?“ Diese Demonstrationen seien Antikriegsdemonstrationen, es ginge um die Problematik deutscher Waffenexporte an die Türkei, da Deutschland durch diese Exporte Teil eines ernstzunehmenden Konflikts würde – eines Konflikts, der im türkischen Homogenitätsdenken verankert ist, das die Kurd_innen als Störfaktor wahrnimmt. Für Rosa Burç ist es wichtig, dass diese Demonstrationen sehr wohl auf deutsche Straßen gehören und es sich hierbei nicht um importierte Konflikte handle, mehr noch, die deutschen Bürger_innen jeglicher Herkunft hätten die Pflicht, den demonstrierenden Kurd_innen zuzuhören: „Wir importieren keine Konflikte, wir exportieren Waffen und diese wiederum importieren Konflikte.“

Welche Verantwortung hat die Bundesregierung?

Rosa Burç sieht die Bundesregierung in der Pflicht, eine eigene Kurdenpolitik zu entwickeln. Dabei ginge es nicht darum, die Kurd_innen als homogene Gruppe zu betrachten, sondern darum, regionale Selbstverwaltungsbestrebungen nach demokratischen, säkularen Grundsätzen zu unterstützen und zu fördern.

„Wir sollten Werte exportieren und keine Waffen.“

Die Kurd_innen selbst müssten zu Ansprechpartnern werden, statt in Kurdenfragen die Regierungen der jeweiligen Nationalstaaten anzusprechen. „Integration heißt zuhören. Für die Menschen, die hier demonstrieren, geht es um einen sehr realen und ernsthaften Konflikt. Wir müssen das ernstnehmen.“ Die Politik der Bundesregierung sei durch die strategische Partnerschaft mit der Türkei keine langfristige und verkenne noch die entscheidende Rolle, die die Kurd_Innen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens spielen. Sie seien als Akteure in zahlreichen Staaten und Konflikten wahrnehmbar und zudem auf wasser- und ressourcenreichen Gebieten ansässig. Daher sei es auch unter geopolitischen Gesichtspunkten wichtig, auf Augenhöhe auf die Region zu schauen. Der Verweis auf die strategische Partnerschaft mit der Türkei oder deren ‚berechtigte Sicherheitsinteressen‘ dürfe nicht zur Folge haben, dass die deutsche Politik wertfrei agiere: „Wir können auch mit Werten strategische Partnerschaften führen. Wir sollten Werte exportieren und keine Waffen.“ Es sei notwendig, sich klar zu positionieren. Wenn in syrischen Schulen in Rojava die türkische Fahne wehe, sei das Zeichen eines Angriffskriegs und einer Besatzung, dies müsse dementsprechend sanktioniert werden. Im Zuge dessen sei es nötig, den Kurd_innen differenzierter zu begegnen. In der aktuellen Situation und in den Konflikten könnten sie scheinbar nichts richtig machen. Die Kooperationen mit den USA, mit Assadtreuen Milizen oder Russland geschähen aus einer existenziellen Bedrohung heraus, wahlweise seien sie dann jedoch Unterstützer des Bürgerkriegs oder imperialistische Marionetten. Die Flaggen des syrischen Regimes, die in der kurdischen Region mitunter geschwenkt wurden und häufig als Zeichen einer angeblichen kurdischen Solidarisierung mit Assad wahrgenommen wurden, seien aber zumeist von syrischen Geflüchteten geschwenkt worden, die aus Aleppo in die relativ stabile und sichere Region Rojava geflohen seien und dort Schutz gefunden hätten. Nach der Evakuierung Afrins als Folge auf das türkische Bombardement eines Krankenhauses habe man ihnen vorgeworfen, die Stadt zu kurdifizieren, obwohl die PYD lange davon ausgegangen sei, dass eine Evakuierung nicht nötig sei, weil die türkische Regierung keine zivilistischen Opfer haben wolle. Hätte die PYD die Zivilist_innen in Afrin behalten, hätte man ihr dagegen möglicherweise vorgeworfen, sie als menschliche Schutzschilde zu nutzen. Diese Situation der Kurd_innen anzuerkennen und sie als Gesprächspartner wahrzunehmen, sei für eine langfristig ausgerichtete Außenpolitik notwendig.

Welchen Stellenwert hat die Forschung zu Kurdistan in der Wissenschaft?
Dass medial und politisch häufig nicht ausreichend zwischen verschiedenen kurdischen Akteur_innen und Interessen differenziert wird, kann auch mit einer wenig ausgebauten Forschung zu Kurdistan erklärt werden. Burç, die an der School of Oriental and African Studies in London studiert hat, weist darauf hin, dass selbst diese Universität, die im Feld der Nahoststudien als die renommierteste weltweit gilt, im Mastercurriculum keine einzige Unterrichtseinheit zu den Kurd_innen angeboten habe. Kurdologie sei in Deutschland eher eine Selbstbezeichnung: „Wenn überhaupt betrachtet die Wissenschaft Kurd_innen im Rahmen von Religionswissenschaft, Linguistik oder ihrem Minderheitenstatus. Es gibt keinen Lehrstuhl für Kurdologie in Deutschland. Die Forschung zu Kurdistan ist häufig ein Selbststudium und wird von kurdischstämmigen Akademiker_innen und Netzwerken häufig aus eigener Tasche bezahlt.“ Bis auf die Universität in Exeter, die Kurdish Studies anbiete, sei die Kurdologie kein wissenschaftlicher Fokus. Sie sei gegebenenfalls an ein Orientalismuscurriculum angegliedert, wenn Forschung zu Kurd_innne betrieben werde geschehe dies jedoch meist aus Eigeninteresse entweder aufgrund eigener Wurzeln oder durch Studierende, die im Lauf ihres Studiums das Interesse für die Region entdecken.

„Die Forschung zu Kurdistan ist meist ein Selbststudium und wird von kurdischstämmigen Akademiker_innen und Netzwerken häufig aus eigener Tasche bezahlt.“

Dass die Forschung zu einem relativ geringen Maß institutionalisiert sei hänge auch mit der kurdischen Staatenlosigkeit zusammen. Diese verortet die Thematik häufig im ‚luftleeren Raum‘. Indem sie jedoch selten in allen Facetten, sondern entweder sprachlich, religionswissenschaftlich oder minderheitenpolitisch betrachtet wird ist es häufig schwierig, ein umfassendes Bild zu erhalten. Trotzdem sei die netzwerkorientierte Arbeit der kurdischen Forschung in Deutschland sehr fruchtbar. Allerdings sei zukünftig ein stärkerer Fokus auf das Thema nötig. In diesem Kontext bekräftigt Burç, dass sie durch ihre Stelle am Lehrstuhl für Regierungslehre am Institut für Politik und Gesellschaft in ihren Seminaren ihre eigene Expertise weitergeben möchte: Im kommenden Semester wird sie zum wiederholten Mal ein Bachelorseminar über die verschiedenen kurdischen Akteur_innen und ihre Emanzipationsbestrebungen anbieten.

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