Freitag, April 19, 2024
Allgemein Kultur

Die Sache mit dem ersten Schritt

Warum bei einigen Männern die Postfächer leer sind

von Sam F. Johanns

Wer in einem Dating-Portal als Gender „male/männlich“ und seine sexuelle Orientierung als „straight/heterosexuell“ angibt, dürfte beim Flirten Probleme bekommen, wenn er einfach auf Anfragen in seinem Postfach wartet. Als heterosexuelle, aber auch explizit homosexuell deklarierte Frau (!) kann man sich hingegen von überwiegend unangenehmen Anfragen von Männern kaum retten. Ja, als Frau benötigt man meist nicht einmal  ein konkretes Profilbild, um angeschrieben zu werden. Es gilt das ungeschriebene Gesetz, dass der Mann den ersten Schritt bei einer Kontaktaufnahme macht. Interessanterweise ist dies nicht viel anders, wenn man die devianten Communities miteinbezieht, bei denen klassische Bilder vom Mann als starkem Geschlecht mitunter außer Kraft gesetzt zu seien scheinen.
Diesen Sachverhalt wird man immer wieder biologistisch als naturgegeben gedeutet sehen. Von angeblichen jungsteinzeitlich-determinierten Hirnunterschieden bis hin zum speziellen Gen oder Geruchsbotenstoffen ist allerhand Halbwissen zum Phänomen auf dem Markt, gelegentlich  sogar von Pick-up-Artists zum gewinnbringenden Coaching-Inhalt für sexuell schwer integrierbare junge Männer mit Flirtproblemen verwurstet. (Des FW berichtete in vorhergehender Ausgabe)
Das könnte, getreu des Prinzips der offenen, fallibilistischen Wissenschaftsphilosophie, natürlich sein. Ist aber wie ich finde eher als Ausdruck der patriarchalen Gesellschaftsordnung zu werten. Für wesentlich wahrscheinlicher halte ich es daher, dass jede Frau, die aktiv sexuelle Begegnungen sucht, einer gewissen sozialen Stigmatisierung unterworfen sein dürfte. Feministische Kreise benennen das Phänomen konkret als Slut-Shaming. Ein in der geschlechterrollenspezifischen Erziehung der Gesellschaft begründetes Prinzip, welches so allgegenwärtig ist, dass die allermeisten Betroffenen egal welchen Geschlechtes dieses nicht als kulturell vermittelt, sondern natürlich veranlagt wahrnehmen. Autorinnen wie Laurie Penny benennen Zustände wie diese konkret als allgemeine gesellschaftliche Gewalttätigkeit gegen Frauen, ihre Funktion ist die Aufrechterhaltung geltender normativer Rollenbilder und die Unterdrückung der Gleichstellung.

So werden alltägliche Seiten in unseren Browser-Fenstern zu Mahnungen und Belegen gegen all jene Antifeminist_innen, welche meinen, Gleichstellung sei bereits passiert und die Furien sollten sich mal nicht so anstellen beim Versuch, nun endgültig die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Sich vorzustellen, wie unsere Flirtgewohnheiten jenseits konventioneller Rollenverständnisse aussehen würden/könnten, halte ich für durchaus spannender.

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