Editorial

Lieber Leser*innen,

Endlich sind die Semesterferien da und nach einem ereignisreichen, ungewohnten und hoffentlich einzigartigen Online-Semester begeben auch wir uns in die Sommerpause. Anstelle unserer zweiwöchentlichen Ausgaben werdet ihr nun bis zum Beginn des Wintersemesters jede Woche einen neuen Artikel von einem unserer Redaktionsmitglieder lesen können.

Tom hat diese Woche extra für uns für über zwei Monate auf Alkohol verzichtet! Naja, nicht ganz, aber berichten kann er trotzdem, welche Effekte solch ein Fasten so mit sich bringen kann und welch überraschende Fazits er aus der ganzen Erfahrung ziehen konnte.

Unsere nächste Ausgabe steht schon in den Startlöchern, ihr könnt sie ab Montag, dem 2.11., sowohl analog in der Uni als auch digital hier auf der Homepage genießen. Als kleines Extra gibt es unser Interview mit CatCalls of Bonn jetzt zum ersten Mal auch in Audio-Form. Hört mal rein!

Zusätzlich findet ihr eine von Jan zusammengefasste Übersicht zu den neuen Regelungen, die für Bonn gelten, seit dieses als Risikogebiet erklärt wurde. (Stand: 17.10.2020)

Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen und viel Gesundheit!

Melina Duncklenberg, Chefredakteurin

Unser Sommer-Programm

Toms Bericht

Warum es auch ohne viel Promille geht

Melinas Interview

Ein Interview mit CatCalls of Bonn

Ronnys Essay

Was hinter dem “neuen” Trend steckt

Toms Essay

Ein Konflikt, der immer noch nicht vorbei ist

Sams Essay

Eine Hassliebe

Milans Kommentar

Ein Kommentar zur europäischen Grenzpolitik

Clemens Ausblick

Politikwechsel in Sicht

Toms Bericht

Die Schutzverordnung muss natürlich auch bei der Wahl eingehalten werden.

Jans Kommentar

Corona und  Humor?

Ronnys Bericht

über den Tod von Oury Jalloh

Gut anstoßen lässt sich auch alkoholfrei. (Quelle: Pixabay)

Gesellschaft

Einfach mal nichts trinken...

Sieben Wochen Verzicht auf Alkohol

Ein Bericht von Tom Schmidtgen

23.10.2020

Als ich den ersten Schluck Alkohol nach sieben Wochen trinke, sitze ich in einer Vinothek eines Weinguts. Mit Freund*innen bin ich in das Weingebiet der Nahe gefahren, bei einem Winzer probieren wir uns durch die besten Flaschen der vergangenen Jahre. Das erste Glas spüre ich schnell, die letzten warmen Stunden des Jahres tun ihr Übriges. Danach gehen wir über die Weinfelder spazieren, nach ein paar Gläsern in der prallen Sonne fällt uns das allen gar nicht mehr so leicht. Mir aber wahrscheinlich am schwersten.

Diesen Corona-Sommer habe ich nämlich fast zwei Monate auf Alkohol verzichtet. Und es war leichter als gedacht. Alkohol ist die Volksdroge Nummer 1. Jeder fünfte Mann und 14 Prozent aller Frauen haben einen „riskanten Alkoholkonsum“, so der Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung von 2019 . Unter den 18- bis 25-Jährigen trinken ein Drittel regelmäßig Alkohol, die Zahl ist seit Jahren leicht rückläufig. Ein risikoarmer Alkoholkonsum liegt nur vor, wenn man zwei Tage die Woche auf Alkohol verzichtet und maximal ein kleines Bier (bei Frauen) oder zwei kleine Gläser Bier (bei Männern) am Tag trinkt!

Im Hochsommer sitze ich bei meinem Hausarzt und er sagt mir, dass ich eine Woche lang auf Alkohol und Sport verzichten soll. Ich hatte endlich mal wieder Lust auf viel Sport und an den Wochenenden trank ich gelegentlich mit Freund*innen (für die Drogenbeauftrage sicher zu viel) Alkohol. Für einen Standard-Bluttest sollte aber ausgeschlossen werden, dass Sport und Alkohol einen Effekt haben – deswegen der erste Verzicht. Die erste Woche ist gar nicht so leicht gewesen. Die Vorräte an Alkohol locken, ein paar Weinflaschen, die ich im Lockdown bestellt hatte, wollte ich noch mit Freund*innen trinken. Eine offene Flasche verkoche ich fürs Risotto. Ich bilde mir ein, dass der Alkohol ja verdampft. Was ich nicht bedacht habe: Den Alkoholdampf atme ich ein. So fühle ich mich nach dem Kochen leicht beschwipst, obwohl ich doch verzichten wollte.

Während der ersten Woche google ich, was Alkoholfasten für Auswirkungen hat. Und ich finde durchaus viele Vorteile: Ich werde besser schlafen, abnehmen, das Hautbild soll sich bessern, ich werde mehr Energie haben und die Leber kann Schäden nach sechs bis acht Wochen ohne Alkohol fast vollständig regenerieren. Auf lange Sicht soll Alkoholfasten auch Geld sparen. Also bespreche ich beim nächsten Termin mit meinem Arzt, ob es nicht sinnvoll sei, eine Weile ganz auf Alkohol zu verzichten. Ich glaube, so viel Einsatz hat er mir nicht zugetraut. Ich soll mal machen. Am besten auch auf Süßigkeiten verzichten, sagt er mir. Auch das noch, denke ich mir. Wie wäre es mit: eins nach dem anderen?

Die zweite Woche ist auch komisch. Wenn Freund*innen am Wochenende ausgehen wollen, dann gehe ich zwar mit, aber bin der, der ein alkoholfreies Bier bestellt oder eine Limo. Meine Freund*innen trinken munter weiter. Bei einigen merke ich auch den Rausch. Jetzt bin ich mal der, der das von außen sieht! Ich werde schnell müde, gehe früher nach Hause. Und ich wache deswegen auch früher auf, fühle mich wirklich fitter. Wenn ich früher aus war und getrunken habe, dann hatte ich schnell einen Kater, auch bei geringeren Mengen Alkohol und musste ausschlafen. Jetzt starte ich morgens direkt gut in den Tag, nehme mir an den Morgen nach langen Nächten auch einiges vor.

Und trotzdem ist der Verzicht auf Alkohol bei vielen das größere Thema als das maßlose Besäufnis.

Auf einem Geburtstag darf ich jedem Gast fünf Minuten erklären, warum genau ich aufs Trinken verzichte, während sich niemand dafür rechtfertigen muss, warum sie oder er gefühlt den halben Kasten Bier austrinkt.

Meine Getränke bringe ich auf solche Partys immer selber mit, weil Gastgeber*innen ja meist nur Alkohol stellen. Also vorher immer noch einmal in einen gut sortierten Supermarkt: Cola, alkoholfreies Bier, alkoholfreien Sekt für Hugo und Limo stehen auf meiner Liste. Mir fällt auf, dass alkoholfreie Biere im Supermarkt oft um einiges teurer sind.  Davon ist auch nicht alles gesund, aber ich brauche die Abwechslung. Und weil ich schneller müde werde, brauche ich Koffein. Ich merke, wenn ich einfach Alkohol durch Ersatzprodukte austausche, spare ich weder Geld, noch ist es gesünder.

Nach und nach werden meine Freund*innen auch sensibler, wir unternehmen jetzt Dinge, bei denen wir alle auf Alkohol verzichten; nicht, weil ich darauf bestehe, sondern weil es sich für alle besser anfühlt. Und alleine trinken macht halt auch keinen Spaß. Mir fällt es noch im ersten Monat immer leichter auf Alkohol zu verzichten. Ich sehe die Vorteile: Ich schlafe wirklich besser. Ich nehme ohne viel Sport etwa ein Kilo ab. Die Vorstellung ans Betrunkensein ekelt mich mittlerweile an. Ich fahre jetzt öfter zu Freund*innen abends mit dem Auto. Früher hätte ich schauen müssen, wann der Zug zurück nach Köln fährt, jetzt kann ich ganz entspannt nachts über die leere A555 nach Hause.

Ab der fünften Woche bin ich überzeugter Nicht-Trinker. Mich kann niemand mehr damit provozieren. Ich weiß, dass es mir gut tut und dass ich gesünder lebe. Ich ernähre mich auch noch besser, mache noch mehr Sport, fange mit Yoga an. Sportliche Erfolge mache ich mir nicht mehr mit einem Rausch kaputt. Ich habe zunehmend das Gefühl, näher bei mir zu sein und besser auf meinen Körper hören zu können – keine allzu schlechte Eigenschaft mitten in einer Pandemie, finde ich. Ich bin jetzt im Praktikum, arbeite 40 Stunden die Woche und viele meiner Freund*innen sind weg. Jetzt fehlen sowieso die Anlässe fürs Trinken, feiern gehen kann man ohnehin nicht. Ich stehe immer früher auf, bin um 8 Uhr ohne Kaffee und ohne Frühstück fit im Büro. Das hätte ich mir vor einem Jahr nicht zugetraut. Ich weiß, würde ich jetzt auch noch regelmäßig trinken, dann würde ich auf Arbeit richtig durchhängen.

Nur einmal wird mein Alkoholverzicht zum Problem. Mein bester Freund will seinen Bachelorabschluss feiern, überrascht mich mit seiner Note und einer kalten Flasche Sekt im Kühlschrank. An die eine Sache hat er nicht mehr gedacht. Ich trinke nur Wasser und er ärgert sich den ganzen Abend über seinen Fehler. Ein bisschen hat ihm und mir das die Freude über seinen Abschluss zunichte gemacht.

Und dann kommt Tag X, nach sieben Wochen Verzicht. Auf diesen Tag habe ich mich gefreut, die Tage davor vergeht der Ekel auf Alkohol. Denn ich weiß, wir werden guten Wein in einem schönen Weingut trinken. Mit Freund*innen bin ich für ein Wochenende an die Nahe gefahren. Am Sonntag, der Tag nach meinem ersten Alkohol seit sieben Wochen, bin ich der einzige, der über einen kleinen Kater klagt. Und ich weiß wieder, warum ich gern verzichtet habe. Für mich war die Zeit nicht entbehrungsreich, sondern bereichernd. Ich habe meinen Körper besser kennengelernt und weiß, dass der Verzicht sein Gutes hat. Ich trinke jetzt sicher weniger als vorher. Einen Fastenmonat werde ich sicher auch im nächsten Jahr einplanen. Und ich habe jetzt immer ein alkoholfreies Kölsch zu Hause, falls jemand vorbeikommt und irgendetwas zu feiern hat.

Über den Autor

Tom Schmidtgen wollte ein alkoholfreies Bier im Büdchen kaufen. Der Verkäufer hat ihn entsetzt darauf hingewiesen, dass das Kölsch alkoholfrei ist. Das hat Tom gezeigt, dass sich noch einiges ändern muss.

Bonn ist Risikogebiet

Die wichtigsten Regelungen für euch im Blick

Eine Übersicht von Jan Bachmann

Am Freitag, den 16. Oktober, hat Bonn endlich mit Berlin gleichgezogen, nun ist auch die Bundesstadt Corona-Risikogebiet. Die Marke von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner wurde überschritten. Die Stadt hat daraufhin die Schutzmaßnahmen verschärft, hier die wichtigsten Regelungen:

Zusammentreffen und Alkohol

Im öffentlichen Raum dürfen sich von nun an maximal fünf Personen (aus verschiedenen Haushalten) treffen. Die Coronaschutzverordnung NRW sieht für Treffen im privaten Raum keine Begrenzungen vor. Die Landesregierung appelliert aber dringend an die Bürger*innen, Treffen in Privatwohnungen soweit wie möglich zu beschränken. Die Stadt Bonn bittet darum, bei privaten Feiern im privaten Raum eine Teilnehmer*innenzahl von zehn Personen nicht zu überschreiten.

Außerdem gilt in allen Bonner Gaststätten eine Sperrstunde zwischen 23 und 6 Uhr. Außerhalb von Gaststätten darf Alkohol in der ganzen Stadt nur bis 22 Uhr verkauft werden.

Maskenpflicht

In Bibliotheken (auch am Sitzplatz) gilt – sowie auch bei allen Veranstaltungen und Versammlungen im Innenbereich – eine Pflicht zum Tragen einer Alltagsmaske. Eine Maskenpflicht gilt außerdem in belebten Einkaufsstraßen bzw. Fußgängerzonen. Verstöße werden mit einem Ordnungsgeld in Höhe von 50 Euro geahndet. Auf die Maskenpflicht soll vor Ort mit zahlreichen Plakaten bzw. Schildern hingewiesen werden. In folgenden Bereichen gilt die Maskenpflicht:

Stadtbezirk Bonn: Acherstraße, Am Hauptbahnhof, Bertha-von-Suttner-Platz, Breite Straße, Bonner Talweg, Bonngasse, Brüdergasse, Dreieck, Friedensplatz, Friedrichstraße, Gangolfstraße, In der Sürst, Kasernenstraße, Markt, Maxstraße, Maximilianstraße, Mühlheimer Platz, Münsterplatz, Münsterstraße, Poststraße, Remigiusplatz, Remigiusstraße, Sternstraße, Sterntorbrücke,  Stockenstraße, Vivatsgasse, Wenzelgasse. 

Stadtbezirk Bad Godesberg: Alte Bahnhofstraße, Am Fronhof, Am Michaelshof, Bürgerstraße, Koblenzer Straße, Moltkeplatz, Oststraße, Pfarrer-Minartz-Straße, Schultheißgasse, Theaterplatz. 

Stadtbezirk Beuel: Friedrich- Breuer-Straße, Hermannstraße, Hans-Böckler-Straße, Konrad-Adenauer-Platz, Obere-Wilhelm-Straße, Rathausstraße. 

Stadtbezirk Hardtberg: Am Schickshof, Im Burgacker, Rochusplatz, Rochusstraße.  

Die Regelungen treten am 17. Oktober in Kraft und gelten zunächst bis zum 31. Oktober. Weitere Regelungen, beispielsweise zu öffentlichen Veranstaltungen oder zur Anzeigepflicht für Privatveranstaltungen, die nicht in der eigenen Wohnung stattfinden, findet ihr auf der Homepage der Stadt Bonn.

Zum Nachlesen:

Alle Infos zu den neuen Maßnahmen und die neuen Regelungen im Wortlaut findet ihr auf der Bonner Corona-Homepage.

Quelle: CatCalls of Bonn

Gesellschaft

Das Problem auf offener Straße

Welche Initiative dahinter steckt, sexuelle Belästigung sichtbar zu machen

Ein Interview von Melina Duncklenberg

16.10.2020

CatCalls sind ein Problem, das überall auf der Welt ein alltägliches Thema für viele Menschen ist. 2016 begann Sophie Sandberg mit 21 Jahren mithilfe eines Instagram-Accounts ein Bewusstsein für die Belastung zu zeigen, die das Hinterherpfeifen, Hinterherrufen und Belästigen ausmachen kann. Der Trend fand schnell auch in Europa Fuß und nach und nach wurden immer mehr Accounts von jungen Engagierten eröffnet, die CatCalls von Betroffenen mit Kreide an die Stellen malten, wo sich die Grenzüberschreitung abspielte. Vor zwei Monaten schloss sich auch Franzi der Bewegung an und eröffnete den ersten Bonner Account. Ich durfte mich mit ihr treffen.

FW: Für mich als Frau war es immer ein selbstverständliches Thema, aber die Männer, mit denen ich über das Thema gesprochen habe, haben erstmal nachgefragt, was genau überhaupt CatCalling ist. Wie würdest du das definieren?

CCoB: Also ich glaube, dass CatCalling jeder Mensch anders definiert und dass das auch das große Problem ist, was dahinter steckt. Aber um jetzt mal eine lose Definition zu nennen: CatCalling ist die Belästigung im öffentlichen Raum, also dass man als Mensch einem anderen Menschen Sachen hinterherruft oder ins Gesicht sagt, die vielleicht der andere Mensch in dem Moment überhaupt nicht hören möchte. Speziell bei CatCalling würde ich jetzt auch sagen, dass es in den allermeisten Fällen sexuell konnotiert ist.

FW: Okay, das heißt es gibt einen Übergang zu tätlichen Übergriffen, aber das zählt nicht mehr zum CatCalling.

CCoB: Eigentlich zähle ich das nicht mehr zum CatCalling, weil man das ja definitiv anzeigen kann und auch hoffentlich Konsequenzen folgen. Aber bei CatCalling würde die Polizei wahrscheinlich sagen „Gehen Sie weiter!“ und das war‘s. Das kann man bisher nicht anzeigen oder irgendwie verfolgen.

FW: Hat es für dich ein persönliches Ereignis gegeben, was dich zu der Initiative bewegt hat bzw. was dich dazu bewegt hat, den Instagram-Account zu eröffnen?

CCoB: Also eigentlich zwei. Bei der einen Sache bin ich durch den Hauptbahnhof gegangen und hatte eine Bluse an, bei der die obersten beiden Knöpfe auf waren und ein Mann hat dann zu mir gesagt: „Hallo, Entschuldigung, ich wollte dir nur sagen, dass deine Bluse auf ist. Die musst du dir mal zu machen!“ Ich hab mich dann vor ihn gestellt und meinte, dass das doch nicht sein verdammter Ernst ist, dass er mir gerade sagen will, wie ich mich anzuziehen habe! Das war ein Mann, der mein Vater hätte sein können! Ich fand es total unangebracht, hab mich dann in die Bahn gesetzt und wollte meine Bluse am liebsten noch weiter aufknöpfen, einfach nur aus Prinzip.

Bei der anderen Sache hatte ich schon nachgeschaut, ob es einen Bonner Account gibt, nachdem mich Freundinnen auf den Mainzer Account aufmerksam gemacht hatten. Ich war mit meinem Freund im Urlaub und wir lagen am Strand. Und da lag ein Mann, der auch mein Vater hätte sein können, der mit seiner Frau da war, die schlief. Der saß da und hat alle möglichen Leute angeglotzt und immer, wenn ich ins Wasser gegangen bin oder aus dem Wasser gekommen bin, hat er mir immer zugewunken oder mich so angegrinst, dass ich mir komisch vorkam. Und dann hat er sich irgendwann aufgesetzt und mich beim Lesen, beim Eincremen und so weiter beobachtet. Und dann hab ich ihm irgendwann den Mittelfinger entgegengestreckt und auf deutsch gefragt, was er eigentlich will. Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat, aber da habe ich dann mein Handy in die Hand genommen und am Strand gefragt, ob ich den Account machen darf. Weil es einfach nur noch nervt.

FW: Wo hast du nachgefragt?

CCoB: Ich habe erstmal den Mainzer Account gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn ich da jetzt mitmache. Und die haben mich direkt in alle möglichen WhatsApp- und Instagram-Gruppen eingeladen. Dann hab ich dem New Yorker Account auch noch geschrieben, der Sophie, die das Ganze ja 2016 ins Leben gerufen hat und sie auch gefragt, ob das in Ordnung für sie ist und sie hat sich total gefreut. Erst dann habe ich gemerkt, dass es diese Accounts ja schon fast für jede Stadt gibt und war total froh, in diese Community aufgenommen zu werden. Total nette Leute!

FW: Hat sich dein Account schnell entwickelt?

CCoB: Ja, ich fand, es war krass schnell! Ich konnte damit erst überhaupt nicht umgehen am Anfang, weil ich das alleine mache, hänge ich schließlich voll hintendran. Ich glaube, es gibt super viele Leute, die mir schon vor einem Monat oder so geschrieben haben und denen ich zwar schon eine Antwort geschickt habe, aber deren Nachricht ich noch nicht gekreidet habe. Ich glaube auch, dass der Sitz vieler großer Medienanstalten der Grund dafür ist, dass es hier in Bonn so hohe Wellen schlägt.  Das war dann schon eine sehr gute Unterstützung, dafür, dass es jetzt in zwei Monaten schon fast 2000 Leute sind, die das gut finden.  

FW: Musst du aussortieren? Du kannst ja eigentlich gar nicht alle kreiden, irgendwann ist die Stadt ja auch voll!

CCoB: Bis jetzt hatte ich keine Fälle, wo ich sagen musste, dass ich das gar nicht kreiden will, aus rassistischen Gründen oder was auch immer. Deswegen nein, ich sortiere nicht aus, ich kreide alles, aber es dauert halt leider lange. Ich hoffe die Leute haben da Verständnis, ich schreibe es auch immer mit rein, dass es ein bisschen länger dauern kann bis es weitergeht. Auch wetterbedingt ist es jetzt im Herbst/Winter ein bisschen schwerer als im Sommer zu kreiden.

FW: Also ich habe über eine Freundin einer Freundin, also über mehrere Ecken von dir erfahren und es dann auch öfters gesehen. Wenn man von etwas weiß, sieht man es ja plötzlich überall. Hast du auch negatives Feedback unter den Nachrichten, die du bekommst?

CCoB: Unter den Nachrichten bei Instagram nicht, bisher noch kein einziges. Bin ich bis jetzt auch ganz froh drüber. Ich meine, dass ich das auf Facebook unter den Beiträgen schon habe und auch unter den Posts, die ich poste. Aber kaum auf meine Person bezogen und wenn, dann „nur“ Relativierungen der CatCalls. Also „Hä, der hat der doch nur hinterhergepfiffen, das ist doch gar nicht so ein Problem.“ Aber kaum Hate-Nachrichten.

Also was mir auf der Straße aufgefallen ist: Junge Frauen sind ganz vorne mit dabei und sagen „Voll cool!“ und „Finden wir total nett!“ und „Vielen Dank!“ und so weiter. Männer stehen immer nur so, lesen, nicken und gehen. Und ältere Frauen kommen tatsächlich und sagen: „Was für eine beschissene Schmiererei, das interessiert doch sowieso keinen! Das hilft euch doch auch nicht! Früher war alles noch schlimmer, blablabla.“ Man kann das total kategorisieren. Junge Männer kommen tatsächlich auch und fragen: „Voll cool, darf ich ein Foto machen?“ und markieren mich dann. Finde ich auch gut, aber alte Männer sagen halt nichts. Was sollen die auch sagen. Die denken sich dann „Hä, ist doch voll nett, verstehe ich jetzt nicht!“ (lacht)

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Fotograf: Ronny Bittner

FW: Das war auch noch ein Punkt, der mich interessiert hat. Es ist ja immer ein sehr feiner Grad mit der Verleumdung von Männern, weil es ja sehr schnell gehen kann, dass jemand einfach nur Nachrichten schreibt, um einer Person zu schaden oder Frust rauszulassen, ohne dass das stimmt. Bist du mit der Problematik schon in Kontakt gekommen?

CCoB: Da ich ja auch im Profil stehen habe, dass alles anonym ist, habe ich das Problem bisher kein einziges Mal gehabt. Es gab einen Fall, wo mir eine Person den Klarnamen von jemandem geschickt hat und den werde ich natürlich nicht online stellen. Aber ich habe auf Facebook auf jeden Fall schon Menschen, Männer, gehabt, die gesagt haben, dass ich alle Männer als Vergewaltiger darstelle und die gesamte männliche Menschheit anprangere. Was natürlich überhaupt nicht stimmt, weil ich explizit schreibe, dass jedes Geschlecht, jede sexuelle Identität mir Nachrichten schicken kann. Es gibt halt bisher keine Männer, die mir schreiben. Entweder sie trauen sich vielleicht nicht oder sie möchten es nicht, weil es ihnen irgendwie egal ist. Meiner Meinung haben sie auch viel weniger Konsequenzen, wenn jemand sie catcalled als Frauen. Aber ich bin absolut bereit dazu, zu schreiben, dass ein Typ gecatcalled wurde.

Diese Vorwürfe von wegen „alle Männer sind Vergewaltiger“ oder generell dieses Frontendenken, das stimmt ja auch gar nicht. Also erstens würde keiner von uns, von den CatCalls-Leuten sagen, dass alle Männer Vergewaltiger sind. Das ist schonmal eine ganz andere Kategorie, als einen Pfiff hinterhergepfiffen zu bekommen.

Aber ich glaube, dass generell einfach einige Männer viel weniger Bewusstsein dafür haben, was sie theoretisch mit solchen Kommentaren anrichten können.

Aber ich glaube, dass generell einfach einige Männer viel weniger Bewusstsein dafür haben, was sie theoretisch mit solchen Kommentaren anrichten können. Natürlich gibt es ganz viele Männer, die das Bewusstsein haben und das deswegen auch gar nicht machen, das ist gar keine Frage, aber ich glaube, dass eben von Grund auf den Männern vermittelt wird, dass sie ja keine Angst zu haben brauchen, wenn sie „Du siehst voll geil aus!“ rufen.  

FW: Du hast ja auch CatCalls, die nicht einmal wörtliche CatCalls sind, sondern einfach nur ein Blick. Letztens war eins dabei, wie „Er schaute mich ganz langsam von oben bis unten an“.

CCoB: Man fühlt sich unwohl. Auch heute morgen, als ich zur Arbeit ging, ist mir ein Typ entgegengekommen, der mich die ganze Zeit von weitem angegrinst und mich gemustert hat und ich dachte mir nur dass ich solchen Leuten nicht sagen werde „Hey, guck mich jetzt nicht an oder so“, aber im Innern denke ich mir „Warum musst du das gerade machen? Was ist deine Intention dahinter?!“

FW: Es ist ja auch so, dass CatCalling nicht rechtlich verfolgt werden kann, richtig?

CCoB: Nein, im Moment noch nicht.

FW: Gibt es da Bewegungen, wohin das gehen kann und wie es dann verbessert werden würde? Weil ich es mir super schwer vorstelle, das irgendwie festzuhalten.

CCoB: Ja, das ist halt leider das Problem. Es gibt ja die Petition von Antonia und die hat jetzt mittlerweile schon 50.000 Unterschriften, die sie braucht, um das in den Bundestag zu bringen. [Anm. d. Red.: Antonia Quell, eine Studentin aus Fulda, hat eine Petition ins Leben gerufen, mit der CatCalling vor dem Bundestag als Straftat erklärt werden soll (Quelle) ] Es wäre auf jeden Fall schön, wenn es in Deutschland eben auch übernommen würde, dass man sich direkt an die Polizei wenden und sagen kann, der oder die Täter*in sah so aus, hat das gesagt, den Zeugen gibt es und dann gibt es einen Brief nach Hause. Generell muss ja ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden. Aber dass man für die Zeit, bis dieses Umdenken stattgefunden hat, als betroffene Person sich schon indirekt wehren kann. Wenigstens irgendwie sagen kann „Hey, das ist mir passiert und ich möchte nicht, dass mir das nochmal passiert.“  Der oder die Täter*in gehört auf jeden Fall von der Polizei oder Staatsanwaltschaft darauf aufmerksam gemacht…

FW: …dass es irgendwelche Konsequenzen gibt.

CCoB: Also man kann hinterherrufen, man kann die Menschen auslachen, die einem das antun, man kann alles mögliche machen, aber das hat keine längerfristigen Konsequenzen und ich finde, das sollte sich ändern. Ich denke nicht, dass eine Person zur Polizei rennt und sagt, dass jemand ihr gerade hinterhergepfiffen hat. Das glaube ich nicht, aber ich habe z.B. einmal etwas angekreidet, wo ein Mädchen an Karneval von einem Mann gesagt bekommen hat: „So ein junges Mädchen wie du muss mal wieder richtig geleckt werden!“

Quelle: CatCalls of Bonn

Tut mir leid, aber solche Menschen müssen eine Strafe bekommen für solche Aussagen. Das kann doch nicht sein!

FW: Du hast jetzt gerade von einem jungen Mädchen gesprochen. Kriegst du Altersgruppen mit bei den Leuten, die dir schreiben?

CCoB: Ja, also die meisten würde ich sagen, sind im Spektrum zwischen 20 und 35. Ich habe ein paar ältere Frauen dabei und ich habe auch ein paar junge Mädchen dabei, wo ich mich echt erschrocken habe. Oder Mädchen, die jetzt volljährig sind, aber als es ihnen passiert ist, minderjährig waren. Da wird es einem einfach eklig.

FW: Was ist denn dein persönliches Ziel? Was wäre dein Wunsch, wie es weitergeht? Natürlich, dass es gar nicht mehr passiert, aber in der näheren Zukunft ist es ja leider….

CCoB: … nicht möglich, nein. Mein Wunsch wäre es natürlich, dass wir es irgendwie hinbekommen, dass ein gesellschaftliches Umdenken stattfindet. Das gesellschaftliche Umdenken muss tatsächlich nicht nur bei Männern stattfinden, sondern ganz arg auch bei Frauen. Erstmal natürlich, dass Frauen anfangen, sich zu wehren und das nicht einfach nur über sich ergehen lassen. Dann, das nicht-betroffene Personen das Ganze nicht relativieren und sagen „Ach, früher war es eh alles schlimmer!“ und dann eben natürlich zum allergrößten Ziel, dass allgemein Menschen andere Menschen auf der Straße in Ruhe lassen. Es ist ja eigentlich nicht so schwer, keine Menschen einfach so anzulabern, sexuell anzusprechen, nachts, im Dunkeln. Damit wollen viele ja Macht demonstrieren und das macht mich so wütend, weil ich denke, dass sie wissen, was sie da anrichten. Ich hoffe, dass sich da einfach eine Sensibilität, ein Bewusstsein für entwickelt. Es macht einfach nur wütend.

FW: Du musst dich ja auch mit den Nachrichten auseinander setzen, du hast persönlichen Kontakt zu mit den Leuten, musst dich damit auseinander setzen, wie du es veröffentlichst und musst dann auf der Straße und später im Internet auch noch mit den Reaktionen klarkommen. Du hast ja alle Ebenen dabei.

CCoB: Im Internet ist mir das tatsächlich ganz… ich will nicht sagen egal, aber die Reaktionen greifen mich null an. Das sind Menschen, die es nicht verstanden haben, die es auch offensichtlich nicht verstehen wollen in den allermeisten Fällen. Aber auf der Straße ist es schwieriger, wenn ich negatives Feedback bekomme, dass ich mich dann zurückhalte und statt mir das zu Herzen zu nehmen, lieber versuche Aufklärungsarbeit direkt vor Ort zu leisten.

FW: Vielen Dank für das Interview!

Die CatCalls-Initiative in Bonn, sowie in ganz Deutschland entwickelt sich stetig weiter, es sind größere Schritte in der Zukunft geplant, wie etwa eine Kooperation mit der Deutschen Bahn, da das Kreiden auf dem Gelände der Deutschen Bahn bis jetzt noch nicht erlaubt ist. Es wird außerdem daran gearbeitet, zu einer internationalen Non-Profit-Organisation (NPO) erklärt zu werden, um die jungen Frauen und Männer in ihrem Engagement besser unterstützen zu können. Auch Franzi sucht nach einer Erweiterung ihres Ein-Frau-Teams, da sie all den Anfragen gar nicht mehr gerecht werden kann. Ihr findet ihren Instagram-Account, sowie weitere Links in unserer Marginalienspalte rechts.

Über die Autorin

Melina Duncklenberg wurde durch eine Freundin auf den Account aufmerksam gemacht und empfiehlt wärmstens, sowohl den Bonner als auch weitere deutsche, wie internationale Accounts zu besuchen. Es öffnet einem die Augen.

(Quelle: Pexels)

Gesellschaft

Alle mal canceln hier?

Von Cancel Culture und Aufmerksamkeitsökonomie, Problembären und Pappkamerad*innen

Ein Essay von Ronny Bittner

9.10.2020

Es hätte alles so schön werden können im Internet. Blühende Forenlandschaften und Zugang zu freiem Wissen für alle, Menschen finden auf Basis von gemeinsamen Interessen zueinander. Doch aus Foren wurden Soziale Netzwerke, Netzwerke wurden zu Datensammlern und -händlern, Interessen wurden zu Echokammern, Nutzer*innen zu Produkten. Das freie Wissen wurde neben gesicherten Erkenntnissen um allerhand Halb- und Unwissen erweitert.

Influencer*innen kapern als moderne Reinkarnation des Marke-Mensch/Mensch-Marke-Narratives nicht nur den Held*innen-Topos, sondern dringen damit auch in ungeahnte Klickdimensionen vor, während Wissenschaftler*innen, wie Nichtwissenschaftler*innen in Podcasts und YouTube-Videos den träge gewordenen Verlagshäusern vorführen, wie Wissenschaftsjournalismus mit und ohne Fachtermini verständlich – und vor allem erfolgreich – umgesetzt werden kann. Dass es erst eine Pandemie brauchte, um die Relevanz von Online-Kommunikation und -Arbeitsplattformen als gesamtgesellschaftliches Thema aufzuzeigen, ist ein Armutszeugnis, birgt aber die Chance auch die letzten Bewohner*innen von #Neuland an Digitalisierung heranzuführen.

Von den Köpfen ins Netz in die Köpfe in die Welt

Bei naiver Betrachtung könnte man meinen, dass das, was im Internet steht, auch im Internet bleibt. Spätestens seit bekannt ist, wie sich Menschen im Internet radikalisieren und Gewalttaten verüben oder welchen Einfluss das Schalten politischer Werbung in sozialen Medien auf Wahlergebnisse haben kann, ist nicht mehr zu leugnen, wie der pixelige Kopfsalat der Menschen auch in die Realität herübergeholt worden ist. Wann immer ein Ereignis besonderer Tragweite geschieht, schreiben Redakteur*innen selbst renommierter Tageszeitungen Artikel mit Überschriften wie „So reagiert das Netz auf… “ oder „Instagram-User*innen reagieren kreativ auf…“ und stilisieren somit diese Reaktionen zu berichtenswerten Informationen.

Es ist ein Novum, dass mit dem amtierenden Präsidenten der USA eine Person an der Spitze eines Landes mit Twitter ein soziales Netzwerk nicht nur zur ungefilterten Darstellung seiner Person, sondern auch als offizielles Verlautbarungsorgan für präsidiale Mitteilungen nutzt. Aus dem Politik-Journalismus kann es sich niemand erlauben, diesen Account nicht zu verfolgen, weshalb auch gerichtlich beschlossen wurde, dass kein*e Nutzer*in von Twitter von diesem Account durch Blockieren ausgeschlossen werden darf.

Vor allem empörte, wütende und aufgebrachte Nachrichten werden häufiger geteilt und kommentiert als andere, wodurch diese vom Algorithmus mehr Nutzer*innen angezeigt werden und als Verstärker funktionieren, der eine um ein Vielfaches seiner tatsächlichen Größe entsprechenden Gruppe gleichgesinnter Personen suggeriert. Diese Dynamik wurde häufig analysiert und heute warnen selbst die Menschen davor, die es einst maßgeblich mitgestalteten.

Nicht nur wird dieser Mechanismus aktiv genutzt, sondern ist vom System selbst beabsichtigt, um Nutzer*innen länger auf der Plattform zu halten. Schnell finden sich Nutzer*innen in einer Schleife aus Selbstbestätigung wieder, einer sich selbst verstärkenden Echokammer mit Feedbackschleife. Natürlich weiß YouTube am Ende jedes Videos sofort, welche Videos noch interessant sein könnten und aus Untersuchungen zu Verschwörungstheorien ist bekannt, dass es fast unmöglich ist, nur eine von ihnen zu glauben – aktuell beim Thema Corona wieder zu beobachten.

Wer schreit, gewinnt

Shit- und Candystorms sind ein Phänomen, das seit Entstehung der großen sozialen Netzwerke überall in ihnen zu beobachten ist. Dabei kommt es zu massenhafter Äußerung von Lob und Bestätigung (Candystorm) oder Ablehnung und Beleidigungen (Shitstorm). Die Vergleichbarkeit endet dort, wo bei Shitstorms der Straftatbestand von Beleidigung, Androhung von Gewalt oder Anstiftung zu Straftaten erreicht wird. Hierfür gibt es noch keine an unsere Zeit angepasste Rechtslage, wie der Fall um Beleidigungen an Renate Künast exemplarisch zeigt, jedoch scheint ein politisches Problembewusstsein inkl. Handlungsbedarf gewachsen zu sein.

Um im Wettbewerb um Aufmerksamkeit immer schrillere Alarmsirenen aufzufahren, gibt es zum einen die Strategie, einen gewollten Dauerzustand von Unsicherheit und Angst herbeizufantasieren, der zu einer regelrechten Angstlust und damit völlig frei drehenden Kommentaren, Büchern und Fernsehauftritten führt, in denen z.B. „unsere Heimat“ bewahrt, beschützt, verteidigt werden müsse. Wie dies funktioniert, das hat correctiv.org mit einer umfangreichen Recherche nachgezeichnet, die Aktivitäten der rechten Szene auf Instagram analysiert. Eine Aussteigerin wird dabei zitiert mit den Worten: „Das hab ich auch bei ganz, ganz vielen anderen mitbekommen, dass die wirklich permanent unter Angst stehen, und diese Angst wird durchgehend geschürt.“

Die gebetsmühlenartige Message lautet: Wir werden angegriffen, unsere Heimat ist in Gefahr! Seid bereit!

Die AfD und andere Gruppierungen werden neidisch in die USA schauen, wo in rechten US-Medien „Krieg“ als Narrativ so etabliert werden konnte , dass der Präsident der USA die Nationalgarde im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus einsetzen lässt und im März 2020 in einer Rede sagte: „This is a war — a different kind of war than we’ve ever had.“ – gegen wen? Sein Stab wusste die Antwort: in einer E-Mail an Unterstützer hieß es, das Land werde „auch von den Chinesen attackiert“. Die Nachricht kam an.

Cancel Culture – Wie praktisch

Eine andere Strategie, möglichst viel Empörung und Sympathie zu erheischen, ist das Einnehmen der Opferrolle. Das Praktische daran: niemand kann wirklich überprüfen, ob, wie und warum man tatsächlich beleidigt/angegriffen/diskriminiert wurde. Überall, wo die Cancel Culture am Werk war/ist, sieht man sich als Zielscheibe für eine große, unüberschaubare Masse. Ein tobender Mob im Internet? Eine Gefahr für unsere Demokratie?

„Cancel Culture“ kommt aus dem Amerikanischen und beschreibt eine kollektive Handlung mit der Absicht eine Person mitsamt ihrer Werke abzulehnen, zu blockieren oder gar zu boykottieren. Die genaue Definition ist eher vage, so wird auch das Blockieren von Nutzer*innen in sozialen Netzwerken, z.B. die viele Einträge umfassende Blockliste von Jan Böhmermann, als Cancel Culture empfunden. Auch das (mediale) „Vernichten“ einer Person kann Teil der Definition sein. Fälle wie die durch transphobe Äußerungen bei vielen Menschen in Ungnade gefallene Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling oder die vermeintliche Bedrohung der Kabarettistin Lisa Eckhart sind als aktuell diskutierte Themen mit dem Label Cancel Culture versehen. Letztere fand gar nicht statt, wie später bekannt wurde, die Absage eines Veranstalters erzeugte jedoch viel Medienecho. Man kann sich sicher sein: ist der Begriff erst einmal in der Welt, wird er auch benutzt und der nächste Aufreger kommt bestimmt.

Wann wird der Begriff genutzt – und wann nicht?

Als die Kabarettistin Lisa Eckhart in den Schlagzeilen stattfand, wurden schnell die alten Fragen aufgeworfen: Was darf man noch sagen? Was darf Satire? und der Klassiker: Darf man bald gar nichts mehr? Kein Schreckensszenario schien zu groß, in Talkshows durften Menschen lang und ausführlich sagen, dass man ja nichts mehr sagen dürfe. Was mich dabei richtig aufregt: das Verb „dürfen“. Als gäbe es eine Kontrollinstanz, die alles mitbekommt und jeden Verstoß mit Ächtung ahndet, einen Knüppel zwischen die fliehenden Beine wirft. Dieses Herbeidelirieren einer vermeintlich mächtigen Meinungsunterdrückungsgruppe dient nicht nur einer Rechtfertigung für die Opferrolle (inkl. „Notwehr“), sondern auch als Bestätigung des diffusen Gefühls, nicht mehr sagen zu dürfen, was man denkt. Dabei darf man sehr, sehr viele Dinge sagen, die inhaltlich nicht in Ordnung sind, aber noch keine Straftat darstellen – es ist aber eben NICHT gesagt, dass dies im Internet widerspruchsfrei zu geschehen habe.

Die Konsequenz der Cancel Culture für Eckhart? Sehr viel öffentliche Präsenz.

Im Grunde lautet der Vorwurf: Zensur und Unterdrückung. Aber alle Fälle von Cancel Culture haben etwas gemeinsam: in den so betitelten Fällen geht es inhaltlich nie um das Ablehnen linker Positionen. Lisa Eckhart wird auf Basis eines Kabarett-Textes Antisemitismus vorgeworfen, dem Kabarettisten Serdar Somuncu nach einer Podcast-Folge Homophobie, Sexismus und Rassismus. Der erste Verteidigungs-Reflex ist auch immer ähnlich: Satire würde nicht jede*r verstehen können – was auch eine intellektuelle Überlegenheit impliziert.

Als medial ein Skandal inszeniert wurde über ein April-Scherz-Lied des WDR, in dem eine fiktive Oma als „Umweltsau“ (das braucht jetzt keinen Link, oder?) bezeichnet wurde und dessen Vorlage der Diffamierung einer alten Frau in Bezug auf ihre Geistesgesundheit in nichts nachsteht, war von Zensur und Cancel Culture noch keine Rede. Eher meldeten sich viele „besorgte Bürger*innen“, nahmen die offensichtliche Satire beim Wort und ließen keinen Zweifel daran, dass hier die gute alte Deutsche Oma (TM), die nach dem Krieg mit bloßen Händen das Land wiederaufgebaut haben soll, von linksgrünversifften Schmierfinken auf Kosten der mit Zwangsgebühren geschröpften Bürger*innen entehrt worden sein soll. Die Folge: Demonstrationen vor dem WDR-Gebäude in Köln, eine Entschuldigung des Programmdirektors – der damit den ihm unterstellten Mitarbeiter*innen in den Rücken fiel.

Auch war es kein Fall von Cancel Culture, als mit dem Titel „All cops are berufsunfähig“ eine Kolumne von Hengameh Yaghoobifarah veröffentlicht wurde. Dieser Text sollte gelesen werden, um anschließend zu verstehen, wie in Deutschland medial Meinungen gebildet und abgebildet werden. In meinen Augen handelt es sich hier nicht um handwerklich gut gemachte Satire, aber dass deshalb Innenminister Horst Seehofer sich nicht nur persönlich zu Wort meldet und mit einer Anzeige droht (in der Bild-„Zeitung“ und ohne genau auszuführen, was er eigentlich was, wann, wo, wie, warum anzeigen möchte), sowie die Chefredaktion der taz zu sich ins Büro zitieren will, das zeigt, welche Haltungen und Positionen man tatsächlich nicht öffentlich stattfinden lassen möchte, zumindest aus politisch konservativer Sicht. Wieder wurde offensichtliche Satire absichtlich falsch verstanden, wieder haben sich Vorgesetzte distanziert. Die Folge: Yaghoobifarah erhielt nach Erscheinen der Kolumne Mord- und Bombendrohungen sowie Drohmails, die mit „NSU 2.0“ unterzeichnet waren. Trotz Kritik an seiner Position bekräftigt Seehofer: „Schließlich bin ich der Auffassung, dass mit der Kolumne durch die menschenverachtende Wortwahl auch Straftatbestände erfüllt werden.“ – es kommt nicht zu einer Anzeige. Nicht nur, dass hier ein Innenminister unverhältnismäßig mit der Wucht seines Amtes reagierte, durch diesen Eiertanz hat er der Würde seines Amtes einen Problembärendienst erwiesen.

HELP! The Innenminister is berufsunfähig.

Ist Cancel Culture überhaupt neu?

Früher wurden Menschen zur „Persona non grata“ erklärt, von Kaisern mit der Reichsacht versehen, für vogelfrei erklärt (d.h. Angriffe blieben folgenlos) oder vom Papst exkommuniziert. Personen wurden auf Marktplätzen an den Pranger gestellt und vorgeführt oder Tom aus der 3b wurde von Anna aus der 3a nicht zum Geburtstag eingeladen – wo sonst alle hingingen! – weil Anna gehört hat, dass Tom gesagt haben soll, ihre Jacke rieche nach Pups. Cancelgefahr lauert aber auch überall!

Der Vorgang, Menschen aufgrund gesagter, geschriebener oder in die Tat umgesetzter Ansichten und Meinungen nicht mehr teilhaben/stattfinden lassen zu wollen, ist keine Erfindung der Neuzeit. Bereits Sokrates wurde als „Verführer der Jugend“ zum Tode verurteilt, im Deutschland der Nazizeit wurden Personen ermordet und Bücher verbrannt, Werke verboten und als „entartet“ deklariert.  

Dieses Framing wird bewusst erzeugt, wenn mit Cancel Culture ein Shitstorm über Künstler*innen hereinbricht, bei dem sie sich einer vermeintlichen Übermacht schutzlos ausgeliefert sehen. Dabei wird der alte Wein in neue Schläuche gefüllt, der Begriff „Culture“ soll eine große Bewegung und nach Prinzipien ablaufende Bewegung suggerieren. Auf diese Weise wird die enthaltene Kritik nicht nur per se als ungerechtfertigt, sondern überzogen und nicht diskussionswürdig abgewertet. Einen Shitstorm können Influencer*innen übrigens nicht nur für politische Positionen, sondern auch für die Verwendung der falschen Beautyprodukte erhalten.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin der Meinung, dass auch in einem Shitstorm von persönlichen Beleidigungen und unsachlicher Hetze Abstand genommen werden muss. Hass ist keine Meinung und alle Verstöße sollten konsequent zur Anzeige gebracht werden. Shitstorms sind ein Instrument kollektiver Mobilisierung und dürfen nicht zu Vorverurteilungen und Selbstjustiz führen. Voyeurismus und Genugtuung angesichts des Leids anderer Menschen sind leider ein Teil des dort vorzufindenden Spektrums an Haltungen.

Cancel Culture kommt einer politischen Richtung gerade Recht

Die Strategie, mit konzertierten Gruppenauftritten Social-Media-Diskussionen nicht nur vollständig zu sabotieren, sondern auch Einzelpersonen anzugreifen und Hate Speech zu teilen, sind fester Bestandteil der Online-Arbeit heute aktiver rechter Gruppen – Cancel Culture ist also, ohne den Begriff selbst zu wählen, DAS Werkzeug von Gruppen, die die Demokratie in vielen demokratischen Ländern aushöhlen und abschaffen wollen. Dazu gehört auch das Verschieben von „Grenzen des Sagbaren“ und Sprachspiele mit Opferrolle. Diese Mechanismen muss man erkennen können, weshalb ich „Mit Rechten reden“ für ein gutes Buch halte, bei dem es sich entgegen der falschen Behauptungen nicht um einen Appell handelt, aktiv das Gespräch mit Mitgliedern von rechten Szenen zu suchen. Vielmehr darf es in der Gesellschaft keine Toleranz für Intoleranz geben – eine Forderung, die oftmals gegen Cancel Culture ins Feld geführt wird.

Ein*e Pappkammerad*in kommt selten allein

Ebenso wie der Begriff der „Political Correctness“ (es wird sogar gelegentlich in „politische Korrektheit“ übersetzt), ist Cancel Culture ein Konstrukt; ein Versuch der Beschreibung eines diffusen Phänomens; der Entwurf eines Gegenüber, dem man sich widersetzen kann. Die Konstruktion eines solchen Feindbilds nennt man auch Pappkamerad*in, da sie nicht real, flexibel einsetzbar und praktisch mit allen Inhalten befüllbar ist, gegen die man sich selbst einsetzt. Im Grunde ist Cancel Culture also eine rechte Verschwörungstheorie der simpleren Sorte.

Beide Begriffe sind geprägt vom Einsatz gegen linke Positionen und sie unreflektiert zu übernehmen, bedeutet, alle die von rechts gesetzten Framings mitzuübernehmen. Man möchte (oftmals) berechtigte Kritik gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und andere Diskriminierungen als eine Bedrohung imaginieren, gegen die es sich zu wehren gilt.  

Der Markt regelt kaltherzig

Aus aufmerksamkeitsökonomischer Perspektive könnte man den Begriff der Cancel Culture seiner Inhaltsleere überführen: wird hier Angebot und Nachfrage/Interesse nicht demokratisch in die eigene Hand genommen, um eine Person, eine Firma oder ein Produkt von der Plattform oder zumindest aus dem eigenen Feed zu werfen? Entscheiden Firmen als Werbepartner nicht in der Regel nach streng ökonomischen Aspekten, bevor sie sich von einer Person öffentlich distanzieren, da sie Schaden von sich abwenden wollen? Ohne eine solche Handlung ist ein Shitstorm nur ein Shitstorm, der Sturm im Social-Media-Wasserglas, das große „canceln“ erfolgt nicht durch sich über Diskriminierung beschwerende Menschen – diese können lediglich versuchen, Druck aufzubauen.

Für die gesamtgesellschaftliche Perspektive schließe ich mich Samira El Ouassil an, die in ihrem Text auf Übermedien.de u.a. die Prognose wagt, dass „Boykottaufrufe, Shitstorme und Debatten auf Twitter die Medienagenda zwar mitbestimmen, aber nicht repräsentativ für die deutsche Gesellschaft sind.“ Laut El Ouassil könne man darauf vertrauen, dass aufgrund ihrer Relevanz die Kunstfreiheit immer erfolgreich verteidigt werden würde – allen bayrischen Problembären zum Trotz.

Die Meinungsfreiheit selbst ist jedenfalls nicht durch Kritik an Diskriminierung in Gefahr, so sehr manche Menschen auch darauf beharren oder herbeifantasieren.

Über den Autor

Ronny Bittner cancelt und lässt canceln, bevorzugt dafür jedoch andere Begriffe: Ablehnen und Distanzieren.

Auch mal den Blick auf die andere Seite wagen - Es lohnt sich! (Quelle: Pixabay)

Gesellschaft

Von jungen "Ossis" und "Wessis"

Warum es auch für uns Zeit wird, über den Osten zu reden und was nach 30 Jahren Wiedervereinigung noch zu leisten ist

Ein Essay von Tom Schmidtgen

2.10.2020

Ja, ich bin Ossi. Und dazu stehe ich auch. Ich bin 1996 in Dresden geboren und damit – leicht auszurechnen – nicht mehr in der DDR geboren, sondern sechs Jahre später. Wenn in der öffentlichen Debatte von „Ostdeutschen“ die Rede ist, sind Menschen meiner Generation nicht mitgemeint, Ostdeutsche sind nur diejenigen, die in der DDR sozialisiert wurden. Und trotzdem bezeichnen sich viele meines Alters mehr oder weniger stolz als Ossis.

Wir, die im Nach-89-Deutschland aufgewachsen sind, haben ein sehr spezielles und oft sensibles Verhältnis zu unserem Land, zur ostdeutschen Geschichte und zum heutigen Ost-West-Verhältnis. Ich spreche sicher nicht für alle, aber doch für einen Großteil politisierter, junger Menschen zwischen Görlitz, Eisenach und Schwerin. Und wer in den vergangenen Jahren die Literatur-Bestseller genau studiert hat, wird verstehen, was ich meine: „Nachwendekinder. Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ von Johannes Nichelmann, mittlerweile auch in den Shops der Zentralen für politische Bildung, oder „Ostbewusstsein. Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die deutsche Einheit bedeutet“ von Valerie Schönian. Immer mehr Ossis in ihren Zwanzigern fangen an, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen. 30 Jahre nach der Einheit wird es Zeit, eine Debatte anzustoßen, die bisher noch nicht ausreichend geführt wurde. Wie fühlen sich eigentlich wir jungen, in Ostdeutschland geborenen Menschen mit der Wiedervereinigung und was bedeutet das für unsere Altersgenossen aus dem Westen? Und wie können wir voneinander lernen?

Ich versuche einmal, dieses spezielle Ostbewusstsein zu erklären. Wir haben die DDR selbst nicht miterlebt, aber unsere Eltern haben sie uns oft detailliert geschildert. Bei jedem Familienfest war die DDR Thema, oft ging es um das Lebensgefühl damals und um die Sachen, die man hatte im „Wir hatten doch nichts“-Land. Was damals besser war, so die Erzählungen meiner Verwandten: Wohnungen waren günstig und jeder hat eine bekommen, Nebenkosten gab es keine, jede*r hatte Arbeit, Frauen waren gleichgestellt (zumindest besser als zeitgleich in der alten Bundesrepublik). Das sind Werte, die wir heute an einigen Stellen vermissen. Das alles hatte einen Preis, über den fast nie geredet wird: Es fehlte an Freiheit. Und meine Familie eckte offenbar nicht mit dem System an, sondern arrangierte sich, wie ein Großteil bis kurz vor der Friedlichen Revolution am 09.11.1989. Soweit ich weiß, haben die wenigsten meiner Familie ihre Stasi-Akten eingesehen. Die Angst, dort etwas zu finden, zum Beispiel Spitzel aus dem (damaligen) Freundeskreis zu enttarnen, ist zu groß. Und deswegen waren die Verbrechen der DDR nie Thema, außer, ich habe nachgefragt – was nicht selten passierte.

Aber so kommt es, dass wir so einige Dinge anders sehen. Ein paar banale Beispiele: Zu Spülmittel sagen wir wie selbstverständlich Fit, weil die DDR-Firma, die Spülmittel herstellte, Fit heißt (übrigens eine der wenigen Firmen, die es noch heute gibt!), Senf kann es nur einen geben und zwar Bautzner. Von Dijon-Senf habe ich das erste Mal während meines Erasmus-Semesters in Frankreich gehört. Aber es sind auch politische und gesellschaftliche Fragen, bei denen wir andere Vorstellungen mitbringen, zum Beispiel Polikliniken. Das war eine Art ambulantes Krankenhaus. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es das häufig noch heute. Und der Zusammenschluss von verschiedenen Arztpraxen hatte für uns immer Vorteile. Wenn jetzt plötzlich westdeutsche Politiker*innen ankommen, die Ähnliches fordern, sind es oft dieselben, die in den Umbruchsjahren alles „ostdeutsche“ schlecht geredet haben. Oder KiTas, Ganztagsschulen und Horte. Für mich völlig selbstverständlich, dass wir als Kinder bis in den Nachmittag betreut wurden, damit vor allem unsere Mütter arbeiten gehen konnten. Scheint im Westen nicht so verbreitet zu sein. Hier wird häufig noch darüber debattiert, ob das Kindeswohl dabei wohlmöglich gefährdet wird. Antwort: Nein.

Ich habe den Bachelor in Dresden gemacht und hatte viele westdeutsche Kommiliton*innen. Mal abgesehen von denen, die nur wegen der günstigen Mieten und des eventuell niedrigeren NCs in Sachsen studiert haben, waren alle sehr aufgeschlossen und ernsthaft interessiert. Es gab selten Ost-West-Vergleiche oder „Wer ist besser?“-Spielchen, die Fragen über das Leben im Osten oder über die Vergangenheit waren ehrlich und neugierig. Wir sind auch gemeinsam gegen Pegida demonstrieren gegangen. Einige von den „Wessis“ haben nach einem Jahr sogar leicht gesächselt. Und deswegen dachte ich bis vor einigen Jahren, als ich nach Köln gezogen bin, dass „Ost und West“ offenbar gar kein Thema mehr und die Wiedervereinigung abgeschlossen ist. Ich wurde aber aus meiner Wohlfühl-Bubble in Dresden herausgerissen und mit der Wahrheit konfrontiert, dass das für junge Westdeutsche anders aussieht. Vermutlich, weil sie – logischerweise – Erzählungen über den Osten von ihren Eltern weitertragen.

Die Poliklinik in Chemnitz 1983

Und so ist es, dass ich in meiner Journalistenschulklasse, erst unfreiwillig, jetzt ziemlich stolz, der „Ostbeauftragte“ bin, weil ich der Einzige bin, der im Osten aufgewachsen ist. Ich darf jetzt erklären, „wie das so ist“, vor allem denjenigen, die noch nie die „neuen Bundesländer“ bereist haben. In der Schule scheint die DDR offenbar kaum ein Thema gespielt zu haben. Wir hingegen mussten selbstverständlich die komplette Geschichte der alten Bundesrepublik lernen. Hätten westdeutsche Kultusminister*innen nur halb so viel Energie aufgebracht, die jeweils „andere Seite“ besser zu verstehen und die Geschichte „der anderen Seite“ zu behandeln, wie ostdeutsche Kultusminister*innen, wären wir heute ein gutes Stück weiter.
Und weil das nicht geschehen ist, darf ich den jungen Westdeutschen erzählen, dass Sachsen gar nicht dunkler ist als NRW. Und man kann auch „dreiviertel“ bei der Uhrzeit sagen, statt „viertel vor“. Und viele von uns hatten Jugendweihe statt Kommunion. Und Kalter Hund ist ein leckeres Dessert. Und das Jägerschnitzel wird bei uns mit Spirelli gegessen und nicht mit Pilzsauce. Und eine Frage nervt mich nur noch: Wenn ich erklären muss, warum ich nicht sächsle. Eine Frage an dich, liebe*r Leser*in: Sprichst du Dialekt? Wenn nicht, liegt es doch sicher daran, dass in der Schule Hochdeutsch gesprochen wird. In Sachsen auch. Ich empfinde das oft als beleidigend, weil man keinen Schwaben, keinen Kölner, keinen Hessen fragen würde: „Warum sprichst du keinen Dialekt?“

Aber der Sachse, der muss sächseln. Sonst erfüllt er nicht das Klischee.

Deswegen soll ich dann oft sächsische Wörter sagen, was gar nicht so einfach ist ohne Gesprächspartner und was mir auch keinen Spaß macht. So wurde ich wieder der, der ich wahrscheinlich immer war: der Ossi. Diesmal von außen an mich heran getragen. Und mittlerweile reagiere ich sehr empfindlich, wenn alte Vorurteile über den Osten als Witze verkauft werden. Nach dem hundertsten Mal schwingt auch etwas Wut bei mir mit. Die Enttäuschungen unserer Eltern, die als „Jammer-Ossis“, faul oder ahnungslos verhöhnt wurden, sind ein stückweit in uns verankert und leicht zu triggern. Wir sind noch immer strukturell benachteiligt, zum Beispiel weil unsere Eltern weniger verdienen und wir deshalb weniger erben werden (Quelle). Nur 1,7 Prozent aller Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Kultur und dem Militär sind mit Ostdeutschen besetzt, sie machen aber 15 Prozent der Bevölkerung aus (Quelle 1 und 2). Wir haben keine Lust mehr, einzustecken und zu schweigen. Wir schließen uns zusammen, wie zum Beispiel in der Initiative „Wir sind der Osten“ oder dem Karrierenetzwerk „Legatum“. All das findet erst seit ein paar Jahren statt.

Wir Jungen, in der wiedervereinigten Bundesrepublik Aufgewachsenen, sollten einen Dialog starten. Und zwar bitte auf Augenhöhe. Wir haben beide unterschiedliche Erfahrungen in diesem, mit 30 Jahren noch jungen, Deutschland, gemacht, vor allem geprägt durch die Erzählungen unserer Eltern. Wir brauchen einen Austausch zwischen Ost und West. Warum fahren westdeutsche Klassen nicht auch Mal ins Fichtelgebirge, nach Weimar oder an die Ostsee? Wir haben unsere Abschlussfahrt auch in Aschau am Chiemsee gemacht. Die DDR sollte präsenter im Unterricht werden. Das hätte Vorteile für junge „Ossis“ und „Wessis“. Der Austausch über die eigene, subjektive Geschichte hilft im gegenseitigen Verständnis, schärft den Blick auf die Welt und lässt uns über den eigenen Tellerrand hinausblicken. Und irgendwann, vielleicht wenn wir den 50. Jahrestag der Wiedervereinigung feiern, und wenn unsere Kinder die Geschichte der alten DDR und der alten Bundesrepublik nur noch aus den Erzählungen ihrer Großeltern kennen, wird Ost und West egal sein. Bis dahin fließt noch viel Wasser Rhein und Elbe hinab, und ich werde noch ein paar Mal sächseln dürfen.  

Über den Autor

Tom Schmidtgen sucht schon länger einen Ort, um diese Gedanken zu sammeln. Jetzt will er, dass endlich auch junge Menschen über Ost und West reden. Willst du mitreden? Dann Mail an fw@asta-bonn.de!

Cover des Enigma-Albums MCMXC a.D.

Kultur

Mythische Klänge

Neuere Weltmusik. Die Kulturkritik einer Hassliebe

Ein Essay von Samuel F. Johanns

26.09.2020

Es ist eine oft thematisierte Eigenschaft der Ideologie, dass sie uns erst in der Distanz gut fassbar wird. Die ideologischen Fantasien der Anderen sind uns grundsätzlich zugänglicher als die wir selber bedienen. Ein zentraler Punkt im politischen Denken der Postmoderne liegt in einer Emanzipation vom marxistischen Ideologiebegriff nach welchem diese nur das falsche Denken und die Verblendungsstruktur des Anderen beschreibt. Ideologie im neueren Sinne, wie sie Poststrukturalist*innen häufig beschreiben, hat die Eigenschaft, dass sie sich als unausweichliche Grundlage für die Kultur selbst präsentiert.
Vor gut 30 Jahren war in der Populärkultur eine Musik wirkmächtig, die wir neuere Weltmusik, NewAge oder Ethno nennen können. Es handelt sich um jene Filmmusik, welche, nicht selten völlig stereotypische, Ästhetiken fremder Kulturen mit denen der eigenen westlichen Kultur, auch gerne unter der Hinzunahme von elektronischer Klangerzeugung, zusammenbringen wollte. Mit der zeitlichen Distanz und im Lichte der gegenwärtigen politischen Lage zur (Debatte um) kulturelle Identitätspolitik lohnt ein Blick auf dieses Phänomen unter Hinzunahme einer noch älteren Technik der Kulturkritik. Neben den Denkern der Frankfurter Schule, die wie kaum eine andere mit Bezugnahme auf die Psychoanalyse Kulturkritik betrieb, steht Roland Barthes als (post-)strukturalistischer Theoretiker ebenfalls für einen Blick auf die verborgenen, oftmals unbewussten Mechanismen und Narrative in der Kultur. Er unterzog die politische und popkulturelle Lebenswirklichkeit bereits 1957 in seinem Werk Mythen des Alltags einer scharfen und detektivischen Kritik, welche bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat und auch in unserem Fall hier eine Matrix für den Blick auf das popmusikalische Phänomen bieten soll.

Adamismus mit Adiemus. Das edle Wilde in der Kultur.


Erstes Beispiel sollen uns die besonders „kulturverschmelzenden“ Stücke des Genres sein. Kaum ein anderes ist hier so gut zu beschreiben, wie der Song Adiemus aus dem gleichnamigen Musikprojekt (NewAge bildet keine Bands, sondern Musikprojekte) des walisischen Komponisten Karl Jenkins, den dieser für einen Werbespot der Fluggesellschaft Delta Air Lines erschuf. Der Song spielt mit einem Chorgesang in einer erfundenen Sprache, die sowohl Assoziationen zur Lateinischen, als auch einer prototypisch konstruierten allgemein-afrikanischen Sprache evoziert, ohne dabei semantisch sinnhaft zu sein. Eine Erklärung für die latente bourgeoise Dreistigkeit des Stücks, welche in dem Song mitschwingt, findet sich treffend in Roland Barthes Kritik der Steichen Ausstellung „Family of Man“, die er als alltäglichen Mythos exemplarisch dechiffrierte. Das von Barthes kritisierte Medium mag visuell sein (Fotografien und Zitatsammlung), eine Übertragbarkeit der Kritik auf Adiemus ist aber mehr als schlüssig. Auch im Song ist die von Barthes kritisierte Methode erkennbar auf der einen Seite brutal zu exotisieren und museal zu präsentieren, um im nächsten Moment jede kulturelle Differenz zu negieren und auf die eine Menschheitsfamilie zu verweisen. Reale Disparitäten und jede post- beziehungsweise neokoloniale Brutalität wird mittels der überwältigenden ästhetischen Kulisse übertüncht.    

Die Videos von Entwicklungshilfeprojekten (generell ein Fall für sich) und Videografien einer unberührten edelwilden Natur und Tierwelt mit NewAge Elektro-Ethno zu unterlegen, präsentiert sich sozusagen als klanggewordenes All-Lives-Matter-Plakat. Gerade das Denken in rassifizierten Differenzen bringt ja eben die Brutalität und ihre (post)kolonialistischen Exzesse hervor, welche dann zur Verelendung ganzer Länder als schon systemisch klassifizierte Gewaltstruktur führt. Bei der Auseinandersetzung mit der Problematik diese Differenzierung dann plötzlich ad hoc ästhetisch überzeugend zu negieren und in Farbenblindheit zu verfallen, als würde die Kultur gar kein Schwarz und Weiß kennen, das kann nur als ein Impuls zwischen politischer Naivität bis moralischer Bestialität bezeichnet werden.
Alles, wirklich alles, verkauft sich übrigens besser mit einem afrikanischem Kinderchor. Probieren Sie es aus.
Einer ähnlichen Dynamik folgt das Stück Conquest of Paradise der Gruppe Vangelis, das für den Film 1492: Conquest of Paradise geschrieben wurde, welcher 1992 als eine reichlich unkritische Darstellung von Christoph Kolumbus daher kam. Keine schönere Hymne für den Auftakt eines genozidalen Eroberungszuges seit Panzer zum Ritt der Walküre Richtung Osten rollten.

Gladiator. Die Tautologie maskuliner Brutalität.

Ein weiteres mythisches Motiv aus der Kritik von Roland Barthes, das der Tautologie, offenbart ein anderer Film von Ridley Scott für den Hans Zimmer einen Soundtrack ganz im Stile des NewAge kreierte. „Now we are free“ für den Film Gladiator ist ein sanftes, wunderschönes Werk in hebräischer Sprache, die sich schließlich mit den bereits angesprochenen, afrikanesken Klangmustern mischt. Ein zärtlicher Song für einen brutalen Film, in dem sich maskuline Gewalt als legitime Antwort auf maskuline Gewalt eben tautologisch verteidigt. Die Lösung für die Gewalt ist die Gewalt. Die Lösung für das Problem Gladiator sein zu müssen, ist es, der beste Gladiator zu werden. Das Sujet der Charaktere folgt, wie für Hollywood üblich, einer Schablone, die sich auch in Geschichten wie dem Punisher, dem Highlander, Rambo oder Braveheart oder Ben Hur findet, dem entehrten, emotional vergewaltigten Helden, der in der blutigen Rache an seinen Feinden seine Würde bewahrt.
Auf einer symbolisch betrachteten Ebene ist Rache, das ius talionis, nichts als eine nervöse Bewältigung von Kontingenz mittels basaler Symmetrieästhetik. Das Mordereignis reißt eine Lücke in die Welt des Symbolischen, sie offenbart die Indifferenz mit dem uns das Universum entgegen stehen könnte. Sie wirft brutal eine Theodizee auf. Wenn es eine Natur des Menschen gibt, so ist sie wohl der tiefe Wunsch dieser Kontingenzerfahrung etwas entgegen zu setzen und die Ordnung des Symbolischen wieder zu einem lückenlosen Netz und Narrativ zusammen zu kitten. Hier fungiert Rache als probates Mittel eine ästhetische Struktur zu etablieren. Symmetrie ist ein radikales Motiv der Ästhetik. Aber diese Kunst malt mit Blut und sie erscheint immer im Kontext einer sich behauptenden brutalen Maskulinität. Jede Kritik an dieser Logik der Vergeltung und Blutrache, jede Möglichkeit eine kulturelle Alternative auch nur zu erwägen, ertrinkt in jener Ästhetik mit der sich der Soundtrack um das Narrativ schmiegt.

Sadeness, Wie ein Vergewaltiger zum Anrufungsobjekt in Swinger-Clubs wurde.


Vom Soundtrack von Fantasyfilmen und den Imagevideos kleinbürgerlicher Entwicklungshilfeprojekte abgesehen gibt es 2020 noch einen Ort für die relativ garantierte Präsens von neuerer Weltmusik: BDSM-Parties und Swinger-Clubs. Und es erscheint mir immer wieder aufs Neue ein wenig enigmatisch, warum jeder Veranstalter der Ansicht ist, dass man beim Schmerzsex unbedingt Enya, Enigma und Vangelis hören soll. Einer der absoluten Headliner für diese Fälle stellt der Song Sadeness von besagter Gruppe Enigma dar (Oh Anneliese popel nicht 😉 ). Das Konzept ähnlich krude wie Adiemus: Gregorianischer Choralgesang mischt sich neben elektronischen Elementen mit laszivem französischen Bettgeflüster und Panfötenklang. Der Kontrast soll offensichtlich einen besonders provokativ erogenen Effekt haben. Richtig grotesk wird es im textlichen Teil, neben dem klassischen Kirchenlatein das Französische: «Sade, dis-moi» sowie «Sade, donne-moi», zu Deutsch: „Sade, befiehl mir! Sade, gib’s mir!“. Der im Song so angerufene Donatien Alphonse François, Comte de Sade, oder besser bekannt als Marquis de Sade, ein Vergewaltiger und Gewaltpornograf des 18. Jahrhundert. Der Berlusconi und Epstein seiner Zeit nutzte die soziale Stellung aus, um unterprivilegierte Männer und Frauen sexuell zu misshandeln. Die real ausgelebten Fantasien säumen ein breites Werk gewaltpornografischer Schriften, an welchen sich bis in die Spätmoderne hin bei Intellektuellen von Simone de Beauvoir bis Jacques Lacan abgearbeitet wurde.
Aber was treibt eine Hymne für einen solchen Menschen im Rahmen eines kulturellen Raumes für den das Konsensprinzip in der Sexualität quasi Gott ist?
Auch wenn eine der Hauptthese von Barthes lautet, dass Mythos aus Kultur Natur macht, funktioniert das mythische Klangmuster hier wohl auch in eine andere Richtung. Das offensichtlich historisch Faktische findet eine ästhetische Uminterpretation in sein Gegenteil, Gewalt in Liebe verkehrt, der Übergriff als exotisches Abenteuer, zumindest bis man hinter die Fassade geschaut und sich mit den historischen Hintergründen vertraut gemacht hat. Dann kann einem das Buffetessen gegebenenfalls auf der Streckbank ein wenig hochkommen.

Was nun? Geiselhaft durch Nostalgie.

Dürfen wir Medien noch schön finden, auch wenn wir die moralisch zweifelhafte ideologische Struktur dahinter dechiffrieren konnten? Die Frage stellt sich weniger, ob wir dies dürfen, da wir es in vielen Fällen wohl einfach nach wie vor tun werden. Ein Wissen um das Eingeschrieben sein in einen ideologischen Kontext bedeutet nicht, dass wir aus diesem einfach aussteigen können. Darin liegt eben das Drama jeder symbolischen Ordnung in die wir, der Matrix gleich, eingeschlossen sind. Jacques Lacan soll rebellischen, atheistischen Studenten einmal sinngemäß gesagt haben: „Ob ihr an Gott glaubt, ist nicht relevant, schließlich glaubt Gott an euch.“ Kognitive Dissonanzen führen nicht zu einem direkten Wandel der diskursiven Formen in der Gesellschaft und auch nicht zwingend zu einer spontanen Veränderung unseres ästhetischen Empfindens oder medialen Vorlieben, wenn diese ja eben durch die Begehrensstrukturen der Anderen erst maßgeblich bestimmt werden. 

Manche Phantasmen müssen schlicht durchwandert werden. Des Weiteren nimmt uns oft einfach die eigene Nostalgie sozusagen in Geiselhaft. Wir können nicht aufhören Disney-Filme zu lieben, auch wenn wir realisiert haben, dass sie voller aggressivem Queercoding sind und auch anderweitig zweifelhaften Moralvorstellungen folgen. Wir können ebenso wenig aufhören uns für Harry Potter zu begeistern, wie unsere Eltern aufhören werden, den edlen Wilden Winnetou zu verehren.
Die Suche nach dem moralisch Makellosen in der medialen Kultur würde uns zu verbitterten Zyniker*innen machen. NewAge-Popsongs werde ich einfach weiterhin primär positiv mit dem Radio auf der Fahrt in den kindlichen Sommerurlaub assoziieren. Es wird somit für mich bei einer Hassliebe zur neueren Weltmusik bleiben.
Oskar Wilde soll einmal gesagt haben (ob die Zuordnung des Zitates stimmt, ist aus strukturalistischer Sicht reichlich egal): „Ein Zyniker, das ist ein Mensch, der die Bedeutung von allem kennt, aber den Wert von nichts.“

Horst Seehofer als Mitverantwortlicher für die Krise? Quelle: Robert Ehrmann (Pixabay)

Politik

Von Pullfaktoren und Menschenrechten

Ein Kommentar zum Feuer in Moria

Ein Kommentar von Milan Nellen

18.09.2020

Das überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist einem Großbrand zum Opfer gefallen. Tausende Menschen sind obdachlos und haben ihren letzten Besitz verloren. In ganz Europa stellt sich die Öffentlichkeit die Frage: Wie konnte das passieren?
Dass die Zustände in dem Lager Moria so wie in vielen anderen Flüchtlingslagern rund um das Mittelmeer geradezu katastrophal waren und in vielen Lagern immer noch sind, das ist nicht erst seit dem Feuer bekannt, sondern ein Problem, das Menschenrechtsaktivist*innen, Geflüchteteninitiativen und Politiker*innen unterschiedlichster Parteien schon betonen, seit es diese Lager gibt.
Dass es bei diesen Zuständen zu so einer Katastrophe gekommen ist, kann daher kaum eine echte Überraschung sein. Die wirkliche Frage lautet also nicht „Wie kam es dazu?“, sondern „Wieso haben die Staaten Europas es zugelassen?“. Die EU und ihre Staaten legitimieren sich auf der Weltbühne mit ihrem Bekenntnis zu den Menschenrechten und zur Demokratie; sie versprechen damit, dass bei ihnen der individuelle Mensch nicht Mittel der Politik ist, sondern der Zweck, der eigentliche Auftraggeber der Staaten. Dieser Anspruch der europäischen Staaten steht seit geraumer Zeit in enormem Konflikt zu ihrem wirklichen Handeln den Menschen gegenüber, die von den Zuständen in ihren Herkunftsländern zur Flucht gezwungen wurden. Die Kriminalisierung der Seenotrettung, das sogenannte Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und auch Lager wie Moria sind die Symptome dieses Handelns, denn in ihnen werden die EU-Staaten den Werten, die sie als die ihren postulieren, nicht gerecht.
Der zentrale Punkt in der Argumentation von den Befürworteter*innen dieser Politik ist dabei der Begriff des sogenannten pull factors. Pull factor ist  ein Begriff aus der Migrationstheorie von Everett S. Lee und umfasst alle Faktoren, die Menschen dazu bringen können, in eine bestimmte Gegend einzuwandern. Der Begriff bezeichnet also einen begründeten Wunsch, in eine Gegend zu emigrieren. Dieser Wunsch ist logischerweise dann besonders hoch, wenn es sich in dieser Gegend gut und in Frieden leben lässt. Diese Faktoren stehen in der Theorie von Lee den sogenannten push factors  gegenüber. Diese umfassen die Gründe wegen denen Menschen ihre Herkunftsländer verlassen, angefangen von Armut über die Klimakatastrophe bis hin zu Bürgerkriegen, Verfolgungen und Genoziden. Die Argumentation der Gegner*innen der Geflüchteten baut nun auf der Weise auf dieser Theorie auf, dass gefordert wird, diese Pullfaktoren zu reduzieren. Natürlich nicht in der Form, dass die Zustände in der Gesellschaft verschlechtert werden. Wer also pull factors reduzieren möchte, fordert damit im Klartext die Lebensbedingungen von Menschen, die in die EU flüchten, so weit zu verschlechtern, dass diese sich gar nicht erst auf den Weg machen. Diese Argumentation bedeutet in der Konsequenz, dass das Ziel der Politik nur sein kann, die Lebensbedingungen der Geflüchteten in der EU und ihren Aufnahmelagern so weit zu reduzieren, dass sie am Ende ähnlich schlecht oder gar schlechter dran sind, als sie es im Herkunftsland zum Beispiel unter den Bedingungen eines Bürgerkrieges wären. Das überfüllte Lager Moria und die auch vor dem Brand unmenschlichen Zustände dort wirken in diesem Kontext betrachtet, ob sie nun von der verantwortlichen Politik gewollt waren oder nicht, wie der Versuch, dem Wunsch, solche „Pullfaktoren“ zu reduzieren, nachzugeben. Auch Seenotrettung oder eine Evakuierung von Menschen aus dem überfüllten Lager wurden zum Beispiel vom Heimat-,Innen- und Verfassungsminister Horst Seehofer immer wieder mit dem Argument abgelehnt, solche pull factors nicht schaffen zu wollen. Was praktisch dabei herauskommt ist, dass die Politik der EU die von ihr postulierten und als Legitimation und Grundlage hochgehaltenen Menschenrechte zwar theoretisch für universell gültig erklärt, sie aber praktisch nur auf eine sehr geringe Gruppe anwendet, nämlich auf EU-Bürger. Wäre die EU konsequent, würde sie sich entweder von den Menschenrechten verabschieden oder sie in ihrer absoluten Gültigkeit anerkennen und umsetzen. Das würde bedeuten, dass sie ihre Grenzen öffnen müsste. Sich von denjenigen abzugrenzen, die die Folgen der eigenen Industrie und Wirtschaftspolitik oder das Versagen der EU in Sachen Klimaschutz in die Flucht treibt, das ist zwar auch klassische europäische Politik, aber eben im Sinne kolonialistischer Arroganz und nicht im Sinne universeller Menschenrechte.

Wenn Moria eines gezeigt hat, dann, dass Menschenrechte in Europa bis auf Weiteres wohl bloße Lippenbekenntnisse sind.

Über den Autor

Milan Nellen empfiehlt:

Wenn ihr euch für die Aufnahme von Geflüchteten stark machen wollt, könnt ihr euch einer der Mahnwachen anschließen, die in Bonn und vielen anderen Städten derzeit regelmäßig stattfinden.

Um Sitze in diesem schönen Gebäude geht es am Sonntag.

Politik

Kommunalwahlen in Bonn

Politikwechsel in Sicht?

Ein Ausblick von Clemens Uhing

11.09.2020

Kommunalwahlen in Bonn

 

Die Bonner Kommunalwahl steht vor der Tür und für Fans von Politikwechseln könnte sie sehr spannend werden. Zuletzt gewann der amtierende Bürgermeister Sridharan 2015 im ersten Wahlgang mit 50,1 % der abgegebenen Stimmen. Nach einer Umfrage des WDR (die bei Kommunalwahlen freilich spärlich vorkommen) käme er kommenden Sonntag vorerst nur auf 39 %, nicht sonderlich knapp gefolgt von der Grünen Katja Dörner mit 26 % (Quelle).

Wer, wie, was?

Gewählt wird in Bonn drei- bzw. vierfach. Erstens ist in einer Direktwahl eine Stimme an die für das Bürgermeister*innenamt bevorzugte kandidierende Person zu vergeben. Derer gibt es acht, von denen aber realistisch betrachtet nur Ashok Sridharan (CDU), Katja Dörner (Grüne) und Lissi von Bülow (SPD) auf das Amt hoffen können. Sollte keine*r der drei im ersten Wahlgang die erforderlichen 50 % der abgegebenen Stimmen erhalten, kommt es am 27. September zu einer Stichwahl, bei der die beiden stimmenstärksten Kandidierenden gegeneinander antreten. Mit Blick auf die Umfrageergebnisse würde die Stichwahl außerordentlich spannend. Es ist nämlich davon auszugehen, dass Wähler*innen sich in der Stichwahl für die kandidierende Person entscheiden, die ihrer Entscheidung des ersten Wahlganges ideologisch am nächsten liegt. Auf Mitte-links Kandidierende entfielen zufolge der Umfrage in der Summe 51 % der Stimmen, die Ausgangslage in der Stichwahl wäre folglich für Katja Dörner oder Lissi von Bülow knapp aussichtsreicher. Da die Umfragestichprobe mit einem Umfang von 1000 recht klein ist und Parteipräferenzen bei Kommunalwahlen allgemein etwas flexibler erscheinen, ist vor allem bei der OB-Wahl noch kein Ausgang eindeutig vorherzusagen.

Zweitens ist der Bonner Stadtrat neu zu besetzen. Dabei handelt es sich um eine Mehrheitswahl. Das bedeutet, dass jede Partei jeweils eine Person für jeden Wahlbezirk aufstellt und die Wähler*innen sich dann zwischen den einzelnen Kandidierenden der Parteien entscheiden können. Die Gesamtzahl der Stimmen jeder Parteien bestimmt dann ihre Sitzzahl im Parlament, die zuerst durch diejenigen Kandidierenden besetzt werden, die sich in ihrem Wahlbezirk durchsetzen konnten. Alle weiteren der Partei zustehenden Plätze werden dann mit Kandidierenden einer zusätzlich zu den Direktkandidaturen festgelegten Wahlliste aufgefüllt.

In der Umfrage des WDR zeichnet sich ein sehr eindeutiger Trend ab: Die Grünen werden kräftig zulegen , die SPD wird einbrechen und die CDU eher geringfügig verlieren. Allgemein könnte es zu einer stärkeren Konzentration der Stimmen kommen.

In der Umfrage des WDR zeichnet sich ein sehr eindeutiger Trend ab: Die Grünen werden kräftig zulegen (18,6 % -> 35 %), die SPD wird einbrechen (23,4 %-> 16 %) und die CDU eher geringfügig verlieren (30,5 % -> 27 %). Allgemein könnte es zu einer stärkeren Konzentration der Stimmen kommen. Für FDP, Linke und andere kleinere Parteien zeigt der Trend nämlich nach unten. Lediglich der Bürgerbund Bonn würde sich als kleinere Liste steigern (um ca.1 %). Auch hierbei gilt aber wieder Vorsicht mit der Umfrage: Je kleiner die absolute Zahl an Befragten hinter einer Prozentangabe, desto ungenauer die Prognose. 

Drittens werden ergänzend zum Stadtrat die vier Bonner Bezirksvertretungen gewählt. Bonn teilt sich dabei auf in Bad Godesberg, Hardtberg, Beuel und Bonn. Welche Bezirksvertretung man selbst wählt, hängt selbstverständlich vom Wohnort ab. Dabei wird allerdings nach reiner Listenwahl gewählt, d. h. die Stimme ist für eine Wahlliste abzugeben und nicht wie bei der Stadtratswahl für eine einzelne Person.

Bei den drei vorher genannten Wahlen sind alle EU-Bürger*innen ab 16 Jahren wahlberechtigt, sofern sie seit mindestens 16 Tagen vor der Wahl in Bonn gewohnt haben. Für alle Nicht-EU-Bürger*innen und solche Menschen, die eingebürgert wurden oder Kind ausländischer Eltern sind, gibt es viertens die Integrationsratswahl. Der Integrationsrat besteht aus 27 Mitgliedern, von denen allerdings nur 18 über die Integrationsratswahl gewählt sind. Die weiteren neun sind aus dem Stadtrat beigeordnet. Der Integrationsrat  hat keine legislative Funktion und ist folglich ein allein repräsentatives Gremium zur Artikulation der Interessen von Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund.

Bonn einig Bundesstadt?

Unabhängig davon, was die genauen Ergebnisse sein werden – mit Blick auf die Wahlprogramme stellt sich die Frage, wie umfassend ein Politikwechsel überhaupt ausfallen könnte. Die Problemdiagnosen der Listen überschneiden sich in den meisten Fällen, Lösungsvorschläge ähneln sich, die Unterscheidung bringen eher Nuancen. Prominente Themen sind dabei Ökologie, Verkehr, Wohnung, Sicherheit und natürlich die Bonner Bäderlandschaft. Die Programme machen mit ihren vielen Vorschlägen alle den Eindruck, als ob sie wirklich das Gute Leben für Alle wollten.

Im Bereich der Ökologie sind sich die größeren Listen einig, dass Emissionsfreiheit anzustreben und spätestens 2035 zu verwirklichen ist. Es sind eher Konkretheit und Konsequenz der Maßnahmen, in denen sie sich unterscheiden. Die Grünen etwa wollen eine autofreie Innenstadt bis 2025 und einen vergünstigten ÖPNV. Die CDU möchte bis 2030 auf erneuerbare Energien umgestellt und emissionsfreie Busse eingesetzt haben. Auf solche Fristen verzichtet hingegen die SPD in ihrem Programm, wobei sie sich gleichzeitig mit vielen Vorschlägen zu nachhaltigem Verkehr zum Klimaschutz bekennt. Die Linke möchte schon 2025 ganz aus dem Kohlestrom raus, während die FDP vor allem bauliche Maßnahmen zur Emissionsreduzierung vorschlägt, in Sachen Verkehr aber am Auto festhält und keinen „Verkehrsträger […] bevorzugen“ möchte.

Bei der Verkehrsentwicklung tauchen einige Projekte in den Wahlprogrammen immer wieder auf. GRÜNE, CDU, SPD, Linke und FDP sind sich einig, dass die Straßenbahnlinien 61 und 62 sowie die U-Bahn-Linie 63 zu verlängern sind (nach Friesdorf und Mehlem). Eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Seilbahn auf den Venusberg besteht ebenfalls bei fast allen, wobei CDU und Linke diese vorsichtiger formulieren. Die FDP springt auch auf den ‚ÖPNV-stärken‘-Trip auf, präsentiert sich aber gleichzeitig als Verteidiger des Autofahrens: Der Ausbau der A565 auf sechs Spuren (und somit des „Tausendfüßlers“) und der A59 sind mit im Programm. Einzig der Bürger Bund Bonn lehnt die Seilbahn ab und erwägt in seinem Programm keine Streckenverlängerungen für den ÖPNV.

Einigkeit besteht auch darin, dass Bonn mehr (günstigen) Wohnraum braucht. Kein Wunder, ein kurzes Schnuppern auf dem Wohnungsmarkt lässt diesbezüglich keine Fragen offen. Besonders konkret wird dabei die SPD, die fordert, dass 50 % der Wohneinheiten in Neubauten (sofern es davon mindestens fünf gibt) Sozialwohnungen bzw. preisgebunden sind. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft VeBoWAG soll nach den Vorstellungen der Sozialdemokrat*innen außerdem 400 neue Wohnungen im Jahr bauen. Das Ziel: Nicht mehr als 30 % des Einkommens für die Miete. Dabei weist die SPD Überschneidungen mit Grünen und Linke auf, die auch jeweils auf einen hohen Anteil sozialverträglicher Wohnungen pochen.

Die größte Dissonanz in der Problemwahrnehmung findet sich zwischen den Listen wahrscheinlich im Themenfeld der Sicherheit. So möchte die CDU einen sogenannten „Masterplan ‚Sauberkeit und Sicherheit‘“ auflegen, um Bonn bis 2025 zur saubersten und sichersten Großstadt Deutschlands zu machen. Im Wahlprogramm genannte Maßnahmen: „Müllpatrouillen“, Videoüberwachung, BodyCams und Alkoholverbote. Das krasse Gegenstück dazu bildet das Programm der Linkspartei. Diese sieht offensichtlich kein Problem mit der öffentlichen Sicherheit und adressiert das Thema gar nicht. Die Mitte bilden dagegen SPD, GRÜNE, FDP und BBB, die vor allem mehr Präsenz von Polizei- und Ordnungsamt sowie den Abbau von Dunkelplätzen fordern.

Dramatisch und emotional wurde in den letzten Jahren in Bonn die Debatte um die Bonner Bäderlandschaft geführt. Umso schöner ist es zu sehen, dass nun offenbar Eintracht unter den Listen herrscht. Niemand möchte Bad Godesberg das Schwimmbad wegnehmen und in den weiteren Stadtbezirken soll in Zukunft vorzugsweise in Kombibädern geschwommen werden.

Was nach Lektüre der Programme bleibt, ist ein Gefühl von Langeweile über die Ähnlichkeit der Programme. Allerdings werden ohnehin nicht alle Projekte durchgesetzt werden können, weswegen man sich um eine genaue Abwägung über die Glaubwürdigkeit bemühen sollte, die man den einzelnen Listen hinsichtlich der verschiedenen Themenfelder zumisst. In der Kommunalpolitik ist eine der wichtigsten Fragen am Ende aber immer die Finanzierung. CDU, BBB und FDP wollen Schuldenabbau, aber keine Abgabenerhöhungen. Die Stadtkasse soll wohl noch enger werden. Hingegen häufen sich bei Grünen, Linken und SPD die teureren Forderungen, wobei unklar bleibt, wie diese bei festgeschriebener kommunaler Schuldenbremse finanzierbar sind. Viel steht zum Wochenende vor der Wahl noch nicht fest, außer, dass das mit dem Guten Leben für Alle wahrscheinlich wieder nichts wird.

Anmerkung der Redaktion

Der folgende Artikel bildet nur die Positionen der sechs stärksten kommunalpolitischen Listen ab, die bei der letzten Wahl einen Stimmenanteil von mehr als fünf Prozent hatten. Eine Gesamtdarstellung der ganzen Listenvielfalt wäre in diesem Rahmen nicht möglich gewesen und würde den Unterschieden in der politischen Relevanz nicht gerecht.

Als gutes Tool zum Vergleich von noch mehr Positionen und zum Entdecken auch der kleineren Listen bietet sich der Bonn-O-Mat an. Er funktioniert wie der bekannte Wahl-O-Mat.

 

Über den Autor

Clemens Uhing findet Kommunalpolitik eigentlich gar nicht so spannend, weil er Debatten über große Ideen mehr mag als Lösungen.

Der Weg zum Wahllokal muss dieses Mal mit Maske bestritten werden; Quelle: Pixabay

Politik

Wählen unter besonderen Umständen

Was bei der anstehenden Kommunalwahl zu beachten ist

Ein Bericht von Tom Schmidtgen

04.09.2020

Wahlen haben doch immer etwas ritualisiertes. Eintritt ins Wahlbüro, Wahlzettel ausgehändigt bekommen, Kreuz machen, Zettel einstecken. „Schönen Sonntag noch!“ wünschen und tschüss. Dieses Jahr wird es ein klein wenig anders. Wir haben bei den Städten Bonn, Köln und Siegburg angefragt, wie sich die Kommunen auf die veränderte Situation unter Corona-Bedingungen auf die Kommunalwahl am 13. September vorbereitet haben.

Wählen im Lokal

Das Wichtigste zuerst: Nehmt euch euren eigenen Stift zur Wahl mit! Aus Hygienegründen soll vermieden werden, dass sich Viren durch Schmierinfektionen übertragen. Die Stadt Siegburg verteilt sogar an jede*n Wähler*in einen eigenen Stift. Bonn und Köln rufen dazu auf, einen eigenen Stift mitzubringen. Im Wahllokal müssen natürlich die üblichen Schutzmaßnahmen eingehalten werden, heißt: 1,50 Meter Abstand und Maske tragen. Hier wird es spannend. Auch die aktuelle Corona-Schutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalens legt fest, dass die Maske zur Kommunalwahl verpflichtend getragen werden muss. Eine Seite später heißt es aber: „Jedoch ist in Wahlräumen durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass auch Personen, die gegen die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung verstoßen, ihr Wahlrecht ausüben können.“ (Quelle)

Wahlrecht schlägt Hygienevorschriften

Wie das konkret von den Mitglieder*innen der Wahlvorstände umgesetzt werden soll, steht nicht dabei. Die Städte Siegburg und Köln sprechen von einer Maskenpflicht, Bonn bittet seine Bürger*innen nur zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes.

Köln und Siegburg will mit einem Einlassmanagement die Anzahl an Personen im Wahllokal reduzieren. Die Oberflächen werden regelmäßig desinfiziert. Auch Wahlvorstände müssen Masken oder Visiere tragen oder sitzen hinter einem Spuckschutz. In Seniorenheimen wird fast gar nicht gewählt. Nur drei Wahlbüros in Bonn befinden sich in Altenheimen, allerdings benutzen Wähler*innen einen separaten Eingang, sodass kein Kontakt mit Bewohner*innen entstehen soll.

Briefwahl

Die Briefwahl ist aktuell wohl die sicherste und entspannteste aller Wahl-Methoden. Allerdings ist es jetzt etwas zu spät, zum Beantragen der Wahlunterlagen aufzurufen. Die Wahl ist in knapp einer Woche, bis dahin werden die Unterlagen wohl nicht mehr rechtzeitig eingehen. Bis zum Wahltag 16 Uhr müssen sie dem Wahlamt vorliegen. Dabei sind auch eine längere Postlaufzeiten zu beachten. Deshalb empfiehlt es sich, Briefwahlunterlagen persönlich im Wahlamt abzugeben. In Bonn gibt es dafür Wahlbüros in allen vier Stadtbezirken, zu finden online. Wer Briefwahl beantragt, aber noch nicht abgeschickt hat und besorgt ist, dass die Unterlagen nicht mehr rechtzeitig ankommen, kann meist auch zur Wahl am Sonntag persönlich erscheinen. Dafür aber zwingend alle Unterlagen mitnehmen, also auch die Wahlscheine!

Schon jetzt sind mehr Briefwahlanträge eingegangen als bei der vergangenen Wahl: In Bonn und Köln wählen knapp ein Viertel aller Wähler*innen per Post, Siegburg erwartet einen Briefwähler*innen-Anteil von etwa der Hälfte der Wahlberechtigten. Durch den Anstieg gibt es mehr Briefwahlbezirke und weniger Wahlräume. In allen drei Kommunen werden mehr Wahlhelfer*innen eingesetzt, vor allem weil in den Wahllokalen zusätzliches Personal für die Einlasskontrollen benötigt wird und mehr Briefwähler*innenstimmen ausgezählt werden müssen. Noch immer werden übrigens Wahlhelfende gesucht: Bonn benötigt insgesamt 1900, Köln 10.000. In Köln werden immer noch 800 werden gesucht. In der Messe in Köln-Deutz sollen die Briefwahlen ausgezählt werden. Auf 33.600 Quadratmetern werden alleine hier bis zu 3.500 Menschen gebraucht.

Wahlpartys

Die bekannten Wahlpartys im Rathaus, in dem sich die/der Gewinner*in feiern lässt und die/der Unterlegene* zum Wahlsieg gratuliert, werden dieses Jahr ausfallen oder anders stattfinden. In Bonn sind Wahlpartys zwar grundsätzlich möglich, allerdings müssten alle Schutzvorkehrungen eingehalten werden, also ohne eng zusammenstehende Jubler*innen, Alkohol und Tanz. „Die Stadt Bonn appelliert bei der Umsetzung zu großer Umsicht und Vorsicht“, sagt eine Sprecherin der Stadt. Siegburg äußert sich bisher wenig ausführlich, allerdings wird die Wahlparty „in diesem Jahr sicher ganz anders aussehen“. Köln wird die Wahlergebnisse nicht öffentlich präsentieren. Allerdings wird es auf der Webseite der Stadt und in den sozialen Netzwerken einen Livestream geben.

Über den Autor

Tom Schmidtgen wählt dieses Mal das erste Mal per Brief und musste sich erstmal durch ein Meer aus bunten Zetteln und Briefumschlägen kämpfen. Er wählt übrigens in Köln, wo die Wahl zur/zum OB ja schon fast entschieden scheint: (Quelle).

Gesellschaft

Pandemisch gelacht

Warum es legitim und sogar geboten ist, Witze über das Corona-Virus zu machen

Ein Kommentar von Jan Bachmann

28.08.2020

Die aktuelle Lage ist ernst. Das dürfte inzwischen allgemein bekannt sein. Wir alle merken das jeden Tag und bekommen es – falls uns das noch nicht reichen sollte – ja auch oft genug gesagt. Oft gesagt bekommen wir auch, dass Scherze in Anbetracht dieser ernsten Lage unangemessen seien und so begegnen uns Witze über die Pandemie oder die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung eher selten. Freilich witzelt man hin und wieder über die Demonstrationen der Corona-Leugner*innen – die völlig zu Recht verspottet werden – oder über Staaten, die mit der Pandemie nicht ganz so weltmeisterlich wie die Bundesrepublik umgehen. Vereinzelt gab es auch Persönlichkeiten in verantwortungsträchtigen Positionen, die durch ihre humoristischen Ambitionen in Erscheinung traten, wie etwa Anja Karliczek, deren Corona-Hilfe für Studierende jedoch allenfalls als sehr schlechter Witz durchgehen.

Humorlose Menschen

Humorlose Menschen zeichnen sich in der Regel nicht nur dadurch aus, dass sie selbst keine Freude haben wollen, sondern auch dadurch, dass sie anderen die Freude nicht gönnen. So etwas wie Freude empfindet man lediglich dann, wenn es dem oder der anderen schlecht geht. Das schafft Befriedigung. Da gibt es dann sogar gelegentlich den einen oder anderen Lacher, mit Humor hat das dann aber nichts mehr zu tun.

Nun mag man darüber streiten können – sicher ist das auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich – was die Motive für das Hamstern von Toilettenpapier und Dosensuppen zu Beginn der Pandemie waren. Vielleicht drückt dieses Verlangen den Wunsch aus, etwas zu tun in Anbetracht der Pandemie, das Verlangen nach Sicherheit (in Form von Toilettenpapier), vielleicht hielten aber auch einige Leute Corona fälschlicherweise für eine Durchfallerkrankung. Jedoch gab es auch – zumindest teilweise – das Verlangen oder zumindest die Freude darüber, anderen Leuten das Toilettenpapier wegzukaufen. Hans Fallada hat dieses Phänomen schon 1946 in „Der Alpdruck“ beschrieben: Als nach dem letzten Weltkrieg Lebensmittel knapp waren, kam es häufiger vor, dass etwa ein Nachbar des nachts in einem fremden Garten ein paar Äpfel vom Baum pflückte, weshalb die Eigentümer*innen ihre Obstbäume meist sehr zeitig abernteten. Missgünstige Zeitgenoss*innen kamen dem wiederum zuvor und ernteten die noch unreifen (und ungenießbaren) Früchte, was ihnen freilich nichts brachte, außer der Gewissheit, dass die Eigentümer*in die Früchte nun nicht mehr essen konnte.

Menschenfeindlichkeit

Solch ein Verhalten ist sicher kein Indiz dafür, dass jemand ein*e besonders große*r Menschenfreund*in ist. In den letzten Monaten konnten wir aber auch noch viele weitere Dinge beobachten, die ebenfalls keine Indizien dafür sind. In diesen kurzlebigen Zeiten vergisst man ja nur allzu schnell, gegen wen sich der Zorn gestern oder vorgestern richtete. So kam es zu Beginn der Krise zu zahlreichen Anfeindungen gegenüber Menschen, die tatsächlich oder vermeintlich aus China stammten. Besonders engagierte Teutobolde beschmierten etwa chinesische und etwas später auch italienische Restaurants.

Anschließend wurde dann das gesamte Ausland zum Krankheitspfuhl. Darüber, ob die Schließungen der Grenzen eine sinnvolle Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie waren, kann man sicher vortrefflich streiten, unzweifelhaft ist aber, dass zumindest einige der Grenzschließungen eher populistische und weniger pandemische Ursachen hatten. Überhaupt schienen nationale Lösungen die richtige Reaktion zu sein auf die globale Pandemie. Munter verhängte man einen Exportstopp für Masken, sah herablassend auf die Länder herab, die die Krise nicht so gut meisterten wie Deutschland (eigentlich alle), spielte Autoquartett mit den Zahlen der Verstorbenen und kam nicht einmal auf die Idee, ein paar der vielen in Deutschland ungenutzten Beatmungsgeräte dorthin auszuleihen, wo sie gebraucht wurden.

In dieser Reihe nicht vergessen werden, sollte der Corona-Ausbruch, der sich vor etwa drei Monaten in einer Hochhaussiedlung in Göttingen ereignete: Von offizieller Seite wurde eine (damals noch unzulässige) Feier einer arabischen Großfamilie als Ursache angeführt. Die meisten Medien hatten bereits ausgiebig über den Fall berichtet, als sich dann aber herausstellte, dass eine solche Feier überhaupt nicht stattgefunden hatte.

Dann gab und gibt es da noch Anfeindungen gegen Politiker*innen, Virolog*innen und allerlei wüste Verschwörungstheorien – für manche Menschen werden selbst die schlimmsten Qualen erträglich, sofern sie jemandem die Schuld dafür geben können. Glücklicherweise stellen die Anhänger*innen der diversen Corona-Verschwörungsmythen hierzulande keine Mehrheit. Die meisten Leute haben begriffen, dass eben ein Virus schuld ist an der Pandemie und nicht Herr Gates, Frau Merkel oder die Juden. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass man seine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht trotzdem irgendwie ausleben kann. Man echauffiert sich zum Beispiel über die rücksichtslosen jungen Leute, die nur feiern wollen, ohne zu sehen, welche Sorgen und Nöte sie plagen: Bei ihnen hatte Scholzens Bazooka wohl eine Ladehemmung (vermutlich stammt sie aus Bundeswehrbeständen), stattdessen gab es Existenzängste und Einzimmerwohnungen während des Lockdowns. Vier von zehn Studierenden gaben an, infolge der Pandemie einen Job verloren zu haben, zahlreiche Studierende waren gezwungen, sich zu verschulden. Das Privileg, Sorgen und Ängste als Erklärung für ein Fehlverhalten heranzuziehen, steht in diesem Lande wohl nur AfD-Wähler*innen zu.

Ähnlich ist es bei den Menschen, die von einer Reise zurückkehren. Aus medizinischer Sicht scheint oder schien ein Test bei der Rückkehr sinnvoll, laut einer Meinungsumfrage war daher auch die Mehrheit der Menschen dafür, dass entsprechende Tests verpflichtend wurden. Geschützt werden durch solche Test ja meist nicht (nur) die möglicherweise Erkrankten, sondern vor allem der Rest der Gesellschaft. Zahlen freilich sollte, so wollte es zumindest die Mehrheit dieses Restes, der oder die einzelne Rückkehrer*in. Solidarität hat schließlich Grenzen und in Zeiten von Corona sind die geschlossen.

Der Humor

Diese Reihe wird sicher noch fortgesetzt werden. Besser wird dadurch nichts, die Situation wird eher schlechter – zumindest für einige Leute.

Bedenkt man, dass diese ganze Pandemie noch geraume Zeit weitergehen kann, obschon es ja inzwischen in Russland einen Impfstoff gibt, der übrigens aus einem Bären gewonnen wurde, den Herr Putin mit bloßen Händen und nacktem Oberkörper erlegt hat, so empfiehlt sich nicht nur das Tragen der Maske, sondern vor allem der Humor. Den anfangs erwähnten Spaßbremsen sei gesagt:

Eine Lage, die so ernst ist, dass ein Witz darüber nicht angemessen wäre, gibt es nicht (was jedoch nicht bedeutet, dass es keine unpassenden Witze gibt).

Der Mensch kann und sollte scherzen über alle Widrigkeiten, über Elend, Leid und Tod. Je ernster die Lage ist, desto notwendiger ist das. Man denke da etwa an den Kabarettisten Werner Fink, der, als er von der Gestapo verhaftet und auf das berüchtigte Reichssicherheitshauptamt gebracht wurde, auf die Frage des Gestapo-Beamten, der ihn durchsuchte, ob er irgendwelche Waffen bei sich hätte, erstaunt fragte: „ Wieso, braucht man hier welche?“

Wenn man über Corona oder über eine Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie lacht, dann heißt das nicht, dass man das Virus nicht ernst nehmen und die Maßnahmen nicht befolgen würde.

Der Witz, so Freud in seinem Buch über den Witz, erlaubt es dem Unterdrückten – und sei es nur für einen Augenblick – über den Unterdrückter – in diesem Fall also das Virus – zu triumphieren. Ganz ohne Impfstoff.

Über den Autor

Jan Bachmann steuert noch einen schlechten Corona-Witz bei:

Schwindsucht, Diphtherie oder Wechselfieber – früher hatten Krankheiten noch klangvolle Namen. „Covid-19“ hingegen hört sich eher an wie der Name irgendeines Hipster-Cafés.“

Quelle: Ronny Bittner

Bonn

Für uns alle ist das keine Frage, wenn ein Tier wirklich überleben kann und auch tatsächlich eine gute Chance hat, dass man das nicht an irgendwelchen Kosten festmacht.“

Im Gespräch mit der Stadttaubenhilfe Bonn

Ein Interview von Julia Pelger

21.08.2020

In jeder größeren Stadt sind sie omnipräsent; gurren, flattern und sammeln sich auf Dächern und um Imbissbuden: Stadttauben. Kaum ein anderes Tier gehört so sehr zum Inventar von Großstädten wie die eigentlich recht hübsch gefiederten Vögel mit der einzigartigen Kopfbewegung. Beachtung bekommen sie allenfalls auf negative Art und Weise als krankheitsverbreitende ‚Ratten der Lüfte‘, deren Kot Innenstädte und Gebäude verunreinigt und schädigt. Dabei wird schnell vergessen, dass Tauben keine Wild-, sondern Haustiere sind, denen laut Tierschutzgesetz eigentlich Fürsorge zukommen müsste. Wir haben mit der Stadttaubenhilfe Bonn gesprochen, die sich für Tauben einsetzt – und damit durchaus auch zur Verschönerung der Innenstädte beiträgt.

fw: Hallo Sabine, schön, dass du Zeit für das Gespräch gefunden hast! Tauben sind vielleicht nicht die ersten Tiere, die die meisten Menschen vor Augen haben, wenn es um Tierschutz geht. Warum also Taubenhilfe? Woher kam die Idee?

Sabine: Die Idee kam tatsächlich mit dem ersten Kontakt mit Tauben. Ich habe eine kleine Taube gefunden, die ich aufgepäppelt habe, die sich das Beinchen gebrochen hatte und die zahm wurde – es kam, wie es kommen musste, der Kontakt war zu eng. Ich habe versucht, diese Taube dann irgendwohin zu vermitteln, wobei ich festgestellt habe, wie schwer es war, eine Stadttaube irgendwo unterzubringen, wo sie es gut hat. Und so kam ich nach und nach in Kontakt mit dem tatsächlichen Leben von Stadttauben und habe festgestellt, was für ein Schicksal die Tiere haben. Und daran wollte ich etwas ändern.

fw: Auf welche Art und Weise stellt ihr eine Hilfe für Tauben dar? Wie sieht euer Einsatz konkret aus?

Sabine: Also unser Einsatz konkret bezieht sich hauptsächlich darauf, dass wir kranke, verletzte oder verschmierte Tauben aus der Gruppe herausfangen, diese dann wieder gesundpflegen, aufziehen oder sie an ihrem alten Platz rauslassen. Manchmal versuchen wir auch, sie zu vermitteln. Es passiert aber in Einzelfällen auch, dass man sie halt einschläfern lässt, weil die Verletzung oder die Krankheit so stark ist, dass kein lebenswertes Leben mehr möglich ist. Momentan versorgen wir sie noch zusätzlich mit Wasser, weil es so heiß ist. Ergänzend bemühen wir uns natürlich, einen betreuten Taubenschlag in Bonn zu etablieren, das ist ja eigentlich unser Hauptanliegen, was viele Probleme lösen würde. Da würden die Tauben dann in einem betreuten Schlag unterkommen, trotzdem draußen fliegen können, die Eier könnten ausgetauscht werden (durch Gipseier, bei denen die Tiere ihrem Brutbedürfnis nachgehen können, Anm. d. Red.).

Der Bestand wächst dann nicht so stark an, es fällt weniger Kot an, die Passanten sind zufriedener, die Tiere sitzen weniger auf den Gebäuden und laufen weniger nach Futter suchend umher. Das ist eigentlich das, was wir uns als großes Ziel vorstellen.

Fw: Gut, dass du das gerade angesprochen hast, welchen Hindernissen und Herausforderungen seht ihr euch bei der Errichtung eines städtischen Taubenschlags entgegengesetzt?

Sabine: Also, im Moment einfach in der Findung eines geeigneten Standortes oder Objektes. Wir sind schon länger dabei, dass wir das im Stadtausschuss immer wieder anbringen lassen, wo wir allerdings nur von der Partei Die Linke unterstützt werden. Die Findung einer passenden Lokalität ist also die größte Herausforderung aktuell.

fw: Tauben sind Tiere, die vornehmlich in städtischen Bereichen, gerade in Großstädten, vorkommen. Wie erklärt man sich dieses Vorkommen?

Sabine: Dieses Vorkommen liegt im Grunde genommen an ihrer natürlichen Heimat. Die Stadttauben stammen von den Felsentauben ab, die vornehmlich in Nischen und auf Felsvorsprüngen brüten, sie sind keine klassischen Baumbrüter. Dem kommt die Stadt am nächsten, womit man auch erklären kann, warum sie sich so häufig auf Simsen, Fensterbänken und Mauernischen aufhalten und auch dort brüten, das ist einfach ein Ersatz für ihr natürliches Habitat.

fw: Trotz des positiven Bildes, das Tauben als Symbol in vielen europäischen Kulturen zukommt – man denke etwa an das Bild der Friedenstaube – gelten Stadttauben als mitunter krankheitsverbreitende Schädlinge, gegen die häufig in Formen von Abwehrleisten oder –zäunen vorgegangen wird. Diese Einordnung erfolgt vornehmlich aufgrund der großen Mengen an Kot, die Tauben verursachen und die auch für baustoffliche Beeinträchtigung verantwortlich gemacht werden. Gibt es Möglichkeiten, tierfreundlich gegen derartige Probleme, die durch große Stadttaubenpopulationen entstehen, vorzugehen? Oder haben Taubenabwehrvorrichtungen auch eurer Meinung nach ihre Daseinsberechtigung?

Sabine: Also es ist richtig, dass große Mengen an Kot anfallen, der natürlich nicht sehr schön aussieht. Das liegt zum einen an der nicht artgerechten Ernährung der Tauben, die sie in den Städten finden. Es herrscht ja größtenteils ein Fütterungsverbot in Deutschland, sodass die artgerechte Ernährung aus Körnern, Erbsen, Mais und ein bisschen Grün nicht möglich ist. Insofern leben sie als Opportunisten von unseren Abfällen, also von Pizza, Brötchen, platt getretenen Snickersresten, Pommes, zum Teil sogar von Erbrochenem, einfach weil sie aus Hunger alles fressen. Auf diese Ernährung ist der Organismus der Tauben gar nicht eingerichtet und macht sie anfällig für Krankheiten, bringt die ganze Verdauung durcheinander – im Prinzip ähnlich, als wenn wir uns ein ganzes Jahr lang nur von Pommes und Burgern ernähren würden, irgendwann würde sich das auch auf die Verdauung niederschlagen. Das macht den Kot der Tauben schließlich auch matschig. Normalerweise ist Taubenkot sehr fest und rund und stellt auch für Gebäudesubstanzen keine Gefährdung dar. Dazu gibt es übrigens auch eine Untersuchung der TU Darmstadt, die dahingehend festgestellt hat, dass die Optik der Fassaden zwar beeinträchtig wird, allerdings eine tiefergehende Schädigung der Bausubstanz daraus nicht erfolgt. Was die Taubenabwehrvorrichtungen angeht, so finden wir Taubenkot natürlich auch nicht schön, aber diese Arten von Vergrämungsmaßnahmen sind natürlich sehr unschön, da den Tieren damit ein Lebensraum genommen wird. Die können ja nicht anders, als in den Städten zu leben. Sie würde in unseren Augen allerdings Sinn machen, wenn es betreute Schläge gäbe, womit die Tauben sich in die Schläge zurückziehen könnten und nicht mehr auf den Gebäuden sitzen müssten. Dann würde eine Vergrämung auch tatsächlich Sinn machen. Man kann  nicht sagen, dass sie nicht sinnvoll ist, sie ist in dieser Form, d. h. ohne Alternativen wie betreute Taubenschläge, nicht gerade zuträglich für die Tiere.
Und es  gibt natürlich auch einen Unterschied in der Vergrämung. Diese muss fachgerecht angebracht und regelmäßig gewartet werden. Es muss gewährleistet sein, dass kein Tier – weder Taube noch ein anderes – daran Schaden nehmen kann. Leider werden die meisten von irgendwelchen Handwerkern angebracht, die zwar ihr Geschäft an sich verstehen, aber nichts von der Taubenvergrämung.

Quelle: Ronny Bittner

fw: Wie reagiert ihr auf Kritiker, die euch für die Verbreitung von Schädlingen und die Verschmutzung von Innenstädten verantwortlich machen?

Sabine: Wir versuchen nach Möglichkeit, wenn die Leute offen sind, ein klärendes Gespräch, denn diese landläufigen Meinungen möchten wir mit entsprechenden Fakten widerlegen. Dass wir sicherlich das gleiche Ziel haben – wenn auch aus unterschiedlicher Intention –, nämlich dass die Tauben aus diesem täglichen Stadtleben rauskommen, was mit dem Schlag möglich wäre, da satte Tauben sich vornehmlich im und am Schlag aufhalten. Wir möchten darüber gerne aufklären, was mal mehr, mal weniger gut klappt – es gibt auch welche, die wollen das gar nicht hören, die wollen nur ihren Frust loswerden, da bringt das einfach nichts.

fw: Was haltet ihr von einem Taubenfütterungsverbot?

Sabine: Davon halten wir insofern nichts, weil die Tauben deswegen gezwungen werden, auf achtlos weggeworfene Lebensmittel zurückzugreifen. Wir würden aber auch kein ‚alle dürfen füttern‘ befürworten.

Was wir begrüßen würden, wären betreute Futterplätze, wo die Tiere in Ruhe nur mit dem gefüttert werden, was sie auch wirklich brauchen.

Diese Fütterungen sollten dann auch nur von bestimmten Personen übernommen werden, mit artgerechtem Futter in der richtigen Menge, sodass kein überschüssiges Futter liegen bleibt. Das würden wir für sinnvoll halten.

fw: Wie habt ihr denn festgestellt, wie viel eine Taubenpopulation fressen soll? Stellt man das mit der Erfahrung fest?

Sabine: Eigentlich ja gar nicht. Wir dürfen ja auch nicht füttern, daran müssen auch wir uns halten. Mit der Anfütterungsgenehmigung sind wir daran gebunden, wenn wir anfüttern, auch nur eine entsprechende Menge zu verteilen, bis wir die Taube haben. Wir versuchen ja nur, kranke oder verletzte Tauben anzulocken. Das funktioniert über den Hunger. Die Tauben kommen dann nah genug heran, um sie einfangen zu können. Natürlich bekommt man dann trotzdem ein Gefühl dafür, wie viel Tauben fressen. Wenn nämlich die einzufangende Taube satt ist, bevor wir sie einfangen konnten, ist sie meist wieder weg. Das haben wir dann gut im Gefühl, ab wann dieser Punkt gekommen ist. Die Erfahrung zeigt aber, mal wird mehr, mal wird weniger gefressen. Man tastet sich heran, Hand für Hand. Wichtig ist, dass wir darauf achten, dass kein Futter liegen bleibt, dass wir also nicht bloß eine Masse ausschütten und dann warten, was passiert. Also im schlimmsten Fall haben wir die Taube nach einer Minute und der Rest bleibt dann liegen.

fw: Der Unterschied zwischen Füttern und Anfüttern dürfte unseren Leser*innen nicht bekannt sein, könntest du das vielleicht erläutern?

Sabine: Füttern hat das Hauptziel, die Tauben satt zu machen, dass also auch eine große Menge an Futter ausgebracht wird, und Anfüttern bedeutet, dass man nur so lange füttert, bis die kranke oder verletzte Taube eingefangen wird. Manchmal bekommen wir die gemeldet, manchmal machen wir so genannte Kontrollgänge, in denen wir anfüttern und schauen, ob die kranke Taube dazu kommt und sobald wir die kranke Taube haben, müssen wir das Füttern einstellen, da darf dann auch kein Futter übrig bleiben. Das Ziel ist also anders beim Anfüttern, dass wir nämlich die kranken und verletzten Tauben finden und herausziehen können.

fw: Kranke Tauben zu pflegen und zu füttern ist neben dem zeitlichen Aufwand ja durchaus mit hohen Kosten, etwa für Futter und tierärztliche Behandlung, verbunden. Wie finanziert ihr euch?

Sabine: Momentan finanzieren wir uns alle noch privat, also wir zahlen das alles aus eigener Tasche, es sei denn, wir bekommen Tauben gemeldet oder ein Finder ist da, der gibt uns ab und an auch mal eine Spende, aber das deckt gerade die Tierarztkosten, den Rest nicht. Wir gründen gerade einen Verein und hoffen natürlich so, ein paar mehr Spenden erzielen zu können, aber im Moment ist es noch aus eigener Tasche.

fw: Wow! Ist das nicht sehr kostenintensiv?

Sabine: Ist es, ja. Aber für uns alle ist das keine Frage, wenn ein Tier wirklich überleben kann und auch tatsächlich eine gute Chance hat, dass man das nicht an irgendwelchen Kosten festmacht. Wenn das eine hohe Summe kostet, ist das halt so.

fw: Wie sieht es mit politischer Unterstützung aus? Taubenpopulationen dürften ein Thema sein, dass lokalpolitische Relevanz hat…

Sabine: Genau! Da ist eigentlich nur wie bereits erwähnt Die Linke, also Michael Faber und Anatol Koch, die uns aktuell unterstützen. Ich glaube, alle anderen politischen Parteien stehen dem Thema maximal neutral gegenüber, der Bürgerbund Bonn steht dem sehr, sehr kritisch gegenüber, die hätten das Taubenproblem am liebsten ganz anders gelöst und sind sehr gegen uns, glaube ich. Der Rest ist eher verhalten. Auch das Veterinäramt und Ordnungsamt unterstützen uns in ihren Möglichkeiten. Sie sind zwar politisch nicht gebunden, aber ihre Unterstützung ist auch wichtig und wir sind dankbar darüber.

fw: Was für Lösungen für die Probleme, die mit Tauben assoziiert werden, schlägt denn der Bürgerbund Bonn vor?

Sabine: Er stellt unsere Arbeit für die Tauben sehr infrage, ob das denn überhaupt sein müsste, wir würden ja nur füttern und nicht anfüttern und das wäre ohnehin alles überflüssig. Die Tauben würden so klarkommen, man sollte ein absolutes Fütterungsverbot verhängen und die ganzen Sachen noch mehr ahnden. Ob das so sinnvoll ist, sei mal dahingestellt. Ich glaube, dass die denken, dass die Tauben, wenn kein Futter mehr vorhanden wäre, aus den Innenstädten verschwinden würden. Die wandern aber nicht ab, sondern verhungern schlichtweg, was ganz jämmerlich und erbärmlich ist und auch gegen das Tierschutzgesetz verstößt.
Wir hatten seinerzeit mal angeboten, den Vorurteilen Rede und Antwort zu stehen. Dazu kam es dann – wohl aufgrund Corona – leider nicht mehr.

fw: Also ein Fütterungsverbot ist gar nicht so einfach durchzusetzen, berücksichtig man das Tierschutzgesetz?

Sabine: Es gibt die Erna-Graff-Stiftung, die versucht, gegen das Fütterungsverbot zu klagen, eben weil Tauben verwilderte Haustiere sind und ein bewusstes Verhungern lassen, was mit diesem Fütterungsverbot einherginge, würde gegen die Fürsorgepflicht des Menschen sprechen. Das ist ja wie mit streunenden Katzen: wenn man die einfach wissentlich verhungern ließe, wäre das genauso wenig tierschutzgerecht.

fw: Zu guter Letzt: Was kann ich tun, wenn ich mich artgerecht für Stadttauben einsetzen will?

Sabine: Im Grunde genommen publik machen, was wir vorhaben, nämlich die Einrichtung dieser Taubenschläge. Personen ansprechen, bei denen man merkt, dass sie noch eine landläufige schlechte Meinung davon haben, versuchen aufzuklären, das ist schon die größte Hilfe. Zum Füttern können wir schlecht aufrufen, weil das schlicht verboten ist! (lacht) Aber immer wieder aufklären und die Augen offenhalten, ob man irgendwo eine verletzte Taube sieht, gerne melden. Natürlich würde es auch helfen, publik zu machen, dass wir uns als Verein gegründet haben, wir sind auch immer dankbar über finanzielle Unterstützung oder Sachspenden oder was auch immer. Das wäre super!

fw: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei eurer weiteren Arbeit!

Quelle: Ronny Bittner

Über die Autorin

Julia Pelger studiert Philosophie, Französisch und Englisch. Hält den Begriff ‚Realpolitik‘ für ein Oxymoron. Ausgeprägte Abneigung gegen Faschisten und Faschist*innen, außer Grammar Nazis. Gutmensch mit Neigung zur Misanthropie. Veganerin. Feministin. Zweiflerin. Kaffee. Glaubt an den Zwang des besseren Arguments. Weiß, dass es oft nicht funktioniert.

Gesellschaft

Urlaub, Urlaub in Italien

Mit den Eltern 2020

Ein Kommentar von Helene Fuchshuber

14.08.2020

Ich habe vor kurzem über die Redewendung gepflegtes Lästern nachgedacht. Oder gepflegtes Tratschen. Oder Klatschen. Hauptsache gepflegt. Ich habe darüber nachgedacht und mich gewundert, warum ausgerechnet gepflegt. Lästereien haben doch so gar nichts Sauberes an sich, nichts Ordentliches, und man kümmert sich auch nicht um jemanden oder etwas, wenn man lästert. Im Gegenteil, andere und ihre Gefühle kümmern einen dann herzlich wenig. Es hat nicht lange gedauert, gepflegt, weil es etwas ist, das Menschen pflegen zu tun, oder generell pflegen, wie eine Bekanntschaft. Je öfter ich jetzt ‚pflegen‘ schreibe, desto weniger Sinn ergibt dieses Wort für mich. Und dennoch ist Lästern auch etwas, was ich pflege zu tun, und eine kleine Urlaubstradition, die ich mit meiner Familie pflege. Ich schäme mich dafür, es ist nicht cool, aber letztlich – tun wir es nicht alle?

Gepflegtes Lästern hinter vorgehaltener Hand. Wobei wir die diesen Sommer gar nicht brauchen. Wir tragen Maske. Sonnenbrille auf. Das Bild ist perfekt. Alle sehen, niemand sieht, wer sieht. Das Lästern beginnt.

Wer dieses Bild nicht einordnen kann: Ich sitze in Italien. Auf irgendeiner Piazza unter einem großen Schirm und trinke Aperol Spritz aus einem ökologisch verwerflichen Plastikhalm. Aber da auch das Phänomen Pfand hier ein Mythos ist und ich im Urlaub bin, habe ich den Halm einfach hingenommen (und freue mich jetzt, verwerflicherweise, insgeheim ein klein wenig über ihn). Die Eiswürfel klirren und es ist ein Sehen und Gesehen-werden. Kuriose Sonnenbrillen laufen vorbei. Schmierige Frisuren. Kurze Röcke und Kleider und Hosen. Viel zu kurze. Nagelneue Strandtaschen hängen stolz über Armen. Protzige goldene Uhren an gebräunten Handgelenken. Es ist schwül. Ein bisschen flimmert die Hitze über dem Boden. Kinder mit Eis, braungebrannt.

Was diesen Sommer anders ist als in anderen Sommern in Italien: Weniger verbrannte Beine laufen vorbei. Weniger krebsrote Rücken und Nasen. Weniger Socken in Sandalen (um auch dieses Klischee noch zu bedienen). Ich bin mit Abstand die blasseste Person weit und breit (selbst in meiner Familie, mit Abstand). Es ist ein Sommer in Italien wie jeder Sommer in Italien, ein touristischer kleiner Ort, auf einer für Tourist*innen ausgelegten Insel, aber zum ersten Mal sind die Tourist*innen mehrheitlich Italiener*innen.

…was das Lästern noch erleichtert, um zurück zu meinem Punkt zu gelangen. Normalerweise müsste man sich Sorgen machen, dass jede*r Dritte deutsch versteht. Normalerweise. Aber wir leben im neuen Normal. Und sind fast die einzigen Deutschen vor Ort.

Solange ich zurück denken kann, war es so, dass ich im Urlaub mit meiner Familie über zu enge Hosen, abstrakte Verbrennungen, misslungene Tattoos auf mittlerweile alten Bäuchen und Armen gelästert habe. Ich fand das okay. Rechtfertigte meine Gedanken und Worte damit, dass ich die Personen nicht kenne und also nur ihr Äußeres beurteilen kann. Und es gibt einfach bestimmte Klamotten, die man in einem bestimmten Alter nicht mehr tragen sollte. Es gibt kurz und zu kurz. Nicht mein Geschmack und einfach unerträglich. Ich war mir dessen ganz sicher.

Bis ich es mir nicht mehr war.

Denn wer entscheidet, über zu kurz, zu alt, zu irgendwas. Ich? Bin ich in der Position darüber zu urteilen? Nein.

Letztlich sind es vorgeformte Meinungen aus irgendwelchen Klatschzeitschriften und Frauenmagazinen. Oder Ansichten meiner Eltern, die ich übernommen habe. Denn so liberal die in ihrer Erziehung waren und so viel ich machen durfte, was ich wollte – manchmal kam doch die Ansage: „Helene, willst du wirklich so raus?“ Oder: „Helene, die Hose geht am Strand, aber nicht in der Schule!“ Das hat zur Folge, dass ich ungern in Shorts rumlaufe und in größeren Städten nicht in Flip Flops, unter Sommerkleidern meist Sportshorts trage und eben mitunter eine Augenbraue hebe, wenn Menschen in sehr kurzen, sehr bauchfreien Klamotten an mir vorbei gehen.

Und mittlerweile schäme ich mich dafür. Denn nicht nur, dass ich hinter meiner Sonnenbrille schräg schaue, hinter meiner Maske ein bisschen schadenfroh grinse, meistens beziehen sich diese Reaktionen auch noch auf Frauen.

Eigentlich würde ich so weit gehen, mich als Feministin zu bezeichnen. Keine Frau – generell niemand! – sollte auf ihren*seinen Körper reduziert werden, aufgrund ihres*seines Körpers diskriminiert werden oder sich selbst aufgrund dessen in Handeln und Kleiderwahl einschränken. Jeder Körper ist schön! Und jede*r soll verdammt nochmal tragen, was er*sie will! Nicht ich muss mich im Outfit anderer Personen wohl fühlen. Sie müssen nicht in mein Bild passen, nicht mit meinem Geschmack übereinstimmen. Ich muss mir nicht Gedanken über anderer Leute Entscheidungen machen, nur mit meinen eigenen Tattoos mein Leben lang leben.

Ich rege mich regelmäßig darüber auf, dass wir von besagten Zeitschriften (und nicht nur von denen) ausschließlich Strichmädchen oder Plus Size Models vorgesetzt bekommen – was ist mit all den Frauen, all den MENSCHEN dazwischen? Warum störe ich mich an meinen Dehnungsstreifen und warum kämpft fast jede Frau irgendwann verzweifelt gegen Cellulite an? Warum fühle ich mich unwohl, wenn ich in kurzer Hose joggen gehe (oder Blumen pflücken), während Männer das gleiche in Shorts und oberkörperfrei machen? Und wenn ich einmal bei Männern bin: auch da hat eingehende Beobachtung gezeigt, dass nicht jeder Typ mit Sixpack und sehr braungebrannt durch die Welt spaziert, obwohl die Cover der Men’s Health das vermuten lassen. Immerhin sind sogenannte Charaktergesichter auf Titelseiten von Männermagazinen häufiger vertreten als Falten oder dergleichen auf denen für Frauen (wenn auch nicht unbedingt auf der Men’s Health).

Auch wenn es nicht ok ist, dass ich mich in Shorts nicht sehr wohl fühle und Dehnungsstreifen in meinem Alter und überhaupt ziemlich lang für ziemlich komisch, ja unnormal gehalten habe, ist es doch okay genau die zu haben. Und Cellulite. Und kein Sixpack. Und Falten. Und kurze Röcke, Hosen, Kleider, bauchfreie Tops. Oder eben lange Röcke, Hosen, Kleider, Hemden. Denn jeder Körper ist schön! Und jede*r kann anziehen was er*sie will!

Nur leider, obwohl ich all das nicht nur sage, sondern fühle und davon überzeugt bin, urteile ich (innerlich) trotzdem noch über die Rocklänge anderer Personen. Ich bin diesbezüglich wirklich zwiegespalten.

Gewissermaßen versuche ich diesen Zwiespalt zu handhaben wie die Sache mit dem Strohhalm: Ich finde Einwegplastik kacke. Wann immer ich daran denke, sage ich beim Bestellen, dass ich keinen Strohhalm haben möchte. Manchmal vergesse ich es. Aber es wird mir jedes Mal bewusst, wenn ich das Getränk inklusive Plastik dann vor mir stehen habe. Dann ärgere ich mich kurz und nehme mir vor, beim nächsten Mal dran zu denken.

Über die Autorin

Helene Fuchshuber hatte während des Schreibens dieses Artikels einen Ohrwurm.

Sie empfiehlt wärmstens, sich beim Lesen dieses Stückchen große Kunst anzuhören. Oder irgendwann jedenfalls. Am besten in Italien. Auf Balkonien in der Sonne sitzend ist aber auch ok.

Gesellschaft

Informieren, ohne zu lehren

Warum die Ausstellung "Wir Kapitalisten. Von Anfang bis Turbo" unsere Autoren nicht überzeugen konnte - und sie sich dennoch lohnt

Ein Kommentar von Samuel F. Johanns und Ronny Bittner

07.08.2020

Bis zum 30. August kann man noch die Ausstellung „Wir Kapitalisten. Von Anfang bis Turbo“ in der Bundeskunsthalle besuchen. Die Geschichte des Kapitalismus wird dabei etappenweise auch als eine Geschichte der Arbeit erzählt. Das Narrativ der Ausstellung präsentiert sich dabei sachlich. Sehr sachlich. Fast unangenehm sachlich. Orangene Regale in Industrieoptik prägen den Rahmen einer sehr aufgeräumten Abhandlung der Geschichte des Kapitalismus „von Anfang bis Turbo“. Schnell gewinnt man den Eindruck hier wird viel informiert, aber nur wenig gelehrt. Zwar hat man weitgehend den Eindruck, eine Blaupause bei der Thematisierung bevorstehender Katastrophen zu begehen, der Ausblick fällt jedoch sehr dürftig aus, von der Gegenwart ganz zu schweigen. Allerdings haben wir bei unseren Besuchen auf das Spielen des Handyspiels – man bekommt in der Ausstellung ein Smartphone ausgeliehen, kann in der Ausstellung Punkte sammeln und mit Exponaten per Chat kommunizieren – verzichtet. Dies führt nicht nur dazu, dass man gelangweilte und interessierte Museumsbesucher*innen nur schwer unterscheiden kann, sondern verleiht der Ausstellung durch die Signaltöne der App auch jenes Kommunikations-Grundrauschen, das man im Alltag beobachten kann.

Ausgeblendete Abgründe

Die Schattenseiten des Systems Kapitalismus, wie das zunehmende Ungleichgewicht der Güterverteilung und die ökologischen Folgen der rasenden Konsumgesellschaft, bleiben in der Ausstellung eher hintergründig. Wenn der Titel mit Begriffen wie „Turbo“ wirbt und ein Posterexponat auf den Postern zur Ausstellung (uuuh, meta!) zeigt, bei der eine erdförmige Zitrone ausgepresst wird, dann erweckt das eine Erwartungshaltung an kritischer Auseinandersetzung und Konfrontation mit den Aporien eines Systems, hinter dem die Ausstellung dann leider nach unserem Eindruck zurück blieb. Ökologische Probleme an der Flusslandschaft zeigen sich als behebbar durch Renaturierung. Endgültig verlorene Artenvielfalt und irreparable Beschädigungen der Natur, welche die Zivilisation gefährden, bleiben weitgehend unthematisiert. Am ehesten leistet ein figürlicher Aufbau in der Mitte der Ausstellung einen polyvalenten Lehrcharakter. Sie ist das größte und zugleich spektakulärste Exponat, die Installation mit dem Titel „Give Us, Dear!“ der Künstler Matthias Böhler und Christian Orendt. 500 kleine „Plagegeister“, die Arbeiter darstellen, kommen und gehen durch die Museumswand, im Diorama wird dabei eine urzeitliche Kreatur von aus einer künstlicher Materie geformten Männlein an allen erdenklichen Stellen seines toten (oder nur schlafenden?) Körpers ausgebeutet.
Die soziale Dimension der Abgründe des Systems transportiert sich in Form einiger Fotografien von Städten, welche Klassenunterschiede schon in der Stadtarchitektur sichtbar werden lassen. Doch etablieren sie als Luftbild in ihrer Fokalisierung eher eine emotionale Distanz zur Rezipient*in und passen sich in die beinahe brutale Nüchternheit der Ausstellung ein. Des weiteren eine Dokumentation über die Folgen von Raubbauproduktion in Kambodscha.
Natürlich muss über eine würde- und sinnvolle fotografische Darstellung von menschlichem Elend immer kritisch abgewogen werden. Aber hier ist es die Aufgabe der Kunst, Wege zu finden, den Eindruck zu transportieren, welcher in der Werbung der Ausstellung versprochen wurde.

Fazit

Insgesamt wirkte die Ausstellung mehr wie ein begehbarer Enzyklopädie-Artikel.

Man sieht viel verschenktes Potential. Es ist wie diese Art von Hausarbeit, in der mit Fleiß eine solide Auflistung der fürs Bestehen notwendigen Sachpunkte geliefert wird. Man hat dennoch nur einen schwachen Eindruck, eine neue Perspektive zum Sachverhalt geliefert zu bekommen. Dem Titel „Wir Kapitalisten“ wird die Darbietung leider lediglich durch das Smartphone-Spiel gerecht. Man verhebt sich am Begriff und Anspruch. „Eine visuelle Einführung in die Theorie des Kapitalismus“ würde unserer Meinung nach besser passen. Als solche leistet die Ausstellung einen schönen Einblick in die grundlegenden Zusammenhänge. Perspektiven in die Zukunft wagt die Ausstellung kaum, weder positive noch negative. Eine einzige Infotafel spricht die noch diskutierten Alternativen und Herausforderungen für die Zukunft kurz an.
Man fragt sich, ob die durchgehende informative Sachlichkeit des Ausstellungskonzeptes eventuell programmatisch ist. Soll der Kapitalismus als letztes verbleibendes Metanarrativ, welches es nicht mehr nötig hat, sich als solches zu präsentieren, hier bewusst mit dem Gefühl des Gleichmuts und der reinen Information verkörpert werden? Soll sich der algorithmische Charakter der Verwertungslogik im Aufbau der Ausstellung bewusst spiegeln? Man hat das Gefühl dann aber auch eventuell überzuinterpretieren und sogleich das Bedürfnis, Informationen zum Ausstellungskonzept einzusehen. „Aus einer kulturhistorischen Perspektive betrachtet die Ausstellung die grundlegenden Eigenschaften des Kapitalismus“, steht es dort. Das mag der nicht chronologisch, aber dennoch gegliederten Ausstellung gelingen. Weiter heißt es in der Mitteilung: „Die „DNA des Kapitalismus“ ist in einem übertragenen Sinne längst Teil unserer eigenen DNA geworden. Die Ausstellung stellt Fragen: Wie formt der Kapitalismus die Identität und Geschichte des einzelnen Menschen, zum Beispiel hinsichtlich Individualität, Zeitempfinden und materiellem Eigentum? Und kann –oder will –die Gesellschaft etwas ändern?“ Eben hier sehen wir die Schwäche der Ausstellung zwar auch informativ auf jene lebensweltlichen Bedingungen einzugehen, aber wenig auch emotional erleb- und nachvollziehbar werden zu lassen.

Warum es sich dennoch lohnt

An den vorhandenen Exponaten selbst scheitert diese Ausstellung nicht, viele sind ein Erlebnis oder bieten unerwartete Perspektiven. So kann man sich darüber informieren lassen, dass bereits 1927 mit der „Frankfurter Küche“ Vorschläge ausgearbeitet und in Filmen als Fortschritt gepriesen wurden, wie die privaten Räume der Menschen zu optimierten Funktionsräumen werden können – durch weniger Platzverbrauch und kürzere Laufwege; wohnlich war dies jedoch nicht mehr. Auch der Kurzfilm „Narciso“ von Ali Assaf (12:50min) und eine von einem Mönch produzierte Kurzreportage über Landraub und Zuckerrübenanbau in Kambodscha sind jede Minute wert.

Die bereits angesprochene Plastik „Give Us, Dear!“ lädt definitiv zur längeren kontemplativen Entdeckungsreise ein. Allein mit der Studie der Organisation und Skrupellosigkeit des gezeigten Vorgangs kann man eine halbe Stunde verbringen und entdeckt noch immer Details – oder muss man noch zu einem dringenden Meeting?

Gesellschaft

Nichts passt zu der offiziellen Version

Ein umfassendes Audio-Feature über den Tod von Oury Jalloh und Rassismus innerhalb von Polizei und Justiz

Ein Bericht von Ronny Bittner

28.07.2020

Fassungslosigkeit. Ohnmacht. Verwunderung. Wut. Schmerz. Der Podcast, den ich für diesen Text nochmals gehört habe, löst all diese Gefühle in mir aus. Ein Blick darauf, was Menschen Menschen antun, wie anfällig die deutsche Justiz ist – aber auch, dass es Menschen gibt, die von Instanz zu Instanz gehen und für die Aufklärung eines Falles sorgen wollen, der sich vor 15 Jahren ereignete und bis heute als offiziell ungeklärt gilt. Margot Overath begleitet den Fall seit elf Jahren und hat ein dichtes, sachliches Audio-Feature geschrieben.

Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 wird der aus Sierra Leone stammende Oury Jalloh (36 Jahre) im angetrunkenen Zustand von Streifenpolizisten mitgenommen, er habe Frauen der Stadtreinigung belästigt. Auf der Polizeiwache Dessau wird er in die Zelle 5 gebracht, wo man ihn durchsucht, ihn an Händen und Füßen fesselt und auf einer feuerfesten Matratze fixiert. Gegen 12 Uhr Mittag geht ein Notruf der Polizeiwache ein, dass im Keller des Gebäudes ein Feuer ausgebrochen ist. Polizeipräsidium und Landeskriminalamt werden informiert, anschließend das Innenministerium.

Die Autorin legt sich fest: Es kann nicht so gewesen sein.

In der ersten Folge der Feature-Serie „Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ wird zunächst der Tathergang geschildert. War war wann wo wie und hatte welche Aufgabe? Was klingt nicht schlüssig? Margot Overath legt sich in diesem Feature bereits zu Beginn darauf fest, welche Schlüsse sie für sich aus allen gesammelten Schilderungen, Belegen und Indizien gezogen hat und benennt dies sehr deutlich:  „In diesem Moment, kaum 50 Minuten nach der Entdeckung Oury Jallohs verkohlter Leiche in der Dessauer Polizeizelle, müssen sich die Verantwortlichen festgelegt haben: Der Mann in der Zelle soll sich selbst angezündet haben. Sie werden an dieser Version eisern festhalten, über viele Jahre und Gerichtsverhandlungen hinweg, gegen jede Logik und gegen erdrückende Indizien. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Entsprechend werden vom ersten Augenblick an die Ermittlungen geführt.“

 

"Dass deutsche Polizeibeamte einen wehrlosen Menschen töten, gar einen Mann in ihrem Gewahrsam in Flammen setzen – der Gedanke galt über ein Jahrzehnt schlicht als Tabu."

Der Radiologe Boris Bodelle von der Universitätsklinik Frankfurt am Main hat im Auftrag der Gedenkinitiative Oury Jalloh ein Gutachten auf Basis damaliger Röntgenbilder angefertigt, aus dem am 28. Oktober 2019 bekannt wurde, dass Jallohs Nasenbein, das Schädeldach, die Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen waren – Jalloh müsse „schwer misshandelt“ worden sein. Bei der Einlieferung in die Polizeiwache attestierte ein Polizeiarzt „keinerlei Verletzungen“, die Verletzungen müssen also auf der Wache selbst geschehen sein. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgt jedoch nicht, der Fall sei rechtswirksam abgeschlossen. Sollte durch den Brand eine Straftat vertuscht werden?

"Das finale Brandbild kann nicht ohne Brandbeschleuniger entstanden sein."

Zweieinhalb Stunden und keine Sekunde zu viel

Die Feature-Serie ist in fünf Teile aufgeteilt, die die Titel „Die Leiche ist schuld“, „Auf den Bauch gelegt“, „Der Bürger schlief tief und fest“, „Opfer minderer Bedeutung“ und „Das höhere Gut“ tragen. Neben den Schilderungen des 7. Januars 2005 kommen dutzende Freund*innen Oury Jallohs, Zeug*innen, Beamt*innen, Prozessbeobachter*innen und Expert*innen zu Wort, außerdem liegen viele Mitteilungen im O-Ton vor und fließen in das Feature ein. Durch die frühe Festlegung wird der Weg in ein anderes Narrativ zwar verstellt, aber durch die Schilderungen aller Mitwirkenden bleibt die über allem schwebende Frage stets drückend präsent: angenommen die Berichte und Aussagen der Polizei seien wahr, wie erklären sich dann diese Widersprüche? In Folge zwei werden neuere Erkenntnisse und Widersprüche offen dargestellt, Ermittlungen eines Oberstaatsanwalts werden ausgebremst und anonym wird von brutalen Polizeitraditionen berichtet.

Außerdem geht es in diesem Feature um weitere Todesfälle im Umfeld der Polizeiwache Dessau, Namen aus dem geschilderten Fall Jallohs spielen auch hier eine Rolle – ebenso gibt es Widersprüche und Unklarheiten in den besprochenen Fällen. Diese Rechercheergebnisse werden im dritten Teil berichtet, während im vierten Teil die Frage nach Rechtsradikalismus und Rassismus innerhalb der Polizei behandelt wird – nicht nur in Dessau. Abschließend werden die letzten aktuellen Ereignisse behandelt, bei denen die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen-Anhalts keine Ermittlungen gegen einen Staatsapparat fordert, sondern das Verfahren einstellen möchte – die Selbstmordthese wird nach 15 Jahren wiederbelebt und soll einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehen. Eine Aufklärung der tatsächlichen Ereignisse ist nicht in Sicht.

"Im Landtag wird die Frage laut, was für den Rechtsstaat schlimmer sei - Dass Polizisten einen Menschen verbrennen , oder dass es herauskommt?"

Obwohl sich Margot Overath bereits zu Beginn auf ihren Standpunkt festlegt, dass offizielle Stellungnahmen zum Tod von Oury Jalloh nicht stimmen können, ist dies zwar die Vorwegnahme einer Schlussfolgerung, jedoch gelingt es, immer wieder Zwischenfragen aufzuwerfen und in Gesprächen zu beantworten – oder O-Töne für sich sprechen zu lassen. Die Suche nach Wahrheit und Hoffnung auf Aufklärung und Anklage der Schuldigen durchzieht diesen Podcast mit zunehmender Wucht, die sich von Erkenntnis zu Erkenntnis steigert – dabei ist die Machart des Features geradezu sachlich und unaufgeregt. Overath zitiert Personen und unzählige Quellen, auf die sie sich berufen kann und das merkt man dem Feature an, das durch Verknüpfung aller Elemente einen eigenen Sog entwickelt.  

„Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau“ ist eine Feature-Serie des WDR, die vom 17. Mai bis 14. Juni in fünf Episoden auf WDR 5 gesendet worden ist. Margot Overath hat den Fall Oury Jalloh bereits 2010 in dem Feature „Verbrannt in Polizeizelle Nummer 5. Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in Dessau“ und 2014 im Feature „Oury Jalloh – die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalls“ ausführlich aufbereitet und begleitet die Geschichte des Falles bis heute. Auch über Mouctar Bah, ein Freund Oury Jallohs, schrieb sie 2011 ein Feature für den DLF mit dem Titel „Ich kann das nicht einen Tag vergessen. Das neue Leben des Mouctar Bah“. Overath arbeitet seit 1984 als Feature-Autorin im Hörfunk und wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet.

Das besprochene Audio-Feature ist auf der Seite des WDR  oder der Audiothek (Website oder in der App) anzuhören, außerdem ist es auf Apple Podcasts, Spotify oder Pocket Casts.

Über den Autor

Ronny Bittner hört wann immer er unterwegs ist Hörbücher und Podcasts.        Er ist sehr dankbar für die Erfindung des Noise Cancelling.   

Foto: Johann LIBOT (unsplash)

Gesellschaft

Unantastbar und über alle Kritik erhaben?

Der Versuch einer Erklärung, wieso Polizeikritik in diesem Land so schwer zu sein scheint.

Ein Kommentar von Milan Nellen

21.07.2020

Die aus den USA stammende antirassistische Protestbewegung „Black Lives Matter“ (BLM) ) hat auch in der BRD viele wichtige Debatten angestoßen oder, wo es diese schon gab, sie wieder in den Blick der Mehrheitsöffentlichkeit gebracht. Die Bewegung, die sich ursprünglich aus Protesten gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt und durch Angehörige der Polizei begangene rassistische Morde entwickelt hat, hat so zum Beispiel dazu geführt, die durch das Aufstellen von Statuen und das Benennen von Straßen und Plätzen geprägte offizielle Geschichtspolitik kritisch zu hinterfragen und Rassismus in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu  kritisieren. Trotz dieser Ausweitung der Proteste und des Diskurses ist nach wie vor in den USA wie auch in der BRD die in diesem Zusammenhang am breitesten diskutierte Frage diejenige nach Rassismus innerhalb der Polizei, wobei hierzulande die Kritiker*innen der Polizei schon traditionell einen schweren Stand haben, lernen doch schon Kinder den Spruch „Die Polizei – dein Freund und Helfer“. So sah sich die Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, heftigster Kritik auch aus der eigenen Partei ausgesetzt, als sie öffentlich von latentem Rassismus innerhalb der Sicherheitskräfte sprach und sah sich gezwungen, ihre Äußerungen zu relativieren. Ihrer neuen Aussage nach handle es sich lediglich um Einzelfälle. Wobei „Einzelfälle“ ein Wort ist, das in der Berichterstattung über Rassismus nur allzu oft vorkommt. Ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer es sein kann, in diesem Land Kritik zu äußern, liefert die jüngst von Innen- und Heimatminister Horst Seehofer verhinderte Studie, die hätte untersuchen sollen, wie weit das sogenannte racial profiling in den deutschen Sicherheitsorganen noch verbreitet ist. Racial profiling bezeichnet die (verbotene) polizeiliche Praxis, Menschen mit bestimmten ethnischen Merkmalen öfter zu kontrollieren als andere und läuft letztlich darauf hinaus, Menschen alleine wegen ihres Aussehens einer Straftat zu verdächtigen. Die Begründung des Innenministers für die Ablehnung der Studie war, dass racial profiling ohnehin verboten sei und daher auch nicht stattfände – eine Argumentation, die eigentlich polizeiliche Arbeit überflüssig machen würde, denn wenn alles, was verboten ist, nicht passieren würde, eben weil es verboten ist, hätte die Polizei ja recht wenig zu tun.
Das alles bekommt einen noch bittereren Beigeschmack vor dem Hintergrund der aktuellen Erkenntnisse um mutmaßliche rechte Netzwerke innerhalb der  Polizei und der Bundeswehr, die auch für Drohungen gegenüber Politiker*innen der Linkspartei verantwortlich sein sollen.

Nun stellt sich die Frage, wieso Kritik an der Polizei in diesem Land so schwer ist, obwohl Missstände doch offen zu sehen sind. Wieso muss die Vorsitzende der SPD von Einzelfällen sprechen, obwohl sich diese Einzelfälle häufen? Wieso kann der Heimat- und Innenminister einfach behaupten, racial profiling fände nicht statt, obwohl wir alle es jeden Tag im Hofgarten mitansehen oder je nachdem sogar erleiden müssen, wenn wir uns zum Beispiel nur einen Nachmittag dort hinsetzen?
Um zu versuchen, diese Frage zu beantworten, ist es meiner Ansicht nach nötig, sich einmal die politische Ausrichtung der öffentlichen Meinung in der BRD zu vergegenwärtigen. Diese Ausrichtung ist stark von Konservativismus geprägt. Die größte Partei im Land, die CDU/CSU, ist sowohl konservativ als auch mit dem Springer-Konzern, dem größten Medienunternehmen des Landes, einem politisch ebenfalls konservativem Verlag, assoziiert, sodass nur in Ausnahmefällen einmal nicht oder zumindest nicht vollständig eine konservative Partei an der Regierung (oder auch der vierten Macht im Staat) beteiligt ist. Der Konservativismus möchte das (in den Augen seiner Vertreter*innen) Bewährte erhalten. Er steht also für ökonomische und gesellschaftliche  Kontinuität, für den Erhalt der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung in ihren grundlegendenden Aspekten. Die Polizei nun ist von ihrem Aufgabenbereich her so etwas wie die praktische Anwendung des Konservativismus auf behördlicher Ebene. Indem die Polizei über die Einhaltung der Gesetze, also der etablierten und real gültigen gesellschaftlichen Regeln, wacht und sie unter Anwendung ihres Gewaltmonopols durchsetzt, setzt sie praktisch ins Werk, was insbesondere konservative Politiker*innen auf der Ebene der Legislative fordern und beschließen und was überwiegend konservative Medien und Bürger*innen im zivilgesellschaftlichen Dialog vertreten. Für Konservative ist es somit politisch heikel und nur schwer ohne Schädigung des Ansehens, des  eigenen politischen Standpunktes möglich, die Polizei als Institution zu kritisieren, da sie sie somit auch in ihrer Funktion als Garantin und Verkörperung des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes kritisieren und somit beschädigen würden. Für nicht konservative Menschen ist es ohnehin schon nicht einfach, sich in einem derartigen Meinungsklima Gehör zu verschaffen. Polizeikritik ist, wie am Beispiel Esken gezeigt, hier nochmal schwieriger, weil sie in einem solchen Meinungsklima sofort auf mannigfaltige Gegenstimmen stößt, die diese Kritik zugleich als Kritik am politischen Konservatismus und den gesellschaftlichen Regeln, die dieser erhalten möchte, verstehen. Deshalb muss die Debatte über die Polizei mutiger werden.

Wenn ein Horst Seehofer oder auch ein Rainer Wendt fordern, man dürfe nicht die ganze Polizei unter Generalverdacht stellen, dann muss die Frage erlaubt sein: Wieso eigentlich nicht?

Über den Autor

Jederzeit bereit, sich über politische Ereignisse aufzuregen und zu diskutieren, meist nur durch Einsatz von Pizza (Funghi oder Thunfisch) davon abzubringen. Schnell wütend über soziale Ungleichheit und Doppelstandards. Ansonsten sehr bemüht, zu allen freundlich zu sein.