Freitag, April 19, 2024
Allgemein Kultur

Über den Einfluss des Islam

Warum Koranverteilungen nicht das Problem sind

Gastartikel von Hendrik Erz

Bau der Zentralmoschee in Köln. Foto: Thorsten Hansen
Bau der Zentralmoschee in Köln. Foto: Thorsten Hansen

Vor ein paar Wochen haben die Tagesthemen eine Grafik aus dem ARD-DeutschlandTREND von infratest dimap (Oktober 2016) in den sozialen Netzwerken verbreitet, in welchem unter dem Titel „Sorgen wegen des Flüchtlingszugangs“ drei Aussagen mit ihrer Zustimmungsrate dargestellt wurden. Am höchsten wurde dabei die Aussage „der Einfluss des Islam wird zu stark“ mit 56 Prozent bejaht.
Schauen wir uns die Datengrundlage an, wird schnell klar, woher der Wind weht. Aus der Grundgesamtheit (alle Wahlberechtigten über 18 Jahren) wurde eine Stichprobe anhand der Telefonnummern gezogen, eine Auswahlmethode, die mehr und mehr die Generation der unter-35-jährigen systematisch benachteiligt, da von dieser Generation kaum noch jemand ein Festnetz-Telefon hat. Die Relation der Telefonnummern war dann auch 70 Prozent Festnetzanschlüsse zu 30 Prozent Mobilfunkanschlüsse. Das heißt, die hohe Zustimmungsrate zur Sorge vor zu großem Einfluss des Islam generiert sich aus der Befragung vornehmlich konservativ eingestellter Personen, welche — und das ist mittlerweile nun kein Geheimnis mehr — natürlich eher Sorge vor dem Islam haben.
Mal ganz davon abgesehen, dass ich generell den Begriff „Sorge“ unsäglich finde, ist es immer noch faszinierend, wie sich der Mythos vom Einfluss des Islam hält — insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass die muslimische Gemeinde in Deutschland weder krass auffällig noch in irgendeiner Weise medial präsent ist.
Der Disclaimer gleich vorneweg: Weder bin ich selbst Muslim noch habe ich muslimische Freunde, somit ist das hier ein bisschen das Sprechen über Betroffene ohne genau diese zu Wort kommen zu lassen (ich freue mich aber natürlich über jede Anmerkung und Meinung zur Komplettierung dieses Bildes). Andererseits hat dieser Ansatz natürlich den Vorteil, dass ich mich in einer ähnlichen Position befinde wie viele ebenjener, die Angst vor dem Islam haben — nur, dass ich mich intensiv mit dem Islam auseinander gesetzt habe, was der Sache hier vielleicht nützlich ist.
Spricht man von „Einfluss“, meint man immer die Möglichkeit, den eigenen Willen erfolgreich bei Herrschaftsentscheidungen anzumelden und die eigenen Interessen gegenüber anderen durchzusetzen. Für Einfluss benötigt wird — je nach Theorie — zumindest eine interne Einheit und die Hoheit über die öffentlichen Diskurse Und keines davon lässt sich in einem Ausmaß mit dem Islam assoziieren, dass man wirklich von wachsendem Einfluss sprechen könnte.

Schlachtfeld Syrien
Das offenkundigste Hindernis für einen starken Einfluss des Islam auf der Weltbühne ist sehr offen sichtbar derzeit auf dem größten Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts: Syrien. Syrien ist ein Paradigma der Uneinigkeit und Zerstrittenheit innerhalb des Islam. al-Nusra-Front gegen den Islamischen Staat, Hezbollah gegen Islamischen Staat, al-Assad gegen die al-Nusra-Front und den Islamischen Staat, die Freie Syrische Armee gegen al-Nusra-Front, Islamischen Staat, al-Assad und Hezbollah, weitere Splittergruppierungen gegen noch weitere Splittergruppierungen.
Auch die vielen (insbesondere neorealistischen) Stimmen aus den Politikwissenschaften, die meinen, in Syrien einen modernen Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran zu sehen, zeigen mit dieser Aussage viel eher mangelndes Wissen um die Komplexität des Nahen Ostens als Verständnis. Denn: Können wir wirklich von einem Stellvertreterkrieg reden, wenn im Prinzip nur die Hezbollah durch Iran und ein paar sunnitische Gruppen durch Saudi-Arabien unterstützt werden, der Großteil aber vergleichsweise autonom von nahöstlichen Staaten sowie mit Unterstützung von USA und EU dagegen hält? Es sind zu viele Einflüsse in Syrien im Spiel, als dass ersichtlich wäre, wer dort die Oberhand hat.
Auch ein Ammenmärchen ist die vielfach beschworene „Macht“ Saudi-Arabiens auf Mujahideen oder Jihadisten. Klar, die Saudis haben seit der letzten Neu-Gründung ihres Königreiches den sogenannten Wahhabismus gefördert, der jedoch eigentlich eine Spielart des Salafismus ist (kein Mensch würde sich selbst Wahhabist nennen) und insbesondere innerhalb Saudi-Arabiens eine sehr puritanische Form angenommen hat. Die meisten ulema (Gelehrten) in Saudi-Arabien haben mit der aktuellen Politik in etwa so viel zu tun, wie Osama bin Laden ein Menschenfreund war.
„Aber die Saudis sind doch Salafisten und Islamischer Staat und Taliban auch!“ werden mir jetzt einige Leser entgegen zu schleudern wünschen. Doch auch hier muss ich enttäuschen. Denn Saudi-Arabien und die verschiedenen Spielarten des transnationalen Terrorismus können sich ungefähr so gut leiden wie der Durchschnittsmensch inkontinente Tauben im Baum über ihm. Spätestens seit der pro-US-Fatwa von Abd al-Aziz ibn Baz 1990, mit der Saudi-Arabien es den USA gestattete, im Rahmen des ersten Golfkrieges Soldaten dort zu stationieren, sind die Beziehungen zwischen den vormals treuen Kämpfern und Saudi-Arabien zerrüttet. Seither wurde auch Saudi-Arabien, das mittlerweile relativ flächendeckend als taghoot, also als usurpatischer Staat, betrachtet wird, immer wieder Ziel von terroristischen Anschlägen, die aber natürlich gar nicht gut in das Bild von Saudi-Arabien innerhalb westlicher Diskurse passen. Was uns zum nächsten Punkt führt.

Diskurse, oder: Die Wahrheit wird ausdiskutiert
Diskurse sind das vermutlich schwierigste Thema derzeit, denn sie sind einerseits enorm schwierig zu greifen, haben ein beinahe amöbenhaftes Äußeres und andererseits können sich Diskurse sehr gut selbst schützen. Um zu verstehen, worauf ich hinaus will, ein momentan sehr leidlicher Diskurs als Beispiel.
Auf der einen Seite steht eine Gruppe Menschen, die die Vereinigten Staaten fast bedingungslos unterstützen und in Vladimir Putin gefühlt „das Böse“ sehen. Auf der anderen Seite steht ebenfalls eine Gruppe Menschen, die Vladimir Putin fast bedingungslos unterstützen und in den Vereinigten Staaten gefühlt „das Böse“ sehen. Wer von beiden hat nun Recht? Beide? Oder keiner?
Genau das ist das Problem mit Diskursen: Sie verbreiten eine scheinbar angenommene Wahrheit, die als, wie es George Herbert Mead formulierte, „subjektive Realitäten“ für diejenigen, welche in ihrem Einflussbereich stehen, vollkommen wahr sind. Mit meiner persönlichen Meinung, dass sowohl die USA als auch Russland genug Schaden in der Welt anrichten, beide jetzt aber nicht Satan himself sind, stehe ich ebenfalls in einer dieser subjektiven Realitäten. Meine Realität sagt mir „es gibt weder absolut Gutes noch absolut Böses“, genauso wie die anderen Realitäten unbestreitbar behaupten können, dass die jeweils eine Seite der aktuellen Weltordnung „böse“ ist. Gut sichtbar wird dies an pejorativen Begriffen wie „Putinversteher“ oder „Obamaversteher“.
Diese Diskurse sind insbesondere momentan wie ein Spiel mit dem Feuer. Eine falsche Aussage kann einen mühsam aufgebauten Diskurs plötzlich komplett gegen einen wenden. Nicht anders geht es dem Islam. Wer hat denn derzeit den größten Einfluss auf öffentliche Diskurse? Zum einen die seit einigen Monaten regelmäßig auf die Straße gehenden „Pegidisten“ und Neurechten, die mit ihren Ansichten regelmäßig seitenweise Zeitung füllen, da sich die Gesellschaft genötigt sieht, sich mit ihren Äußerungen auseinander zu setzen. Die diskursive Macht ebendieser Gruppe lässt sich auch daran sehen, dass immer mehr politische Diskurse Begriffserfindungen von PEGIDA und AfD & co. nutzen. Man schaue sich nur das Gepoltere von Söder und Seehofer an und weiß, wo die AfD gut koalieren kann.
Der andere starke Diskurs in der deutschen Öffentlichkeit ist jener, der den Begriff der „Neurechten“ geprägt hat: Die Medienlandschaft. Ich bin weit davon entfernt, „Lügenpresse“ zu rufen, keine Sorge. Nichtsdestotrotz lassen sich gewisse Themen ausmachen, die dafür sprechen, dass im Journalismus viele politisch sehr interessierte, aber natürlich auch mit einer bestimmten Ideologie versehene Personen unterwegs sind. Allerdings ist das jetzt auch keine große Neuigkeit; dass Medien genau wie politische Systeme, die Wirtschaft oder soziale Klassen sich selbst homogenisieren, d.h. Personen mit einem anderen Verhaltensmuster nicht hinein gelangen können, ist eine sozialwissenschaftliche Binsenweisheit.
Doch beide Diskurse sind stark genug, den muslimischen Diskurs völlig zu übertönen. Der Zentralrat deutscher Muslime und Moscheeverbände können schreien, so laut sie wollen — gegen die geballte Kraft von PEGIDA, AfD und hegemonialer Ideologie kommen sie nicht an.

„Lies!“ oder „Lügen!“?
Ein wunderbares Beispiel dafür, wie islamische Diskurse innerhalb der deutschen Gesellschaft versagen, ist die salafistisch inspirierte Kampagne „Lies!“, welche mit Koranverteilungen in deutschen Städten seit Jahren immer wieder Aufmerksamkeit generiert. Allerdings — und das ist der Clou dabei — so gut wie gar keine. Lediglich in der Lokalpresse wird noch über die „Salafistenkorane“ gesprochen, in welcher sie grundsätzlich verdammt werden.
Auch in der letzten Ausgabe von Friedrichs Wilhelm mokierte sich Yasemin Yașar über den vermeintlich propagandistischen Erfolg der Koranverteilungen. Doch hier gilt es, verschiedene Entwicklungen auseinander zu halten. Zum einen ist der Koran der Salafisten tatsächlich brauchbar und in keinster Weise der propagandistische Masterplan zur „Islamisierung des Abendlandes“ (die Koranübersetzung war lange Zeit die vom deutschen Zentralrat der Muslime abgesegnete Standardübersetzung) sondern kann auch nur dann propagandistisch genutzt werden, wenn die betreffenden Personen bereits überlegen, sich dem Islam anzuschließen. Und selbst dann ist die Chance immer noch gegeben, dass die jeweiligen Personen nicht in die radikalen Moscheen gehen, sondern ihre Konversion in einer der zahlreichen moderaten Moscheen bei moderaten Imamen vollziehen.
Die zweite Entwicklung, die es zu berücksichtigen gilt, ist die oben bereits angesprochene Diversität. So bedeutet die Aussage „Ich bin Salafist“ zunächst nur, dass man versucht, das eigene Leben an dem der Altvorderen (also den Begleitern des Propheten Muhammad, al-salaf al-salih) auszurichten. Aufgrund der muslimisch korrekten Vitae dieser Altvorderen bietet sich für viele Salafisten eine puritanische Lebensweise an. Die tatsächlich missionarische (da‘wa) bzw. gar radikale Gruppierung innerhalb des Salafismus, wie sie beispielsweise von Pierre Vogel verkörpert wird, entsteht aus anderen Gründen, die derzeit leider noch wenig erforscht sind — eben weil der öffentliche Diskurs derzeit Salafismus mit Terrorismus gleichsetzt, was eine enorme Verkürzung der Komplexität bedeutet.

Der Islam hat in Deutschland einiges zu bieten — nur keinen Einfluss
Was lernen wir also daraus? Die Tatsache, dass dem Islam ein derart hoher Einfluss eingeräumt wird, resultiert aus einer subjektiven Realität all jener, die den Islam fürchten, und das aus den verschiedensten Gründen heraus. Der stärkste Grund dürften die zahlreichen islamistisch motivierten Anschläge in Europa sein. Doch dadurch Angst vor dem Islam zu haben ist schlicht ein Erfolg des radikalen Neofundamentalismus (Olivier Roy). Dessen Vertreter planen, einen Islamischen Staat zu errichten. Denn auch, wenn der Islamische Staat behauptet, er hätte einen geschaffen, lehnen diesen selbst die radikalsten Islamisten ab. Einerseits aufgrund der Tatsache, dass nach mehreren Lesarten ein Islamischer Staat erst nach einer generellen Islamisierung der Gesellschaft möglich ist, andererseits, weil ein „echter“ Islamischer Staat nicht mit der aktuellen hegemonischen Weltordnung möglich ist. Die zahlreichen gescheiterten Versuche von Panarabismus bis hin zum Scheitern islamistischer Organisationen, die das ganze ohne staatlichen Überbau versucht haben, belegen, wie stark die westliche Sicht auf die Welt auch in oberflächlich durch die Shari‘ah geleiteten Staaten ist. Selbst der Islamische Staat bedient sich der westlichen Bürokratie, um sein Territorium zu verwalten — und die ist völlig ungeeignet, eine „Souveränität Gottes“ (hakimiyyah) konsistent durch zu setzen.
Folgerichtig sind diese Neofundamentalisten dazu übergegangen, das gesamte Weltsystem zu stören und eine Gegenhegemonie aufzubauen. Die Anschläge in Europa haben bislang jedes Mal genau erreicht, was sie sollten: Die Muslime von den Nicht-Muslimen zu scheiden. Denn jedes Mal, wenn ein Anschlag Erfolg hat, vertieft sich der Riss durch die Gesellschaft und bringt mehr und mehr desillusionierte Muslime auf radikale Pfade, weil sie mit normalen Methoden keinen Erfolg in unserer Gesellschaft mehr haben. Und wenn die aktuelle Hegemonie erst einmal wankt — und momentan sieht es immer mehr danach aus — könnte der radikale Fundamentalismus gewonnen haben, wenn er es danach schafft, sich selbst als hegemoniale Macht darzustellen.
Sorge vor einem wachsenden Einfluss des Islam zu haben dient also nicht der Aufrechterhaltung des „christlichen Abendlandes“, wie es gerne beschworen wird, sondern nur dem Erfolg des Islamismus. Wenn wir keinen Islamischen Staat in Europa haben wollten, müssten wir den Islam unterstützen. Denn dann werden sich Muslime auch in die Hegemonie einfügen und das Staatensystem nicht hinterfragen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Back To Top