Editorial

Liebe Leser*innen und Leser*,

in dieser Ausgabe haben sich unsere Redakteur*innen von unterschiedlichen Ereignissen der letzten Woche inspirieren lassen. Selbstverständlich konnte der lang erhoffte Sieg über Trump nicht unkommentiert bleiben, weswegen Sam in klaren Worten erklärt, wie es sein kann, dass ihn überhaupt je vernünftige Menschen so unterstützen konnten, wie es sich in dieser elendig langen Wahl wieder einmal gezeigt hat. Helene und Tom haben anlässlich des umstrittenen Kinostarts des Films „Und morgen die ganze Welt“ ein Streitgespräch entwickelt, nachdem sie beide den Film gesehen haben und merkten, mit unterschiedlichen Meinungen das Kino verlassen zu haben. Außerdem könnt ihr Jans außerordentlich lange Analyse des „Schicksalstages“ der deutschen Geschichte, des 9. Novembers lesen und lernen, dass das Schicksal nicht viel mit den Ereignissen dieses Datums zu tun haben sollte. Milan währenddessen hat für uns einen Kommentar über Schwankungen öffentlicher Meinungen verfasst und festgestellt, wie schnell man bei den Nachrichten der letzten Jahre abstumpfen kann. Wer nach dieser Feststellung ein bisschen Optimismus nötig hat, wendet sich am besten Helenes Kommentar zu. Ein Plädoyer fürs Tanzen ist vielleicht genau das Richtige gegen das näher rückende Wintertief. Nicht zu vergessen ist selbstverständlich auch noch unser Gastartikel: Maren informiert euch über das Kulturticket und welche Vorteile sich daraus für uns Studierende ergeben.

 

Viel Spaß beim Lesen und bleibt gesund!

 

Melina Duncklenberg, Chefredakteurin

Inhalts-verzeichnis

Kultur

Ein Film – zwei Meinungen

Gesellschaft

Über die inneren Beweggründe,                                               hinter Trump zu stehen

Studium

Das Kulturreferat stellt euch das                                     Bonner Kulturticket vor

Gesellschaft

Ein Blick auf die Schwankungen der öffentlichen Meinung

Gesellschaft

Ein Plädoyer fürs Tanzen

Geschichte

Warum der 9. November kein Schicksalstag war

Zum Titelbild: Die Redaktion des Friedrichs Wilhelm ist außerordentlich erleichtert über das Ende einer fragwürdigen USRegierung. Die Assoziation mit einer Citrus-Frucht war noch die freundlichste Alternative. Quelle: Charles Deluvio @charlesdeluvio Unsplash.com

Quelle: Alamode Filmdistribution

Kultur

Zwischen Idealismus und Gewalt

"Und morgen die ganze Welt" - ein Film, der nicht nur wegen seines Namens polarisiert

Ein Streitgespräch zwischen Tom Schmidtgen und Helene Fuchshuber

Luisa (20), Jura-Studentin, zieht in einem linken Hausprojekt bei ihrer Freundin Batte ein. Schnell findet sie Anschluss bei Alfa und Lenor. Zusammen planen sie Aktionen gegen die neue Rechte. Für Alfa ist auch Gewalt ein legitimes Mittel. Luisa wird von den Ereignissen überrumpelt und muss sich entscheiden, wie weit sie gehen will. Der Film ist als deutscher Beitrag für den Oscar vorgeschlagen.

Über den Autor und die Autorin

Tom Schmidtgen und Helene Fuchshuber waren beide im Kino, im gleichen Film: „Und morgen die ganze Welt“. Aber während Tom den Film mochte, ist sich Helene gar nicht sicher, was sie von ihm hält. Einig sind sie sich jedenfalls in der Hinsicht: Sehenswert!
Falls ihr ihn auch gesehen habt, sie würden sie sich richtig über eure Meinungen dazu freuen, also schreibt gerne an fw@asta.uni-bonn.de.

Quelle: Charles Deluvio via Unsplash

Gesellschaft

Peter-Pan-Stellvertretersyndrom

Der Grund für ihre Treue

Ein Kommentar von Samuel F. Johanns

16.11.2020 - Ausgabe 66

Warum unterstützten intellektuelle Vertreter*innen der Republikanischen Partei einen Mann, dessen charakterliches und intellektuelles Profil schieren Fremdscham auslöst und eigentlich geeignet sein dürfte, dem Ansehen einer Institution nachhaltigen Schaden zuzufügen?

Der Grund ist wohl darin zu sehen, dass es eine unglaubliche intellektuelle Selbsterniedrigung bedeutet, aus politisch-strategischen Gründen ein Weltbild vorzugeben, dass doch schier allem widerspricht, dem man sich, nicht nur als akademisch geschulte Person, verpflichtet hat. Öffentlich bekennen zu müssen, dass man an eine 6000 Jahre alte Erde glaubt, in der ein homophober Gott mit den eigenen Händen Dinosaurier und Menschen Seite an Seite erschaffen hat, weil es notwendig ist, um die Stimmen kulturell zurückgebliebener Rednecks zu sichern, nur weil die politische Algebra es gebietet, entwürdigt einen Menschen. Die Lüge, die geschundene Selbstachtung, die Verletzung dessen, was dem Menschen seine ureigene Würde verleiht, Aufrichtigkeit und die Äußerung geistigen Profils.
Das politische System der USA, in dem man nicht effektiv als parteigeschulter Konservativer ausscheren kann, macht diese Kompromisse aber faktisch notwendig. Das ist das Dilemma, vor dem gebildete Republikaner*innen stehen, wenn sie antreten. In dieses Dilemma tritt nun eine Figur der Erlösung, ein Stellvertreter. Einer, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht und damit die Wucht und Schuld von den eigenen Schultern stemmt und auf sich nimmt. Trump. Hier ist ein Vorgang zu beobachten, den man in der Fachsprache Interpassivität nennt: Dieser Mann –  Trump – unterstützt nun die abjekten Haltungen, den Rassismus, die Bigotterie, das reduzierte Urteilsvermögen an meiner statt. Ich muss das alles nicht mehr selbst strategisch vertreten, ich muss nur noch aus strategischen Gründen den Mann unterstützten, der diese Aufgabe übernimmt. Und das kann ich doch letztlich besser mit meinem Gewissen vereinbaren.


Das ist der Grund, warum geistig ernstzunehmende Republikaner*innen Trump zwar nicht respektieren, aber wohlwollend dulden und der Grund, warum er tatsächlich als Erlöser in Erscheinung tritt.

Über die Autorin

Helene Fuchshuber würde sehr gerne mit allen Vorurteilen aufräumen, fürchtet aber, dass das vielleicht zu viel gewollt ist. Also: Schritt für Schritt, eins nach dem anderen, erstmal ihre eigenen. 

Quelle: Pexels

Studium

Das Bonner Kulturticket

wie war das noch?

Ein Gastartikel von Maren Pfeil

16.11.2020 - Ausgabe 66

Wir beim Kulturreferat bekommen häufig gesagt: Ja, vom Kulturticket habe ich schon gehört, aber wie genau funktioniert das nochmal? Damit das Kulturticket in seinen vollen Möglichkeiten ausgeschöpft werden kann, möchten wir die Chance nutzen, alles Wichtige noch einmal zusammenzufassen.

Das Kulturticket ist ein Projekt des Allgemeinen Studierenden Ausschusses (AStA) der Universität Bonn, das allen ordentlich eingeschriebenen Studierenden den Zugang zu kulturellen Angeboten und Einrichtungen in Bonn und Umgebung vergünstigt oder sogar kostenlos ermöglicht. Bonn zeichnet sich durch ein breites kulturelles Angebot aus, dessen Vielfältigkeit für viele Studierende aufgrund finanzieller Möglichkeiten gar nicht erlebbar scheint. Das Kulturticket hat das Ziel, diese Hemmschwelle abzubauen und allen Studierenden die Gelegenheit zu bieten, das Kulturangebot Bonns zu entdecken und kennenzulernen.

Bereits seit 2015 haben Studierende der Bonner Universität nach Vorlage ihres Studierendenausweises freien Eintritt in einige Bonner Museen, darunter das Deutsche Museum, das Ägyptische Museum, das Universitätsmuseum, das LVR-Landesmuseum und das Beethovenhaus. 2019 hat der AStA dann unter der Führung der Bonner Theatergemeinde ein gemeinsames Projekt mit den Theatern der Region ins Leben gerufen. Ein Pilotprojekt startete bereits im November 2018 mit den „DREI-GROSCHEN-WOCHEN“, wo Studierende einen ersten Eindruck von dem gewinnen konnten, was das Kulturticket alles bietet. Studierende der Uni Bonn hatten hier die Gelegenheit, für nur 3 € ausgewählte Vorstellungen in acht Institutionen der Bonner Theater- und Kulturlandschaft zu besuchen. Die Resonanz war durchweg positiv! Aufgrund dessen kam es im Wintersemester 2019/20 zu einer Kooperation zwischen dem Kulturticket und den Bonner Bühnen. Dabei ermöglichen die Theatergemeinde Bonn und der AStA den Studierenden der Uni Bonn einen kostengünstigen Zugang zu einer Vielzahl an Kulturveranstaltungen. Seitdem können sie für nur 3 € an der Abendkasse gegen Vorlage ihres Studierendenausweises Karten für Theater, Oper, Kabarett, Comedy und vieles mehr erwerben. An dem Projekt beteiligen sich aktuell die Brotfabrik Bühne Bonn, das Contra-Kreis-Theater, das Euro Theater Central, das Haus der Springmaus, das Junge Theater Bonn, das Pantheon, das Theater im Ballsaal, das Theater Bonn und das Theater Marabu.

Damit man sich einen Überblick über die aktuell verfügbaren Tickets verschaffen kann, wurde unter Federführung der Theatergemeinde Bonn die Kulturticket-App entwickelt. Hier gibt es aber nicht nur einen allgemeinen Überblick über das aktuell angebotene Programm und die jeweiligen Spielpläne, auch die Verfügbarkeit der Restkarten ist mittels der Kulturticket-App im Voraus abrufbar. Allerdings heißt es hier: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Nach dieser Devise erfolgt nämlich die Kartenvergabe an den Abendkassen der jeweiligen Institutionen. Aufgrund dessen lohnt sich immer ein Blick in die Kulturticket-App, die von den beteiligten Einrichtungen stets auf den aktuellen Stand gebracht wird. Sollte doch mal keine Karte mehr übrig sein, dann erhält man hier alle Informationen über die nächste Veranstaltung und alternative Angebote. Auf diese Weise steht einem spontanen Besuch in Oper, Theater oder Kabarett nichts mehr im Weg.

Allerdings erweist sich das Kulturticket und dessen Möglichkeiten bei vielen als noch immer unbekannt und aufgrund dessen ungenutzt. Umfragen bei Freund*innen und Kommiliton*innen zeigen, dass viele zwar eine vage Vorstellung vom Kulturticket und dessen Funktionsweise haben, aber noch keine kulturelle Veranstaltung zu den gebotenen Konditionen besucht haben. Trotzdem sind die Rückmeldungen der beteiligten Kooperationspartner durchweg positiv, ebenso wie bei den Studierenden, die das vielfältige Angebot des Kulturtickets bereits genutzt haben. Als besonders reizvoll, so das Feedback der Studierenden, ist die mit dem Kulturticket gegebene Möglichkeit, etwas Neues ausprobieren zu können, ohne dass dabei die finanzielle Hürde einer entsprechenden Erfahrung im Weg steht. Woher weiß ich zum Beispiel, dass mir eine Oper gefallen könnte? Für nur 3 € an der Abendkasse lässt sich das ganz einfach herausfinden und so wird der gemeinsame Abend mit Freunden zu einem spannenden und neuen Erlebnis.

Aber wir möchten noch mehr!

Wir arbeiten stetig an einer Ausweitung des Kulturtickets, indem wir mit verschiedenen Bonner Kulturinstitutionen Gespräche führen, um dafür zu sorgen, dass niemandem der Zugang zu Kultur verwehrt wird. So konnten wir 2019 beispielsweise das Literaturhaus Bonn für eine Kooperation mit dem Kulturticket gewinnen. Doch auch das musikalische Angebot soll in Zukunft erweitert werden, sodass für alle was Passendes dabei ist oder auch der eigene kulturelle Horizont sogar erweitert werden könnte.

Leider waren und sind weiterhin besonders die kulturellen Einrichtungen von der aktuellen Pandemie stark betroffen. Die Museums- sowie die Theaterlandschaften stehen vor einer großen Herausforderung, die von eingeschränkten Veranstaltungsmöglichkeiten bis hin zu temporären Schließungen reichen. Dieser Umstand hat sich natürlich auch auf die Nutzbarkeit des Kulturtickets ausgewirkt. Über die aktuellen Möglichkeiten und alternativen Angebote, wie kostenlose Previews für Studierende oder Führungen hinter den Kulissen der einzelnen Bühnen, halten wir euch aber natürlich – unter anderem auf unseren Social Media-Kanälen – auf dem Laufenden.

Hast du Fragen, Ideen, oder Anregungen? Dann schreib uns doch eine Mail unter kulturticket@asta.uni-bonn.de und folg uns gerne auf Facebook und bei Instagram.

Über den Gastartikel

Das Kulturreferat des AStA der Universität Bonn steht Studierenden, die Kulturarbeit leisten möchten, mit Rat und Tat zur Seite. Derzeit unterstützt das Kulturreferat bereits rund 70 Kulturgruppen und Initiativen, vertritt deren Angelegenheiten uns ist stets um einen regelmäßigen Kontakt mit allen Gruppen bemüht.
Zudem informiert und berät das Kulturreferat über aktuelle Angebote, Veranstaltungen und Planungen innerhalb der Hochschulkultur.

Karrikatur: Meinungsmacher von Jan Bachmann

Gesellschaft

Die öffentliche Meinung und ihre Schwankungen

Ein kritischer Blick auf die öffentliche Meinung seit der letzten Bundestagswahl: Werden wir alle immer rechter?

Ein Kommentar von Milan Nellen

16.11.2020. - Ausgabe 66

Die öffentliche Meinung ist die härteste Währung der Politik. Politiker*innen und Parteien aller Lager werben um die Gunst der Öffentlichkeit und hoffen, dass sich diese in der Zustimmung bei Wahlen niederschlägt. Letztlich ist es die öffentliche Meinung, die bestimmt, was politisch möglich ist, welche Meinungen als legitim und welche als illegitim betrachtet werden, also was sagbar ist und was nicht. Die öffentliche Meinung ist aber nicht statisch, sondern schwankt ständig und diese Schwankungen dessen, was öffentlich geäußert wird, beeinflussen wiederum den einzelnen Menschen darin, mit welchen Themen er sich befasst und welche Lösungen er für Probleme in Betracht zieht.

In den letzten Jahren gibt es in Deutschland einen starken Rechtsruck. Zum einen äußert der sich natürlich in der Zustimmung zur AfD als der größten rechtsradikalen Partei im Land, aber ich würde behaupten, dass er deutlich tiefer geht und eben nicht „nur“ darin besteht, dass jetzt mehr AfDler*innen Ämter in Stadt, Land und Bund innehaben, obwohl dies sicher auch mit allen anderen Aspekten der Meinungsverschiebung zusammenhängt, teilweise als Folge davon, teilweise aber auch als verstärkendes Element. Dass der Rechtsruck tiefer geht, das merke ich nicht zuletzt an meinen eigenen Meinungen und Gedanken zu aktuellen politischen Ereignissen. Ein Beispiel: Noch vor 4 Jahren war ich der Ansicht, dass es absolut inakzeptabel ist, wenn Geflüchtete, die hier traumatisiert ankommen, in Sammelunterkünften mit Mehrbettzimmern ohne Privatsphäre untergebracht werden. Ich sehe das natürlich immer noch ähnlich, aber angesichts der geänderten Realität bin ich gezwungen, mich schon über den simplen Umstand zu freuen, dass es Geflüchtete gibt, die es trotz aller Schikanen lebend nach Europa schaffen. Genauso habe ich mich vor noch wenigen Jahren darüber aufgeregt, wenn es in Remagen oder Dortmund rechte Demonstrationen gab. Heute, nach Pegida und angesichts der  ganzen sogenannten „Hygiene-Demos“, setzt eine gewisse Gewöhnung ein. Natürlich sind rechte Demonstrationen weiter ein Grund, sich zu ärgern und zu protestieren, aber eine einzelne rechte Demo scheint kein Ausnahmeereignis mehr zu sein. Ähnliche Beobachtungen habe ich auch bei vielen Menschen in meinem Umfeld gemacht. Wer zum Beispiel aus Dresden kommt, wird das Phänomen vielleicht besonders gut nachempfinden können.

Machen wir einmal einen Sprung zurück auf die Ebene der offiziellen Politik. Auch hier meine ich eine starke Tendenz nach rechts zu erkennen, die sich nicht darin erschöpft, dass es jetzt eine ganze Menge Abgeordnete der AfD gibt, sondern auch innerhalb der Regierung und der Oppositionsparteien eine starke Diskurs-Verschiebung sichbar wird. Man erinnere sich nur an den von Horst Seehofer geprägten Satz, der die Aufnahme von Geflüchteten als eine „Herrschaft des Unrechts“ denunziert hat. Man erinnere sich an die vor wenigen Jahren noch skandalöse Forderung danach, Geflüchtete in sogenannten Ankerzentren zu internieren, was harmlos wirkt verglichen mit der neuen Normalität von unmenschlichen Lagern wie dem inzwischen niedergebrannte Lager Moria auf Lesbos. Beispielhaft steht auch die Debatte um die Gesetzesänderungen zu Polizeiaufgaben, gegen die es massenhafte Proteste gab, die aber jetzt, wo sie flächendeckend in Kraft getreten sind, eine neue Normalität bilden, gegen die es kaum noch öffentliche Einwände gibt. Und um ein letztes Beispiel anzuführen: Wo sind denn nun die vielen Menschen, die gegen die Vorratsdatenspeicherung protestiert haben, jetzt angesichts der Tatsache, dass es Sicherheitsbehörden ermöglicht werden soll, Chatverläufe auszulesen und auszuwerten?

Wie aber kommen diese Veränderungen zustande? Der Versuch einer Erklärung: Ein bedeutender Aspekt dieser Meinungs- und Diskursverschiebungen sind meines Erachtens die Medien und das, was in ihnen diskutiert wird ebenso wie die Art und Weise, wie es diskutiert wird. Die Medien sind für die radikale Rechte trotz und wegen ihrer Kritik an ihnen ein wertvolles Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Dadurch, dass AfDler*innen politische Ämter ausüben, bekommen sie in den Medien eine öffentliche Bühne und ihre Ansichten erhalten mehr Gewicht. Dies ermöglicht ihnen nicht nur sich inhaltlich zu Themen öffentlich zu äußern, es erlaubt ihnen auch, mitzubestimmen, welche Themen überhaupt öffentlich diskutiert werden. Ein Mittel dabei ist der permanente Skandal und Tabubruch: Permanent werden die Grenzen des Sagbaren getestet und so durch Gewöhnung ausgedehnt. Wenn es „normal“ ist, dass Menschen muslimischen Glaubens im Bundestag als „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ herabgewürdigt werden, dann werden solche Hasstiraden auch in der allgemeinen Öffentlichkeit weniger kritisiert werden. Ein besonders wichtiger Aspekt dabei ist Framing. Die AfD und die ihr nahestehenden Kreise der sogenannten „Neuen Rechten“ bezeichnen alle von ihnen kritisierten politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Aspekte, die sie ablehnen, als links, darunter auch Positionen, die vor dem Aufstieg der AfD mit Recht als rechts oder konservativ galten. Indem sie aber einfach unterstellen, es gäbe so etwas wie eine linke Hegemonie in Politik, Medien und Kultur, erweitern sie den Diskursraum nach rechts. Positionen, die vorher als faschistoid galten, sind dann plötzlich „Sorgen, die man ernst nehmen muss“; die Infragestellung des Asylrechts, das aus den Erfragungen des NS-Regimes resultierte, wird zu einer Position, die legitim in der Öffentlichkeit geäußert werden kann. Dadurch entsteht Druck auf die eigentlichen konservativen Parteien, sich diesem Drang nach rechts anzupassen, immerhin müssen sie vor ihrer Wähler*innenschaft nachweisen, dass sie eben nicht links sind. Eigentlich linke Positionen werden dabei wirkungsvoll aus dem Diskurs verdrängt, indem sie als Teil eines angeblich linken  Mainstreams unter diesen subsumiert werden. Die politische Linke, deren Anliegen es ja eigentlich ist, beispielsweise die Marktwirtschaft zu kritisieren, wird dabei in die Rolle einer Verteidigerin derjenigen Errungenschaften der Demokratie gedrängt, über die sie eigentlich hinausgehen möchte. Auf diese Weise wird sie eine rein erhaltende Kraft und verliert ihre politische Eigenständigkeit. Kooperative dagegen, die bisher das Bestehende erhalten wollten, sehen sich gezwungen, mit der radikalen Rechten um Zustimmung zu konkurrieren und Inhalte und Rhetorik der radikalen Rechten zu übernehmen. Ein Musterbeispiel für diesen Prozess sind die Äußerungen des ehemaligen Chefs des Bundesverfassungsschutzes, Hans Georg Maaßen, oder auch die des Kandidaten für den CDU-Vorsitz Friedrich Merz, der ernsthaft als Lösung für die Bedrohung durch die radikale Recht vorschlägt, die so genannte Clan-Kriminalität stärker in den Vordergrund der Debatte zu stellen. Ein Blick auf die Entwicklung der radikalen Rechten und besonders die jüngere Geschichte der AfD gibt aber Anlass zu der Vermutung, dass dieser Versuch der Rechten, durch Anpassung an ihren Kurs das Wasser abzugraben, zum Scheitern veurteilt ist, denn Absetzbewegungen in der AfD – zuerst die des Parteigründers Lucke und dann seiner Nachfolgerin Petry – zeigen, dass diese Partei in der Lage ist, sich nach rechts hin immer weiter zu radikalisieren. Wenn aber diese Form der politischen Anpassung offenbar nicht hilft, was können Gegner*innen des Rechtsrucks dann tun? Das Erste und Wichtigste ist es, denke ich, sich dieses Ringens um die Diskurshoheit erst einmal bewusst zu werden. Ist das geschehen, gilt es, Initiative zu entwickeln und nicht nur auf rechts zu reagieren, sondern eigene Positionen zu formieren und diese zur Diskussion zu stellen. So wird die Öffentlichkeit gezwungen, sich mit diesen auseinanderzusetzen und schon dadurch gerät der Diskursraum wieder in Bewegung und beginnt sich zu verschieben.

Ich fühl mich Disco! Foto: NEOSiAM 2020Neel (Pexels)

Gesellschaft

Kitchen Discos

Esst mehr Kuchen und vor allem: Tanzt mehr!

Ein Kommentar von Helene Fuchshuber

2.11.2020. - Ausgabe 65

Meiner Generation – der sogenannten Generation Y – werden immer wieder Bindungsängste vorgeworfen. Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Ja, ich sehe in meinem Umfeld, dass viele sich nicht festlegen möchten, alle Optionen offenhalten, von einem Date zum nächsten hopsen, online-daten, und mitunter mehr als eine Person. Auf den ersten Blick scheint das vielleicht dem Phänomen „Bindungsangst“ zu entsprechen. Aber ich würde widersprechen. Wir – die Kinder dieser Generation oder jedenfalls ein Teil von ihnen – versuchen, in allen Lebensbereichen offen und unvoreingenommen zu sein, eben auch beim Thema Sexualität und Beziehungen. Wir versuchen offen zu kommunizieren, uns und Sachen auszuprobieren, Schubladen ad acta zu legen. Also versuchen wir auch uns selbst aus Schubladen auszupacken und sagen statt ja oder nein mitunter jein, versuchen Labels wie „feste monogame Beziehung“ zu vermeiden. Aber das heißt nicht, dass wir, die wir das so machen, per se bindungsunfähig sind. Und das heißt selbstverständlich auch nicht, dass alle aus der Generation Y immer große Bögen um Beziehungen machen. Lange Rede, kurzer Sinn, worauf ich hinauswill und was ich versuche zu rechtfertigen (auch wenn ich das nicht muss!): ich habe Tinder. Juchhe.

Eigentlich müssten wir tanzen.

Steht in meiner Bio. Ich erzähle das, weil ich vor Kurzem mit der Frage „Wieso eigentlich?“ angeschrieben wurde. Ich stand eine Runde auf dem Schlauch, bis mir klar wurde „Wieso eigentlich?“. Und an dieser Frage ist nicht nur eigentlich was dran. Denn es ist November.

Und während wir uns im Dezember, bzw. ab dem 29. November auf Weihnachten freuen können, ist gerade erstmal alles doof. Das Wetter (mit Ausnahmen), meine Vorlesung (leider), die Internetverbindung (drei zoomende Student*innen in einer WG? Kann nicht gut gehen). Und eigentlich möchte ich tanzen. Eigentlich nicht nur eigentlich. 

Ich brauche Endorphine. Und da ich nicht vorhabe eine Alkohol- oder sonstige Drogensucht zu entwickeln, Tinder allzu ernst zu nehmen oder mich langfristig von Süßigkeiten zu ernähren, plädiere ich fürs Tanzen.

Nicht eigentlich, einfach machen.

Natürlich sind weder Kopfhörer noch die Mini-Boxen, die Studierende gemeinhin haben, das Wahre. Nicht vergleichbar mit guten Lautsprechern. Ich beneide die wenigen WG’s, die ich kenne, die in krasse Anlagen investiert haben (so was gibt es bei uns nicht). Aber, eigentlich und uneigentlich spricht nichts dagegen: Musik an. Tanzen.

Da wir jungen Menschen nicht, und das entgegen vielermanns und -fraus Überzeugung, verantwortungslose, risikobereite Feierwütige sind (bis zu einem gewissen Grad ja, vielleicht, aber definitiv nicht grenzen- und gedankenlos) schlage ich vor, sich vorerst an Sophie Ellis-Bextor und die Kitchen Disco zu halten.

Denn dafür braucht man nichts weiter als Musik, ein Getränk nach Wunsch, vielleicht die*den ein oder andere*n Mitbewohner*in oder Person aus einem weiteren Haushalt. Bei Bedarf bekommt man auf Amazon Partylichter oder eine Diskokugel für um die 10€.

Es ist ganz leicht. Bühne frei! Oder Küche frei, oder Wohnzimmer frei (so man denn eins hat) und im Notfall geht das Ganze auch im Flur. Tanzen. Und selbst in unserer wirklich kleinen Küche ist es ziemlich wunderbar. Egal, ob du ein*e klassische*r Nicker*in bist und also lediglich mit dem Kopf wackelnd in deiner Küche stehst, ob du zu Ballett oder Ausdruckstanz neigst, raumgreifend, zu zweit oder alleine tanzen willst. Alles ist möglich. Du befindest dich in einem geschützten Raum. Es wird höchstwahrscheinlich nicht zu irgendwelchen Belästigungen oder Übergriffen kommen. Du musst für Shots keine 3€ blechen. Niemand judged dich. Und wenn ein Song dir nicht gefällt, kannst du vorspulen.

Über die Autorin

Ist ziemlich gut darin, spontan ein Studium abzubrechen, das Fach zu wechseln oder auch umzuziehen. Wie gut sie im Durchhalten eines Studiums ist, wird sich noch zeigen. Aber sie ist guter Hoffnung.
…Und wohnt mittlerweile auch schon seit über einem viertel Jahr in ihrer momentanen Wohnung!

Brennende Synagoge in Siegen im Pogrom von 9 auf den 10 November 1938. (gemeinfrei)

Geschichte

Der 9. November

Alles andere als Schicksal - Teil 1

Ein Essay von Jan Bachmann

16.11.2020 - Ausgabe 66

Fast schon heimlich scheint die Zeit dieser Tage voranzuschreiten, als wolle sie uns, die wir ganz mit der Pandemie, deren Bekämpfung und all den Widrigkeiten, die damit einhergehen, beschäftigt sind, nicht stören. So hat man dann auch eher am Rande vernommen, dass jener Novembertag des Jahres 1938 wieder einmal gejährt hat, an dessen Abend in Deutschland die Synagogen brannten.

20 Jahre zuvor war an diesem Tag die Republik ausgerufen worden. 1923 fand an diesem Tag ein recht kläglicher Putschversuch von Adolf Hitler und General Ludendorff statt. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, ein Ereignis, das anlässlich seines 30jährigen Jubiläums im letzten Jahre die zentrale Rolle des Gedenktages einnahm. Seit dem Mauerfall scheint es allgemein üblich geworden zu sein, vom 9. November als vom Schicksalstag der Deutschen zu sprechen.

Im Detail

Spätestens seit 1917 war der Obersten Heeresleitung des Deutschen Reiches, bestehend aus Generalfeldmarschall Hindenburg – der wohl mit Abstand elastischste Charakter der deutschen Geschichte – und General Ludendorff klar, dass die deutsche Armee nicht in der Lage ist, den Krieg zu gewinnen, was die beiden jedoch nicht davon abhielt, jegliche Friedensangebote abzulehnen. Dass die beiden deutschnationalen Herren zu ehrlos und feige waren, eben genau dieses Versagen einzugestehen, hatte so im September 1918 bereits Millionen von Menschen ihr Leben gekostet, die durch die Fortsetzung der sinnlosen Kampfhandlungen und in Folge der völlig dilettantischen Kriegswirtschaftspolitik Hindenburgs starben. Als nun Deutschland nicht einmal mehr in der Lage war, die Kampfhandlungen fortzusetzen, das Versagen also offenkundig zu werden drohte, entschied man sich, die Parteien der Reichstagsmehrheit in die Regierung zu holen, damit diese um einen Waffenstillstand bitten könnten. Die berühmte Dolchstoßlegende wurde erdacht.

So war es dann auch ein Politiker der Zentrumspartei, Matthias Erzberger, der das tun musste, wozu jeder deutsche Militär zu feige war: Zivilcourage zu übernehmen, Verantwortung zu zeigen und um Waffenstillstand zu bitten.

Unterdessen meuterten in Kiel die großteils sozialdemokratischen Matrosen der deutschen Kriegsflotte. Sie weigerten sich dem Plan ihrer Vorgesetzten zu folgen und sich in einer sinnlosen Seeschlacht gegen England zu opfern, um die „Ehre“ der Marine zu retten. Aus der Meuterei wurde eine Revolution, die umgehend federführend von der regierenden SPD gestoppt wurde.

Am 9. November rief dann gegen 14 Uhr Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstags die Republik aus, gegen 16 Uhr folgte dann Herr Liebknecht.

Ab dem 11. November schwiegen schließlich die Waffen (an den Fronten).

Ein Putsch in München

Fünf Jahre danach scheiterte in München der Putschversuch unter Adolf Hitler und General Ludendorff. Im Vergleich zum Kapp-Lüttwitz-Putsch im Jahre 1920, der letztlich nur durch einen Generalstreik geschlagen werden konnte, oder dem – ebenfalls sehr stümperhaften – Putsch der Nationalsozialisten gegen die faschistische Regierung in Österreich im Jahre 1934, bei dem jedoch der österreichische Bundeskanzler Dollfuß erschossen wurde, wirkt der Putschversuch von 1923 eher wie eine Randnotiz der Geschichte. Freilich gelang es Hitler, sich im folgenden Prozess gegenüber dem damals sehr populären General Ludendorff als „der Führer“ der nationalen Bewegung zu stilisieren. In den Folgejahren – insbesondere nach 1933 – wurde der Putsch immer mehr verklärt und mystifiziert.

Die Novemberpogrome als Schicksal?

So waren es dann auch Hetzreden auf der jährlichen Gedenkfeier, in denen unter Bezugnahme auf bereits stattgefundene Übergriffe zu weiteren Pogromen gegen jüdische Menschen und Einrichtungen aufgerufen wurde, die ja dann auch im ganzen Reich, unter reger Beteiligung der „unbeteiligten“ Bevölkerung begangen wurden. Bis zum 13. November wurden etwa 800 jüdische Menschen ermordet, über 1400 Synagogen, Betstuben und andere Versammlungsräume wurden zerstört, ebenso tausende Geschäfte, Privatwohnungen und jüdische Friedhöfe.

Kann man hier von Schicksal sprechen? Der Begriff Schicksal meint, dass etwas nicht durch eigenes Handeln und Streben, sondern durch Verhältnisse und Mächte, auf die der Wille keinen Einfluss hat, bestimmt wird.

Es war nicht das Schicksal, das die Synagogen angezündet hat, sondern bewusst handelnde Menschen, die sich auch hätten entscheiden können, anders zu handeln.

Die Opfer hatten keinen Einfluss auf die Pogrome, aber auch sie wurden nicht Opfer des Schicksals, sondern Opfer ihrer Mitmenschen, die sich dazu entschieden hatten, ihre Synagogen niederzubrennen, ihre Geschäfte zu zerstören und sie zu ermorden.

Auch der Tag selbst hat keine schicksalhafte Wirkung. Das, was jüdischen Menschen in Deutschland und in ganz Europa angetan wurde, bis hin zu ihrer industriellen Ermordung, war nicht die Folge des 9. November 1938. Es war zu jedem Zeitpunkt der Geschichte der Wille bewusst handelnder Menschen, die natürlich zu jedem Zeitpunkt der Geschichte auch anders hätten handeln können.

Hier von Schicksal zu sprechen, entbindet von Verantwortung.

… und der Fall der Mauer?

Auch auf den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, trifft die Bezeichnung nicht zu. Die Öffnung der Grenze war kein Schicksal, sondern das Ergebnis der Proteste in der DDR, dem vom Willen der Menschen getragenen Wandlungsprozess im gesamten Ostblock und der schlichten Tatsache, dass durch die Möglichkeit der visumfreien Ausreise über die Tschechoslowakei die innerdeutsche Grenze ohnehin ihre Funktion verloren hatte. Auch wenn die DDR mit der Mauer eine notwendige Existenzgrundlage verloren hatte, so ist der Mauerfall doch keineswegs ein schicksalhaftes Ereignis, das zwangsweise zur Wiedervereinigung führen musste.

Die Wiedervereinigung ist vielmehr das Ergebnis des Willens der Menschen in der DDR und – das muss man in der Rückschau durchaus anerkennen – dem diplomatischen Geschick Helmut Kohls, den Zwei-plus-Vier-Vertrag zustande zu bringen.

Die Verkürzung der Geschichte

Ebenso, wie durch den Begriff Schicksalstag der Mensch von seiner Verantwortung als handelndes Subjekt in der Geschichte entbunden wird, wird auch die Komplexität der Geschichte generell auf einen Tag, auf einen Begriff verkürzt. Gerade bei der Benennung des 9. Novembers als dem Schicksalstag werden die Geschehnisse Novemberpogrome und Mauerfall derart verquickt, dass letztlich eine Erzählung von Geschichte rauskommt, in der zwar „Schlimmes“ passiert, in der am Ende aber alles „gut“ wird.

Auf der Strecke bleibt dabei nicht nur die historische Wahrheit, sondern auch die Verantwortung des Menschen für die Geschichte. Notwendig ist es aber vielmehr, sich umfassend und kritisch – also nicht nur in Schlagworten – mit der Geschichte auseinanderzusetzen, so wie man etwa auch sein eigenes Handeln stets umfassend und kritisch reflektieren sollte.

Über den Autor

Als Schicksal gilt auch das Ganze eines Lebenslaufes, sofern dieser nicht durch eigenes Handeln und Streben, sondern durch Verhältnisse und Mächte bestimmt wird, auf die der Wille keinen Einfluss hat.” -Brockhaus Enzyklopädie, 17. Auflage, Wiesbaden, 1973