Editorial

Willkommen zurück liebe Leser:innenschaft,


„Des Friedrichs Wilhelm“ startet in das nächste digitale Semester mit einer Ausgabe, die keine größere Themenvielfalt bieten könnte. Ihr überbrückt Pausen zwischen Online-Meetings mit eurem allgegenwärtigen Smartphone und fragt euch, ob man wirklich irgendwann eckige Augen bekommen kann? Einer der zwei Gastartikel dieser Ausgabe bietet euch die Lösung: Einfach mal nicht auf die Bildschirme zu beharren, schlägt Dorit vor und zeigt uns, wie es auch ohne geht. Wer jetzt schon die ersten Wahlergebnisse mitverfolgt und sich fragt, wie es wohl weitergeht, findet in Milans Artikel über das Superwahljahr Zuflucht und wer sich fragt, wie es mit uns weitergeht, ist bei Helene aufgehoben. Sie macht den Auftakt zu ihrer eigenen und der ersten Kolumne des FWs, in der sie bemerkt hat, dass ausgeglichene Kommunikation leider rar geworden ist. Ebenfalls rar werden immer mehr Haiarten in den Weltmeeren und die EU trägt leider Ihren Teil dazu bei. Für mehr Information empfehle ich den Gastartikel von Michael. Und da das Thema nicht mehr wegzudenken ist, gewährt euch Sam außerdem noch einen Einblick in andere Impfstoffe als Astrazeneca und Co und unsere fragwürdige Haltung dazu.
Wie ihr seht, habe ich nicht zu viel versprochen, was die Themenvielfalt unserer Auftaktausgabe angeht. Ob ihr unsere Artikel nun querlest oder euch die Themen aussucht, die euch besonders interessieren, wir sind froh, wieder gelesen werden zu können und hoffen auch, bald wieder in Mensen, Hörsaalen und Cafés zu liegen.

Bleibt gesund,

eure Melina

 

Melina Duncklenberg, Chefredakteurin

Inhalts-verzeichnis

Wissenschaft

woher kommt das Misstrauen?

Gesellschaft

wie effizient man sein kann

Uni Bonn

Rassismus an der Uni Bonn?

Allgemein

auch in Europa eine Bedrohung

Politik

wirklich so super?

Kolumne

haben wir es verlernt?

Wissenschaft

Im Osten was Neues! Hilfe!

Warum wir dem fremden Produkt misstrauen.

Ein Essay von Samuel Johanns

13.04.2021 - Ausgabe 70

Vorbehalte gegen Medizinprodukte aus Russland und Fernost prägen unser unbewusstes Denken und Urteilen quasi ständig. So auch in dieser Pandemie. Sie sind in verschiedenen Ursachen begründet, sei es bei Impfstoffen oder dem FFP2-Masken-Äquivalent KN95. Die Grundhaltung ist dabei immer die prinzipiellen Misstrauens in die Qualität. Garantiert Schrott oder ungefährlich bis zum Beweis des Gegenteils? Woher dieses Misstrauen und was ist daran?

Grund 1. Vermutete Skrupellosigkeit.
Was das russische Vakzin Sputnik V angeht, so machte viele sicher die ausgesprochen rasche Entwicklung des Impfstoffs stutzig. Auch stand er in der Kritik und es wurde vermutet, Herstellerunternehmen würden sicherheitsrelevante Testphasen hintenanstellen. Generell spielt bei Russland und China das Profil ihrer politischen Verfasstheit in die Bewertung der Qualität ihrer Produkte mit hinein. Es schwingt ein Hauch von Bereitschaft im Kopf mit, die Wirkstoffe könnten  nach dem Prinzip und als Ausdruck dessen funktionieren, wie ein Staatssystem im Groben den Menschenrechten gegenüber eingestellt ist: Skrupellos, kollektivistisch und mit der Bereitschaft hoher Kollateralschäden.

Grund 2. Das Erbe des Sozialismus.
Ein anderer Aspekt, der in das Image der Produkte hineinspielt, ist die Hinterlassenschaft aus der Zeit des real existierenden Sozialismus. In der allgemeinen Wahrnehmung prägt das Bild von Zerfall und wirtschaftlicher Insuffizienz das Bild von dem, was wir heute von den (ehemaligen) Staaten des real existierenden Sozialismus haben. Dem der kapitalistischen Gesellschaftsform inferior gegenüberstehenden Gesellschaftssystem sind nach Ansicht vieler Menschen einfach keine höheren Leistungen im Bereich der Medizin und Forschung zuzutrauen.

Grund 3. Massenhafte Billigprodukte.
Der vielleicht unmittelbar offenkundigste Hintergrund, der das Bild des prinzipiell nicht-westlichen Schrottproduktes prägt, mag das real existierende, nicht-westliche Schrottprodukt sein. Schon vor der Zeit von Aliexpress überschwemmte Einweg-Nippes aus China den Markt. made in China wurde damals zum diametralen Gegensatz des Qualitätskriteriums made in Germany.

Eine rationale Einordnung.
Wenn wir uns mit den gerade angesprochenen Anschauungen und Glaubenssätzen konfrontiert sehen und sie auch bei uns selbst bemerken, dann sollten wir uns vergegenwärtigen, dass wir vorgeprägt sind von den generellen nationalen Stereotypen, die wir bezüglich der Herkunft eines Produkts internalisiert haben. Eine rationale Einordnung des für wahr Geglaubten kann hier durchaus nachdenklich stimmen. So lässt sich die Frage stellen, warum Russland und China ein potentiell extrem unsicheres und gefährliches Medizinprodukt auf ihre eigenen Bevölkerungen loslassen und sich damit im Vergleich mit der gesamten Welt deutlich schwächen würden. Dass die Impfstoffentwicklung in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich schnell vonstatten geht, kann viele unterschiedliche strukturelle Gründe haben. Faktisch erweisen sich die wissenschaftlichen Werte von Sputnik V nämlich als durchaus sehr vielversprechend. Nach einer in The Lancet veröffentlichten Studie wird dem Vakzin nämlich eine Wirksamkeit von 91,6% attestiert, womit das Mittel mindestens ebenso effizient arbeiten soll wie die Stoffe der Unternehmen Moderna und BionTech/Pfizer. Zudem soll Sputnik V auch bei alten Menschen problemlos eingesetzt werden können, einfach zu lagern sein und, man möchte sich ja eigentlich nicht am allgemeinen Bashing beteiligen, durch die Verwendung von zwei Virentypen als Vektorimpfstoff sogar solider arbeiten als das Mittel von Astra Zeneca.
Es ist bei einer Zulassung für die EU dennoch zu erwarten, dass Sputnik V mit diffusen Vorbehalten zu kämpfen haben wird.
Was die vermutete Insuffizienz der „kommunistischen Staaten“ in Bezug auf Wissenschaft und Forschung angeht, so desillusioniert einen die Geschichte und, was China angeht, auch die Gegenwart hinsichtlich der Richtigkeit der eigenen Vorurteile. So war die UDSSR den westlichen Staaten in Fragen des technologischen Fortschritts im eigentlichen Sinne nie unterlegen. In Fragen von Raumfahrt, Astronomie, Waffentechnik und Medizin brach die UdSSR regelmäßig Rekorde. Was explizit die Virologie und Impfstoffforschung angeht, ist hier der Kampf gegen Polio zu nennen, den russische Virologinnen und Virologen mit einer hocheffizienten Schluckimpfung in den 50er Jahren effektiver führten als „der Westen“, sodass sich schließlich einige Bundesländer der BRD gezwungen sahen, den Schluckimpfstoff, der in der DDR umfangreich verabreicht wurde, über Umwege zu besorgen, nachdem Adenauer ein Angebot zur „Entwicklungshilfe“ ausgeschlagen hatte, auch damals mit Verweis auf eine angenommene Unsicherheit des Wirkstoffs. Hier ist anzumerken, dass ein Infektionsrisiko durch den Lebendimpfstoff in keinem Verhältnis zu den Opfern der Entscheidung stand, den wirksameren Impfstoff nicht anzuwenden.
Auch andere soziale und medizinische Errungenschaften „des Ostens“ werden erst heute, wo man sich von den eigenen romantisch-ideologisch verklärten Anschauungen zunehmend distanziert hat, in ihrer Bedeutung erst bewusst. So gilt das Polyklinik-Prinzip der DDR heute oft als Ideal ambulanter städtischer Patient:innenversorgung und wünschenswerte praktische Alternative zum Flickenteppisch spezialisierter Arztpraxen. Die Versorgungssituation mit KiTa-Plätzen, als aktuelles sozialpolitisches Reizthema ist bis heute in den neuen Bundesländern besser als in den alten, in der die traditionelle Rolle der Frau eine solche Infrastruktur nicht notwendig oder wünschenswert machte.
Bei all seinem dystopisch anmutenden Einsatz zur totalen Überwachung kann man zu guter Letzt, aus einem Land, in dem Jens Spahn es als Erfolg verbucht, dass Ergebnisse nun nicht mehr per Fax im Gesundheitsamt ankommen und von Hand übertragen werden müssen, durchaus mit Neid nach China und seiner Digitalisierung schauen. Dass chinesische Produkte hierzulande oft von niedriger Qualität sind hat weniger damit zu tun, wozu ein Land in Fragen der Technologie fähig ist, sondern womit sich aus der weltwirtschaftlichen Perspektive gerade schlicht am besten Kapital generieren lässt. Es gibt keinen rationalen Grund zur Annahme, dass ein Vakzin made in China notwendigerweise von niedrigerer Qualität sein muss als ein Produkt aus Deutschland oder den USA.

Quelle: unsplash

Gesellschaft

Einfach mal nicht!

Die effizienteste Art, der Effizienz zu entfliehen.

Ein Gastartikel von Dorit Selting

13.04.2021 - Ausgabe 70

stress as usual

Ich bin gestresst.

Einer der Stressfaktoren ist, dass ich alles gleichzeitig mache. 

Ich höre Podcasts während des Einkaufens von stuff, den ich eigentlich schon zu Hause habe, aber aus dem Produkt der Rechnung Unaufgeräumtheit x Zeitmangel gerade nicht wiederfinde.

Immer noch „ganz wichtige Konversationen“ auf den Ohren, dann von der Mail-App (nur Spam und 1 Wichtige, die ich aber nicht anklicken möchte, weil dann der rote ungelesene Punkt verschwindet und ich sie wieder vergessen würde) schnell wechseln zu der App mit der Payback-Karte und kurz noch den Ton ausstellen, falls die Kassenfachkraft was fragt. Man ist ja noch höflich und so. Deshalb auch maximales Tempo beim schweißtreibenden Einstecken der Sachen, während schon der nächste Kunde zahlt.

eingebildete Effizienz

Das muss aufhören. Wenn ich nach Hause komme, sehe ich schon meinen Schreibtisch mit Post-its überfüllt, tausend To dos, die ich noch nicht gemacht hab, weil mir alles Einzelne so essenziell schien, dass ich es gerade nicht bearbeiten kann, sondern besser später;  wenn ich Zeit und Konzentration dafür hab.  Spoiler: Die Zeit kommt nicht.

Ich mache so vieles gleichzeitig, weil man von allen Seiten die Effektivität und Effizienz prophezeit bekommt, gepaart mit Lifehacks, „wie du 3 Minuten Zähneputzen nebenbei sinnvoll nutzt“. Die Ironie? Das Video dauert schon 10 Minuten, die ich verklatscht und mit zusammengekniffenen Augen vor dem Miniaturbildschirms meines Handy verbringe.

Bin als mein persönlicher Efficiency Consultor so vertieft in die Rechnung minimalster Zeitaufwand x absolute Geschwindigkeit = maximale Produktivität, dass ich gar nicht merke, wie ich mir die angeblich gewonnene Zeit schon wieder durch die bekannten Apps rauben lasse.

Wer viele Sachen gleichzeitig macht, macht am Ende gar nichts.

Deshalb jetzt der Umkehrschluss: Wenn ich mal gar nichts mache, mache ich dann vielleicht mal etwas wirklich?

Die Challenge (nur so klingt es wieder postable und cool):

DIGITAL DETOX.

Keine Monitore, kein Handy, kein Nichts. 24 Stunden.

Hab einfach alles abends um 9  ausgeschaltet. Morgens aufgestanden, weil mich die Sonne geweckt hat und nicht das unheilvoll klingende Gedröhne der Wecker-App.

Bisschen ungewohnt, nicht zu wissen, wie spät es ist, aber das sollte mich nicht interessieren. Heute ging es nicht darum, jede Minute produktiv zu nutzen und zu verplanen.

Tee getrunken, Gedanken mal zu Ende gedacht und dann sortiert. Gelesen.

Mein Zimmer, dass sich als physische Gestalt meiner schlechten Angewohnheit alle Tabs aufzulassen, herausgestellt hatte, endlich aufgeräumt und kerngereinigt.

Alle unwichtigen alten Blätter aus meinem Collegeblock rausgetrennt, jetzt passt auch endlich mal wieder alles ins Regal, ohne das zwei ungeöffnete Briefe von der Krankenversicherung in den dunklen Spalt zwischen Regal und Wand fallen.

Kurz stolz gewesen.

Dann erschöpft ins Bett gefallen.

Dann Verwunderung: Hätte jetzt safe mindestens eine 5-Minuten Sprachnachricht von Freund:innen angehört, und danach kurz Insta gecheckt, um alle Stories hektisch rechts weiterzuklicken.

Aber irgendwie fehlt mir das gerade gar nicht.

Überlege lieber ob ich spontan nach draußen gehe (auf die Gefahr hin, dass ich die falsche Jacke anziehe, weil ich das Regenradar nicht überprüft habe). Entscheide mich deswegen, lieber weiterzulesen. Am Ende des Tages habe ich das Buch durch.

Vielleicht hätte ich den Text „how to read 1 book in 1 day“ betiteln sollen, aber das klingt zu prätetentiös.

Langsam wird es dunkel und ich beschließe, dass ich müde bin. Nehme mir Zeit fürs Zähneputzen (mit Zahnseide, heftig), skincare und schlafe direkt ein.

Am nächsten Tag wache ich mit der Erkenntnis auf, dass die Sonne etwa auf 9 Uhr steht. Werde erstmal richtig wach, mach mir still einen Kaffee und schalte vorsichtig das Handy an. Die paar Nachrichten sind schnell beantwortet, auf Insta hab ich keine Lust. Leg‘s wieder weg und widme mich – zu meiner eigenen Überraschung- der Krankenversicherung.

Ohne es mir vorzunehmen oder extra in Einstellungen die Bildschirmzeit für manche Apps zu reduzieren, bin ich auch am nächsten Tag nur eine knappe halbe Stunde am Handy.

Das macht drei Stunden mehr am Tag, die ich mich nicht von der virtuellen Unwirklichkeit betäuben lasse. Aber um Gottes willen, ich fange deswegen nicht an, plötzlich mehr Sport zu machen oder ein neues Hobby oder so.

Ich nehme mir einfach nur mehr Zeit für alles.

Zeit, die ich auch brauche, weil es obviously länger dauert, erst in Ruhe zu essen und danach mit Freund:nnen zu facetimen.

Aber die Zeit ist plötzlich viel mehr wert. Wenn ich jetzt etwas tue, dann tue ich es ganz. Verschiebe nichts unter Vorbehalt späterer Motivation, sondern erledige es komplett.

Alles hintereinander. Alles zu seiner Zeit.

Zeit, die ich übrigens nicht mehr mit getaktetem Wecker und minutengenauer Planung verbringe, sondern die anders verläuft und mir dieses eine Mal nicht wie sonst üblich wegzurennen scheint.

Man muss dazu sagen, dass digitaler Minimalismus in Wahrheit ziemlicher Luxus ist. Besonders mit Online-Uni und Lockdown ist es schier unrealisierbar, allen Monitoren oder dem Internet als Ganzem zu entsagen. Meine 24 hours of digital detox musste ich im Voraus planen, an einem Tag in den Semesterferien ohne dringende Termine. Das ist eigentlich eine Seltenheit, genauso wie das Verständnis von Leuten, wenn man mal nicht erreichbar ist. Meinem engsten Kreis habe ich natürlich vorher Bescheid gesagt. Keine Lust, am nächsten Tag zehn unbeantwortete Anrufe von Mutti und den Personenschutz vor der Haustür zu haben.

Dann fällt mir auf, dass ich als Efficiency-Planer ohnehin nicht tauge.

Um nach der oben benannten Formel zu rechnen, fehlen mir die Grundlagen simpler Mathematik: Wenn ich am Tag vorher um 9 Uhr abends mit 24 hours of digital detox anfange, dann sind um 9 Uhr morgens am Tag nach dem Detox sogar schon 36 Stunden vergangen. Dafür benutze ich sonst immer die Taschenrechner- App.

Ups. Naja, macht nichts.

Gastartikel

Dorit Selting

ist es gar nicht mal so leicht gefallen, das Experiment durchzuziehen. Dafür ging es deutlich besser, darüber zu schreiben als an der Hausarbeit- das geht ja nur online.

Insgeheim wiederholt sie die digital detox days deshalb auch aus Prokrastinationsgründen.

Uni Bonn

Rassismus in der Lehre

Auf Instagram sind Vorwürfe gegen einen Professor der Soziologie laut geworden

Ein Kommentar von Helene Fuchshuber

13.04.2021 - Ausgabe 70

Am 09. Und 11. März veröffentlichten die KriPS auf Instagram zwei Posts. Die KriPS, das sind die kritischen Politolog:innen und Soziolog:innen der Uni Bonn. Das Thema der Posts: Rassismus in der Lehre.

Genauer gesagt beschäftigte sich ersterer mit der Art, wie Rassismus nicht-thematisiert und dadurch reproduziert wurde und der zweite beinhaltet einen konkreten Rassismusvorwurf.

Mensch mag nun von der Veröffentlichung solcher Vorwürfe auf Instagram (oder sonst einem sozialen Medium) halten, was er will. Die Darstellung kann in einem solchen Rahmen nur zugespitzt sein. Aussagen werden entkontextualisiert. Eine Gegendarstellung kriegt oft keinen Raum. – Rassismus an Universitäten ist jedoch ein Thema über das dringend gesprochen werden muss!

Für die Auseinandersetzung und Aufarbeitung muss zwischen zwei Diskussionen differenziert werden, dem Umgang von Professor:innen und Studierenden, sowie Rassismus in der Lehre:

Denn Vorwurf Nummer eins ist in erster Linie der Vorwurf der Nicht-Kommunikation und Einordnung. Nachdem Studierende den Professor in einer Sprechstunde angesprochen und gebeten hatten, Texte des Soziologen Auguste Comtes einzuordnen und zu den rassistischen Formulierungen Comtes Stellung zu beziehen, wurde der Diskurs von ihm im Keim erstickt. Comte sei Kind seiner Zeit und außerdem könnte man den Studierenden im Gegenzug Humanrassismus vorwerfen.

Der zweite Vorwurf erscheint härter, lautet Rassismus. Dafür wurden Teile einer Vorlesung transkribiert und ein Ausschnitt einer Folie gezeigt. Die Quintessenz dieser Slides: es gibt Rassismus und Sexismus am Lehrstuhl Soziologie in Bonn.

Ersteren Vorwurf betreffend muss sich darauf zurückbesonnen werden, dass Universitäten Orte des akademischen Austausches auf Augenhöhe sind. Im besten Falle sollten dafür keine medialen Veröffentlichungen nötig sein, sondern eine solche Diskussionskultur normal.

Zweiterer Vorwurf wiegt vielleicht schwerer, könnte zu Konsequenzen für den Professor führen. Die KriPS solidarisieren sich damit mit Forderungen von @unirassismuskritisch. Sie machen darauf aufmerksam, dass es an der Uni Bonn (noch) keine Anlaufstelle für Rassismus gibt. Dass ein strukturelles Problem, losgelöst von einzelnen Dozierenden, vorliegt. Und dass institutionelle Maßnahmen und Einrichtungen, vielleicht gar der Wille zur Rassismus-Bekämpfung und Aufarbeitung an Universitäten viel zu oft fehlt.

Zu hoffen ist jetzt, dass die Posts der KriPS nicht zum Canceln des Professors führen, sondern einen Diskurs eröffnen. Einen uniweiten, vielleicht sogar uniübergreifenden Stein ins Rollen bringen. Denn Rassismus geht über einzelne Vorlesungen hinaus, ist ein strukturelles Problem. Wichtig wäre, dass diese Posts als Auslöser für Veränderungen genutzt werden.

Mittlerweile gab es weitere Gespräche zwischen dem Professor und den KriPS und Studierenden. Da diese jedoch nicht öffentlich stattgefunden haben und nur intern, bzw. zwischen betroffenen und Hochschul-Gruppen, kommuniziert wurden, wollen wir hier eine Plattform bieten und eine größere Öffentlichkeit schaffen: Wenn ihr Meinungen zum Thema habt, schreibt uns an fw@asta.uni-bonn.de!

Über die Autorin

Helene Fuchshuber

glaubt nach wie vor daran, dass Kommunikation der Schlüssel zu ziemlich vielem ist. Da zu funktionierender Kommunikation immer mindestens zwei gehören, ob jetzt Schreiber:in und Rezipient:in oder schlicht zwei, die sich unterhalten, soll hier der Raum zur Diskussion über das Thema Rassismus an der Uni Bonn eröffnet werden. Stellungnahmen, Gedanken, Ideen gerne an fw@asta.uni-bonn.de.

Quelle: Gerald Nowak

Allgemein

Stop Finning!

Haie - warum sie unserere Aufmerksamkeit verdienen

13.04.2021 - Ausgabe 70

Seid ihr schon einmal unter Wasser, beim Schnorcheln oder Tauchen, einem Hai begegnet? Was waren dabei eure Empfindungen? Angst? Faszination? Bewunderung? Oder eine Mischung aus alldem? Zweifellos war es ein Erlebnis, welches ihr nicht so schnell vergessen werdet, vielleicht euer ganzes Leben nicht.

Haie sind Knorpelfische. Das macht sie leichter als Knochenfische und dank ihrer sehr ölhaltigen Leber erhalten sie zusätzlichen Auftrieb. Allerdings haben sie keine Schwimmblase und müssen zum Schwimmen daher ständig in Bewegung bleiben. Haie sind unglaublich faszinierende Tiere. Es gibt über 500 verschiedene Arten. Die kleinsten (Zwerg-Laternenhaie) werden gerade mal 16-20 cm groß und wiegen 150g. Mit dem Walhai stellen sie auch den größten lebenden Fisch der Welt, er wird 14 m lang und bringt 12 t auf die Waage. Sie leben in allen Ozeanen und vom Flachwasser bis in die Tiefsee, von den Tropen bis zum Eismeer. Dort lebt der Eishai, er wird – soweit bisher bekannt – mehrere hundert Jahre alt. Interessant ist auch, dass etwa die Hälfte aller Haiarten nur eine Körperlänge von etwa einem Meter erreicht. Nur bei 20 % aller Arten liegt diese über 2 m.

Es finden sich noch weitere Superlativen bei Haien: So gehört der Makohai zu den schnellsten Schwimmern: er erreicht Geschwindigkeiten bis zu 70 km/h. Vor Kurzem fanden Wissenschaftler:innen heraus, dass einige Katzenhaiarten grün leuchten können, was allerdings nur von anderen Haien und dem Menschen mit speziellen Kameras gesehen werden kann. Der Zweck dieses Phänomens ist noch unbekannt. Haie gehören auch zu den ältesten Lebewesen auf der Erde und sie bergen noch viele Geheimnisse, die auch uns Menschen helfen könnten, z. B. bei der Bekämpfung von Krankheiten.

Leider haben Haie in weiten Teilen der Bevölkerung ein schlechtes Image als blutrünstige Menschenfresser. Dafür mitverantwortlich ist Steven Spielbergs Kinohit von 1975 „Der weiße Hai“, sowie die Boulevardpresse, die ungerechtfertigt jeden Haiunfall auch aus dem entlegensten Teil der Erde zur Hauptschlagzeile macht. Wenn die Boulevardpresse das mit jedem Verkehrsunfall genauso handhaben würde, wären die Zeitungen um ein Vielfaches umfangreicher und es bliebe kein Platz für andere Nachrichten. Von einem Blitz getroffen zu werden ist sehr unwahrscheinlich, von einem Hai getötet zu werden ist nochmals 47mal unwahrscheinlicher: Im Schnitt gibt es weltweit im Jahr nur etwa fünf tödlich endende Haiunfälle.

Umgekehrt sehen die Zahlen ganz anders aus: Jährlich sterben zwischen 63 und 273 Millionen Haie durch Menschenhand. Genaue Zahlen bleiben Spekulation, da es an verlässlichen Daten fehlt und die Dunkelziffer bei illegalen Fängen enorm hoch ist. Das ist besonders dramatisch, da Haie sehr langsam wachsen und manche Arten erst im Alter von 30 Jahren geschlechtsreif werden. Von den gefangenen Haien werden fast ausschließlich die Flossen für den ostasiatischen Markt genutzt, um daraus Haifischflossensuppe herzustellen. Der Körper ist Abfall. Das ist vergleichbar mit dem Elfenbein der Elefanten und dem Horn der Nashörner. Der Handel mit beidem ist seit vielen Jahren streng verboten und strafbewährt. Trotzdem werden selbst vom Aussterben bedrohte Haiarten gefangen und getötet, nur um ihre Flossen zu verwenden. Der Handel mit Haiflossen ist ein blutiges und leider auch noch lohnendes Geschäft. Die Flossen werden oft auf grausame Weise, dem sog. „Finning“ gewonnen. Dabei werden den gefangenen Haien die Flossen bei lebendigem Leib abgeschnitten und der Körper der Tiere wird dann wieder über Bord geworfen. Ohne Flossen sinken die Tiere zu Boden, ersticken, verbluten oder werden gefressen, das ist kaum an Grausamkeit zu überbieten.  Dieses sogenannte Finning ist zwar in Europa offiziell verboten, d.h. die Flossen müssen noch auf natürliche Weise mit dem Tierkörper verbunden sein, wenn das Schiff im Hafen entladen wird. Danach können die Flossen vom Tier abgetrennt und nach Asien exportiert werden.  Die Einhaltung dieser Regel kann jedoch kaum kontrolliert werden. Außerdem hält es niemanden davon ab, auch in Europa millionenfach Haie zu fangen und zu töten. Länder wie Spanien, Portugal und Frankreich zählen zu den größten Haifangnationen weltweit. Allein im Jahr 2016 wurden von Spanien offiziell 29.000 Tonnen Blauhai, das entspricht etwa 1 Million Tieren, angelandet. Trotz zunehmender Bedrohung hat sich beispielsweise die gesamte Fangmenge an Blauhai im Atlantik gegenüber dem Anfang des Jahrtausends fast verdoppelt. Zusätzlich werden weitere Haiarten, darunter stärker bedrohte Arten wie der Kurzflossenmako und der Heringshai, in Europa gefischt. Darüber hinaus enthalten Flossenlieferungen aus Europa nach Asien auch geschützte Arten. 70 Haiarten stehen auf der roten Liste gefährdeter Arten. Das Geschäft mit Haiflossen wird auch aus Europa bedient. Die Haibestände sind überall gefährdet. Das ist dramatisch, weil Haie eine sehr wichtige Rolle im Ökosystem Meer einnehmen: Paradoxerweise geht die Wissenschaft davon aus, dass es weniger Fische gibt, wo Haie bereits verschwunden sind.

Für das Verbot des Handels mit Haiflossen in der Europäischen Union macht sich die Europäische Bürgerinitiative StopFinningEU (www.stop-finning-eu.org) stark. „Jede Unterschrift ist sehr wichtig und zählt, denn in den Pandemie-Zeiten ist die direkte Ansprache äußerst schwierig“, so Nils Kluger, Vorsitzender des StopFinningEU e.V. „Wir freuen uns über alle, die sich gegen das Abschlachten dieser wunderbaren Geschöpfe einsetzen und können auch weitere engagierte Mitstreiter:innen gebrauchen.“ Auf europäischer Ebene sammelt die Initiative Unterschriften, um einen entsprechenden Gesetzesentwurf in das Europäische Parlament einzubringen. „Noch ist es nicht zu spät, es liegt in unserer Hand, diese Tiere zu schützen“, erklärt Karen Reinhardt, Vorstandsmitglied StopFinningEU e.V.  

STOP FINNING – Europäische Bürgerinitiative gründet einen Verein Die europäische Bürgerinitiative STOP FINNING – STOP THE TRADE (www.stop-finning.eu) hat sich zum Ziel gesetzt, den Handel mit Haiflossen in Europa gesetzlich zu verbieten. Um eine entsprechende Gesetzänderung in das europäische Parlament einzubringen, werden europaweit Stimmen gesammelt. In Zeiten der Corona-Pandemie sind die bewährten Unterschriften-Sammelaktionen im öffentlichen Raum nahezu unmöglich. Dennoch versucht die Initiative durch verschiedene Aktionen auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Corona-bedingt finden diese Aktionen größtenteils im Internet und in den sozialen Netzwerken statt. In Deutschland hat die Initiative nun den Verein StopFinningEU e.V., mit Sitz des Vereins in Rosenheim gegründet. Das eröffnet die Möglichkeit, für Aktionen zum Schutz der Haie Spendengelder zu sammeln. Nur ein konsequentes Verbot des Handels mit Haiflossen in Europa kann helfen, die stark gefährdeten Meerestiere zu schützen.

Gastartikel

Michael Kierdorf ist Kampaigner und Gründungsmitglied der Kamapgne Stop-Finning-EU. Eine Begegnung mit Zitronen- und Ammenhaien bewegte ihn dazu, seiner Leidenschaft für die Unterwasserwelt Taten zu folgen.

Politik

Das Superwahljahr

ein spektakuläres Ende von 16 Jahren Stagnation

Ein Kommentar von Milan Nellen

13.04.2021 - Ausgabe 70

Sowohl in der medialen Berichterstattung, als auch in den Äußerungen von Politiker:innen, ist der Begriff Superwahljahr im Moment nahezu allgegenwärtig. Aber je nachdem, wo von dem Superwahljahr gesprochen wird, sind damit natürlich ganz unterschiedliche Interessen und Absichten verbunden. Zum einen gibt es die nüchterne und sachliche Information, dass dieses Jahr besonders viele Wahlen stattfinden. Für die Medienvertreter:innen steht einerseits dieser informative Gehalt im Vordergrund, anderseits aber auch das Interesse, durch diesen Begriff ein besonders großes Interesse auf ihre jeweilige politische Berichterstattung zu lenken. Ganz nach dem Motto: „Verfolgt unsere Nachrichten genau! Was jetzt kommt ist sehr wichtig.“

 
Aus der Perspektive der Politiker:innen steht hier ein agitatorisches Interesse im Mittelpunkt. Der Begriff Superwahljahr soll der jeweiligen politischen Basis vor Augen führen, wie wichtig es ist, sich gerade dieses Jahr besonders zu engagieren und wie wichtig es insbesondere ist, zur Wahl zu gehen. Superwahljahr ist also mehr als eine politische Einschätzung. Der Begriff Superwahljahr ist schon selbst sowohl Wahlkampf, als auch ein medialer Aufmerksamkeitsmagnet. Obwohl der Begriff aber in aller Munde ist, herrschst oftmals eine große Verwirrung in Bezug auf die politischen Perspektiven Chancen und Gefahren, die dieses Jahr mit sich bringt. Zu forderst steht die Frage: Was ist es denn, was aus diesen Wahljahr ein Superwahljahr macht?

Einerseits ist es, die besonders große Häufung unterschiedlicher Landtagswahlen, die mit der Bundestagswahl im Herbst ihren Abschluss finden. Namentlich wird neben der Bundestagswahl noch in Sachsen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen gewählt, die Wahlen in Baden-Württemberg  und Rheinland-Pfalz haben breites stattgefunden. Deutlich bedeutender als die Anzahl der Wahlen jedoch ist der politische Kontext indem diese stattfinden. Zum einen besteht dieser Kontext aus dem Ende der letzten Amtszeit von Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Zum ersten Mal in der Geschichte der BRD wird es eine Bundestagswahl geben, bei der die aktuelle Kanzlerin nicht mehr antritt, was bedeutet, dass niemand von der komfortablen Regierungsbank aus antritt. Ohne diesen Amtsbonus ist die Wahl aber deutlich offener als sonst.

Die letzten 16 Jahre waren mit den unterschiedlichen von der CDU geführten Regierungen unter Angela Merkel geprägt von einer konservativen Hegemonie, die gesellschaftliche Fortschritte verlangsamte und wenn überhaupt nur im Schneckentempo zugelassen hat.

So wurde die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zum Beispiel erst 2017 möglich. Auch in wirtschaftlicher Sicht war die Politik von den Dogmen der schwarzen Null auf der einen Seite und der Festlegung auf die Marktwirtschaft als nicht in Frage zustellendes System geprägt. Drängende Probleme wie die Klimakrise wurden auf die lange Bank geschoben oder nur unter der Prämisse angegangen, dass sich eine marktwirtschaftliche Lösung dafür finden lassen müsse. Ein Beispiel für diese Politik ist der dysfunktionale Handel mit CO­2-Zertifikaten. Auch das Aufkommen einer faschistischen Rechten im Parlament fällt in die Zeit dieser konservativen Hegemonie, die mit allerhand hilflosen Versuchen der Beschwichtigungspolitik versucht hat, die radikale Rechte wieder in ihre Anhänger:innenschaft einzugliedern. Das mittlerweile schon sprichwörtliche  Heimatministerium von Horst Seehofer steht symbolisch für diese Politik.
Was also eine politische Veränderung auf Regierungsebene angeht, sind die Chancen auf zumindest eine Änderung der groben Richtung höher als in den letzten 16 Jahren, dafür spricht auch die aktuelle Korruptionskrise innerhalb der CDU/CSU, wobei es aber auch gut möglich ist, dass sich diese Krise auf die Bundestagswahl im Herbst nicht mehr großartig auswirkt.  


Ein weiter wichtiger Aspekt des politischen Kontextes ist die Frage ob es im kommenden Wahljahr gelingen wird, die radikale Rechte zu verkleinern. Falls die beiden Landtagswahlen die bereits stattgefunden haben, ein Indikator sind, könnte die AFD in den kommenden Wahlen weiter schrumpfen. Allerdings gilt es hier zu beachten, dass die die kommenden Wahlen vor allem in den östlichen Bundesländern stattfinden, wo die AFD sowohl stärker als auch radikaler ist, als in den westlichen. Sollte es ihr also gelingen, dort Erfolge zu erzielen oder zumindest ihre Verluste besser zu begrenzen, als in den westlichen Bundesländern wäre damit der ganz rechte Flügel unter Höcke im Vergleich zu seinem etwas weniger rechts erscheinenden Rivalen Meuten deutlich gestärkt. Ein weiterer „neuer“ Faktor in diesem Wahljahr ist, dass die Grünen die SPD als große Partei die mit der CDU um die Regierungsführung kämpft, möglicherweise langfristig verdrängt hat, sodass es durchaus möglich ist, dass es nach der Wahl eine Kanzlerin Baerbock oder eine Kanzler Habeck geben wird.


Und schließlich werden alle Wahlen dieses Jahr unter dem Eindruck der Corona Krise stattfinden, die alle ohnehin vorhanden Krisenherde noch weiter verschärft und zugleich gnadenlos offenlegt, wie sehr Modernisierungen bisher versäumt wurden und zugleich zeigt, wie groß die Krise sowohl in der Pflege als auch im Gesundheitssystem wirklich ist. Zudem zeigen sich langsam auch die wirtschaftlichen Folgen der Krise, sodass die Arbeitslosenzahlen und das Armutsrisiko geradezu sprunghaft in die Höhe schnellen. Ich denke das alles wird dazu führen, dass die Wähler:innen am Wahltag deutlich kritischer bei der Bewertung der Politik sein werden als sonst, sodass trotz dem deutschen Hang zum „Weiter so“ möglicherweise die Chance auf zumindest einen kleinen Wandel in der Politik besteht und schon das alleine würde reichen, um dieses Wahljahr wirklich ungewöhnlich und vielleicht sogar ein wenig „Super“ sein zu lassen.

Quelle: Pexels

Kolumne - Zwischenruf

Miteinander sprechen

Berechtige Skepsis und Schwurbel unterscheiden

Eine Kolumne von Helene Fuchshuber

13.04.2021 - Ausgabe 70

Zeiten ändern sich, Diskussionen ändern sich, Sprache ändert sich. Alles verändert sich. Was vor 100 Jahren als normal galt, wird heute als rassistisch eingeordnet. Es gibt zwar ein Frauenwahlrecht, aber Gleichberechtigung? Weitgefehlt. Gleichheit generell. Was ist das schon. Und Freiheit.

Wir haben die Freiheit, alles zu sagen, alles zu tun (was nicht explizit verboten ist). Gesellschaft lebt vom Diskurs. Veränderung entsteht durch Diskurs. Und wenn wir doch die ganze Zeit diskutieren, reden, uns den Mund fusselig quatschen, zum Thema Frauenquote, Genderequality, Care-Arbeit, Rassismus, Bildungsungleichheit aufgrund von Klassen……. Wir reden und reden doch die ganze Zeit. Und trotzdem von Chancengleichheit keine Spur. Strukturelle Veränderungen? Winken aus weiter Ferne mit Zaunpfählen.

Natürlich leben wir hier in Deutschland in einer Gesellschaft in der wir a) so weit sind wie kaum eine andere (ohne das werten zu wollen!) und b) so weit wie noch nie zuvor. In den letzten Jahren gab es unfassbar viele Fortschritte. Aber dennoch. Viele Diskussionen, die wir gerade führen, drehen sich verbal um sich selbst, hängen sich an Worten auf, stellen sich Beine, führen zu nichts. Nicht nur in größerem Rahmen von Politik und Gesellschaft, auch in WhatsApp Gruppen und am Frühstückstisch.

Das liegt nicht an den Diskussionen, sondern an der Art, wie sie geführt werden. Oder noch eher an denen, die sie führen.

Wir haben das miteinander reden verlernt.

Jede:r hat gelernt, dass er:sie seine:ihre Meinung vertreten darf und kann. Aber nach der Grundschule hört die AG Streitschlichten auf. Ab der 5. Klasse sind wir plötzlich auf uns allein gestellt, wenn es darum geht, wie kommuniziert wird. Ja, später vielleicht, eines Tages, wird es Redelisten geben in großen Plenen, aber davor? In der Pubertät und im Studium, untereinander, scheint plötzlich alles erlaubt. Gespräche werden zu Diskussionen werden zu Schlammschlachten.

Menschen, die eigentlich gleicher Meinung sind, zerfleischen sich regelrecht, schlicht weil sie es können. Weil sie ja sagen dürfen, was sie sagen wollen. Als müsste man sich an keinerlei Regeln halten, wenn es keine offiziellen Vorgaben zum Thema Netiquette gibt. Als hätte jede:r die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Nur wofür? ÄNDERN. Tut sich so nichts.

Es gibt kein Umdenken. Keine Einsicht, kein Einlenken. Alle haben weiter individuell recht.

Es wird so viel darüber diskutiert, wie diskutiert werden soll. Das ist auch wichtig, bis zu einem gewissen Punkt. Sprache ist wichtig. Und mit Zeit und Diskussionen ändert auch sie sich. Ich bin die erste, die sich für genderneutrale Sprache und politische Korrektheit einsetzt. Aber nicht, wenn darüber Inhalte verloren gehen. Wenn statt über Sexismus nur über gender-Varianten debattiert wird und sich die verschiedensten Lager gegeneinander ausspielen, dann läuft etwas schief. Wenn gendernde Feminist:innen solchen, die es nicht tun, ihr feministisch-Sein absprechen, dann frage ich mich mit welchem Recht? Wenn die jüngere Generation der älteren erzählt, was Feminismus eigentlich ist. Wenn alle Solidarität einfordern, aber sich immer nur von anderen Gruppen distanzieren, dann frage ich mich, woher die Veränderungen kommen sollen und was ihre Definition von Solidarität ist?

In hierarchischen Strukturen wie Uni oder Arbeitsplatz wird oft nach außen vertreten, dass Kommunikation auf Augenhöhe stattfindet. Jede:r mit Problemen gehört wird. Gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Es im Grunde in dem Sinne gar keine Hierarchie mehr gibt. Das klingt alles schön und gut! Anarchie! Aber das ist in der Realität nicht so. Oder jedenfalls sehr selten. Oder jedenfalls habe ich es selten erlebt und in meinem Umfeld selten mitbekommen.

Strukturen werden am Ende doch genutzt, um Studierende oder Arbeitnehmer:innen klein zu halten. Natürlich nicht immer, nicht in erster Linie zu diesem Zweck und bewusst! Aber doch… Wenn Studierende Kritik an Professor:innen üben und mit Gegenbeispielen und -fragen, die die Expertise eben jener Kritiker:innen überschreiten, konfrontiert werden – dann ist das keine Diskussion auf Augenhöhe. Wenn Arbeitnehmer:innen erst nach öffentlicher Kritik an Unternehmen ernst genommen werden, dann läuft das Beschwerdemanagement nicht rund. Und ja: Vielleicht sind wir, die wir gendern, uns unsererseits mit sprachlichen „Kleinigkeiten“ aufhalten, die wir ungefähr alle gesellschaftlichen Strukturen hinterfragen, vielleicht sind wir zu sensibel. Vielleicht haken wir an „den falschen“ Stellen ein, und vielleicht tragen wir so dazu bei, dass nicht mehr über Themen debattiert wird, sondern darüber, was noch gesagt werden darf.

Letztlich aber geht es nicht darum. Sondern darum, ob wir bereit sind, Strukturen zu verändern. Strukturen, die doch schon immer so sind, die doch gut funktionieren. Es geht darum, dass die Einrichtung einer Gleichstellungsstelle nicht automatisch für Gleichstellung sorgt und das Ende jeglicher Diskussion darstellt. Es geht darum, dass wir Diskussionen auf Augenhöhe führen müssen. Dass sich etablierte Strukturen ändern müssen, weil die Generationen wechseln.

Aber.

Und jetzt bin ich wieder relativ am Anfang.

Ich fordere etwas ein, was offensichtlich nicht einmal unter Studierenden oder meinetwegen Arbeitnehmer:innen funktioniert. Ich fordere Kommunikation mit gegenseitigem Respekt. Und sehe um mich herum (nicht bei meinen Freund:innen, sondern in größerem Rahmen), dass es doch nicht funktioniert. Dass sich nicht zugehört wird, Menschen einander nicht ernst nehmen, oft übereinander, selten miteinander reden. Dass nur des Diskutierens Willen diskutiert wird. Dass Menschen, gerade in der vermeintlichen Anonymität im Netz, den Respekt voreinander verlieren. Ob bewusst oder unbewusst ist egal: Alle beanspruchen für sich, recht zu haben. Mit ihrer Meinung. Das sei die wahre. Alles andere eben Spitzfindigkeiten oder schlichtweg Nonsens.

Wir müssen wieder lernen, zu kommunizieren, solidarisch.

Unter Solidarität versteht Heinz Bude Beziehung auf Augenhöhe. Solidarität funktioniert wechselseitig. Daran müssen wir uns zurückerinnern. Denn Kommunikation kann auch nur so funktionieren: wechselseitig, miteinander.