Editorial

Liebe Leser:innenschaft,

wir haben diesen Monat eine besondere Ausgabe für euch zusammenge-stellt. Anlässlich des Pride-Months und der immer noch vorherrschen-den Ignoranz, Diskriminierung und Beeinträchtigung, der queere Menschen ausgesetzt sind, werden sich unsere folgenden Artikel um diverse Themenbereiche aus und mit der LGBTQ+-Community drehen. Diese formt diesmal auch unser Titelbild. 9 Bonner Studierende zeigen stellvertretend für viele weitere Farbe, indem sie zu ihrer Sexualität und Identität stehen. Ihr seht dortDominik, Ave, Alex, Ismini, Paule, Jana, Helene, Fabi und Nina. Von Noah und Alex, beide aus dem Queer-Referat des AStAs, findet ihr in dieser Ausgabe sowohl einen sehr persönlichen Bericht, als auch ein Interview über Pride-Demos in Bonn. Außerdem findet ihr Artikel über den ESC, das TSG, historische Paragraphen gegen Homosexuelle und eine persönlichen Identitätstheorie von Helene. Wenn euch das schon zu viele Abkürzungen waren, startet ihr am besten mit dem Glossar ganz am Anfang, um erstmal einen Überblick über alle Begrifflichkeiten zu bekommen, die hier und überall in queeren Themen-bereichen so zu finden sind. Wir freuen uns auf die Zeiten, wenn Queer-ness so selbstverständlich ist, dass solche Einstige nicht mehr notwendig sind. Leider zeigen Beispiele wie Ungarn, das TSG oder leider auch die EM, dass wir noch nicht so weit sind. Wer sich übrigens fragt, wie die UEFA mit einer „Equal Game“-Kampagne in die Europameister-schaft startet, um dann die Farben dieses Magazins weder auf der Kapi-tänsbinde Neuers, noch auf dem Münchener Stadion sehen zu wollen, findet eine Antwort in Dorits Artikel über Pinkwashing. Eines können wir euch versprechen: Die FW wird auch nach dem Pride-Month noch für jeg-liche Gleichberechtigung einstehen und vertritt alle in dieser Ausgabe zu findenden Inhalte auch an allen restlichen Tagen des Jahres! Wie immer freuen wir uns über euer Feedback und wünschen viel Spaß beim Lesen!

 

Melina Duncklenberg, Chefredakteurin

Inhalts-verzeichnis

queere Sprache – ein Überblick

Gesellschaft​

Ein Plädoyer für ein mehr als zwei

Gesellschaft​

Transition- ein zäher Weg zum Ziel

Universität/Stadt

Über den langen Weg zur Bonner Pride

Wirtschaft

Wieso die Wirtschaft lieber auf Schongang setzen sollte

Geschichte

Zur Geschichte des Umgangs mit Homosexualität

Politik

Was die Landesregierung mit dem neuen Gesetz vorhat

Kultur

Der ESC und Pride

Wie sich queere Menschen den Song Contest erobert haben

Quelle: Marta Branco via Pexels

Gesellschaft

Queer gesprochen

Ein kurzer Überblick über queere Begrifflichkeiten und was dahinter steckt

von Melina Duncklenberg

01.07.2021 - Ausgabe 73

Trotz steigender Sichtbarkeit wissen viele Menschen oft noch nicht, welche Begriffe und Abkürzungen verwendet werden, um  sexuelle und geschlechtliche Vielfalt auszudrücken. Wir möchten trotzdem mit einem Text starten, der einige Wörter, Bezeichnungen und Abkürzungen (er)klärt. Diese werden einerseits in dieser Ausgabe thematisiert und sind andererseits auch einfach grundsätzlich wichtig, um nach wie vor existente, mitunter sogar verstärkte, Diskriminierung (etwa in Ungarn) und soziale Benachteiligung von Menschen dieser Community zu adressieren. Dabei ist uns klar, dass nicht alles abgedeckt werden kann, und dass es zu jeder Begrifflichkeit wohl immer mehrere Definitionen geben wird. Bei der Zusammenfassung und Erstellung dieses Glossars wurden wir durch Noah vom Queer-Referat der Uni Bonn unterstützt.

Um direkt mit der ersten Abkürzung dieses Textes anzufangen: LGBTQ+ steht für Lesbian, gay, bi, trans und queere Personen. Das Plus symbolisiert jegliche weitere Sexualität, sowie Geschlechtsidentität. Es ist wohl die bekannteste Abkürzung für alle queeren Personen und wird durch zahlreiche Alternativen ergänzt, die alle gemeinsam haben, so viele Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten wie möglich in einem zusammenzufassen. Auch der Begriff „queer“ dient diesem Zweck. Auch wenn er früher negativ konnotiert für sonderlich oder seltsam stand, hat er sich ungefähr seit der Jahrhundertwende als Selbstbezeichnung etabliert, hinter der ein Großteil der Community steht, und fasst heute eine immer stärker vertretene Gemeinschaft von Menschen zusammen, deren Sexualität nicht heterosexuell ist und die nicht cisgeschlechtlich sind.

Die Geschlechter

Es ist wichtig, folgende Dinge zu unterscheiden: das „biologische“ und das „soziale“ Geschlecht. Beide Formulierungen bieten allerdings Raum für Verwirrung und Missverständnis. Die englische Sprache macht es uns da einfacher als die deutsche. Hier unterscheidet man zwischen sex und gender. Spricht man von sex, ist das „biologische“ Geschlecht gemeint, welches (falls möglich) mithilfe von biologischen Geschlechtsmerkmalen, wie Geschlechtsteilen, Chromosomensätzen oder Hormonen unterschieden werden kann. Hier gibt es das männliche und das weibliche Geschlecht sowie intersexuelle Menschen. Diese haben keine eindeutigen männlichen oder weiblichen Geschlechtsmerkmale oder sowohl männliche als auch weibliche. Die medizinischen Indizien sprechen dementsprechend nicht eindeutig für männlich oder weiblich. Dass der Begriff biologisch hier in Anführungszeichen gesetzt wird, liegt daran, dass das das Wort „biologisch“ impliziert, alles andere könne nicht natürlich sein. Ein Widerspruch gegen das biologische Geschlecht bedeutet allerdings keinen Widerspruch gegen die Natur. Außerdem werden mit dem „biologischen Geschlecht“ oft nur die binären Geschlechter (männlich, weiblich) assoziiert, während die Biologie schon viel weiter ist und etliche Paper veröffentlicht wurden, welche dem folgend beschriebenen „sozialen Geschlecht“ neurologisch, molekular und psychisch eine wissenschaftliche  Daseinsberechtigung zuschreiben.

Das „soziale“ Geschlecht wird im englischen als gender bezeichnet. Dieses Geschlecht ist die persönliche Realität für jedes einzelne Individuum. Empfindet eine Person ihr Geschlecht in Übereinstimmung mit der Diagnose, die die Ärzte bei ihrer Geburt getroffen haben, ist sie cis(gender). Wenn eine Person diese Diagnose nicht nachempfinden kann, ist sie entweder trans(gender) oder nicht-binär. Nicht-Binäre Personen identifizieren sich mit keinem der beiden Geschlechter. Sie sind weder Mann noch Frau oder wechseln zwischen den Geschlechtsidentitäten. Das beschreibt man zum Beispiel als genderfluid, während man Identifizierungen außerhalb von Mann und Frau auch als genderqueer bezeichnen kann. Transgender oder transgeschlechtliche Personen widersprechen der eindeutigen Diagnose, die Ihnen oder besser gesagt ihren Eltern bei der Geburt gestellt wurde. Das heißt, ein Mensch, der bei der Geburt medizinisch gesehen als Junge eingeschätzt wurde, muss kein Junge sein. Als Embryo kann man seine geschlechtliche Identität noch nicht äußern, aber es kann gut sein, dass dieser „Junge“ realisieren wird, dass „er“ weiblich ist. Durchlebt eine Person daraufhin eine Geschlechtsangleichung, durch die ihr biologisches Geschlecht auch zu ihrem empfundenen, sozialen Geschlecht gemacht wird, ist diese Person transsexuell oder besser trans*. Während das Sternchen hinter trans jegliche Endung miteinbezieht und für die sich bezeichnende Person offen lässt, ist der Begriff „transsexuell“ nicht nur veraltet und mit pathologisierenden Diagnosen verknüpft, er kann auch in die Irre leiten. Es geht bei dem Begriff schließlich nicht um die Sexualität der Person, sondern vielmehr um die (angeglichene) Geschlechtsidentität. Dasselbe gilt für intersexuelle Personen. Auch hier wird keine Aussage über die Sexualität getroffen, sondern über die medizinische Diagnose, dass kein eindeutiges Geschlecht diagnostiziert werden konnte. Inter- sowie transsexuelle Personen können jede Sexualität ausleben, die es gibt.

»Viele dieser Begrifflichkeiten sind fließend, greifen ineinander über oder entwickeln sich fortwährend weiter.«

Und davon gibt es viele…

Die in unserer heteronormativen Gesellschaft am häufigsten vertretene Sexualität ist die Heterosexualität. Hetero steht für das andere Geschlecht, zu dem eine heterosexuelle Person Anziehung verspürt. Die Gegenstücke Homosexualität (Anziehung zum gleichen Geschlecht) und Bisexualität (Anziehung zu zwei Geschlechtern) sind wohl ebenfalls allen bekannt. Das Spektrum der Sexualitäten erstreckt sich allerdings noch wesentlich weiter als auf diese drei Begriffe. Es gibt zum Beispiel Menschen, die gar kein sexuelles Verlangen empfinden (asexuell) oder Personen, die sich zwar sexuell zu anderen hingezogen fühlen, aber keine romantischen Gefühle entwickeln (aromantisch). Pansexuelle Menschen definieren Ihre Hingezogenheit weder nach dem biologischen, noch nach dem sozialen Geschlecht einer Person. Das heißt es spielt für sie keine Rolle, ob sie eine (Trans-) Frau oder einen (Trans-)Mann daten oder welche Sexualität die Person, mit der sie schlafen, hat. Demisexuelle Menschen können erst eine sexuelle Anziehung verspüren, wenn sich eine emotionale Bindung entwickelt hat. Dementsprechend handelt es sich um eine Mischung aus Asexualität und Allosexualität, dem Gegenbegriff. Viele dieser Begrifflichkeiten sind fließend, greifen ineinander über oder entwickeln sich fortwährend weiter. Bi- und Pansexualität zum Beispiel sind inzwischen austauschbar und jemand kann gerade diesen Text lesen, eine Definition viel weiter spinnen oder ganz andere Emotionen mit einer Begrifflichkeit verknüpfen, als sie hier wiedergegeben werden. Deshalb könnte dieser Artikel vermutlich auch die ganze Ausgabe füllen, doch da auch noch die restlichen Inhalte ihren Platz finden sollen, war es das erstmal, was die queere Wörterkunde angeht.

Eine sprachliche Abbildung jeglicher Individualität ist aus denselben Gründen wichtig, aus denen wir auch gendern sollten. Sprache ist Macht und Sprache repräsentiert. Wenn weiterhin automatisch von heterosexuellen Paarkonstellationen oder nur den binären Geschlechtern ausgegangen wird und vor allem nach einer Korrektur nicht von einer subjektiven Meinung abgewichen wird, werden auch weiterhin queere Personen aus der Wahrnehmung unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Eine einfache Angabe der eigenen Pronomen kann zum Beispiel schon einen großen Unterschied machen. Wenn jede:r diese Pronomen direkt angibt, fällt es gar nicht mehr auf, wenn Menschen darauf angewiesen sind, ihre hervorzuheben, um richtig angesprochen zu werden. Schon entsteht mehr Normalität im Umgang mit, trans- und nicht-binären Menschen. Auch hier ist uns übrigens die englische Sprache voraus. Das englische they kann für nicht-binäre Personen verwendet werden, genauso wie es immer schon verwendet wurde, um eine Person zu beschreiben, deren Geschlecht man nicht kennt. Im Deutschen entwickeln sich währenddessen Alternativen, wie x, xier oder dier als Pronomen. Und wenn etwa irgendwann Coming Outs nicht mehr notwendig sind, haben wir einen weiten Weg hinter uns, an dessen Ziel sich niemand mehr für seine Sexualität oder sein wahres Ich zurücknehmen, verletzen oder einschränken lassen muss. Es ist hoffentlich allen klar, aber es kann nicht oft genug gesagt werden: Jeder Mensch auf dieser Erde muss das Recht haben, mit sich selbst im Reinen zu sein und seine eigene, individuelle Persönlichkeit ausleben zu können, ohne dabei andere in ihren Rechten einzuschränken oder zu verletzen und vor allem ohne in irgendeiner Weise selber eingeschränkt zu werden. Es fühlt sich unwirklich an, zu wissen, dass dies in kaum einem Land vollkommen der Fall ist.

Bildquelle: Anna Shvets via Pexels

Gesellschaft

Identitätstheorie

Nicht nach Rousseau, sondern frei nach mir

von Helene Fuchshuber

01.07.2021 - Ausgabe 73

Wie wichtig ist die Auseinandersetzung mit sich selbst? In einer Zeit, in der das Wort „Identitätspolitik“ nahezu als Schimpfwort gilt, setzen sich doch gerade gefühlt so viele Menschen wie noch nie mit ihrer eigenen Identität auseinander. Auf der anderen Seite kann ich das kaum beurteilen, da ich ja schließlich nur jetzt lebe. Die Frage „Wer bin ich?“ hatte schon immer, gerade für junge Menschen, ziemlich hohe Priorität. Wer bin ich oder wer will ich sein, wie will ich sein?

Auf dem Weg, Antworten auf diese Fragen zu finden, galt und gilt es immer noch, diverse Kämpfe auszufechten. Menschen kämpfen für ihren Platz in der Welt, für die Anerkennung und Akzeptanz der eigenen Identität. Sie kämpfen für Freiheit und Überleben. Kämpfen gegen vorgeformte und strukturell verankerte Bilder. Gegen Bilder, die suggerieren, was normal und akzeptiert ist oder eben auch nicht. Gegen Vorstellungen und Erwartungen von uns und anderen an uns selbst und ein gutes Leben. Das wir ja irgendwie alle führen möchten.

Einen großen Teil unseres Lebens, vielleicht den wichtigsten Teil, machen unsere Beziehungen zu anderen Menschen aus. Und da wir eben als wir, als Individuen, Teil einer jeden unserer Beziehungen und Interaktionen sind, ist die Auseinandersetzung mit uns selbst immanent wichtig. Damit wir die Beziehungen führen, die wir führen wollen, müssen wir also herausfinden, wer wir sind.

Im einfachsten Fall steht das gar nicht infrage. Im besten Fall haben Menschen ein tiefes Vertrauen in ihre eigene Identität, in alle Teile davon, und müssen diese niemandem gegenüber rechtfertigen. Im leichtesten Fall, und hiermit nähere ich mich dem Kern dieses Textes, sind Menschen cis-gender und heterosexuell. Das heißt sie identifizieren sich mit ihrem biologischen Geschlecht und führen monogame Beziehungen mit dem jeweils Gegensätzlichen. Das ist leicht (generell jedenfalls), weil es gesellschaftlich akzeptiert ist.

Aber. Das ist nicht immer so. Es ist nicht immer der leichteste Fall gegeben. Nicht immer ist alles einfach und unbedingt eindeutig. Menschen sind individuell. Also sind es ihre Identitäten auch. Nur leider sind es die Bilder, die ich eingangs erwähnt habe, nicht. Und das macht die Sache mit der Identitätsfindung schwieriger. Nicht nur für die jeweils suchende Person sowieso und in sich, sondern vor allem, wenn sie auf Widerstand von außen trifft.

Widerstand regt sich leider immer noch, wenn Menschen nicht in binäre Geschlechtervorstellungen und das heteronormative Bild von Paarbeziehungen passen. Nicht missverstehen: Mit diesem Bild an sich ist nichts verkehrt! Falsch ist aber, dass immer noch und viel zu oft jegliche Abweichungen von dieser „Norm“ als unnormal angesehen werden.

Şeyda Kurt erklärt in ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit, warum Liebe politisch ist. Sie schreibt beispielsweise über das Wort queer: „Ich verstehe darunter auch ein politisches Mindset, das Binaritäten als solche infrage stellen will“.

Binaritäten infrage stellen heißt nicht unbedingt, sie komplett ad acta zu legen. Aber es heißt, andere Möglichkeiten zu sehen und dieses Mehr als zwei zu akzeptieren. Dieses Mehr, das es bereits gibt, und mehr, das wir vielleicht noch nicht kennen oder benennen können.

Es geht um mehr Akzeptanz für Abweichungen von dem, was immer noch als normal gilt, für den Aufbruch dessen. Wir brauchen Veränderungen in unserer Wahrnehmung, in der Art unseres Sprechens und der Bewertung von Geschlecht, Sexualität und Beziehungen.

Ich will am liebsten die Streichung des Wortes „normal“. In fast jeder Lebenslage, aber insbesondere hier. Denn Fakt ist ja, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt, genauso wenig wie nur eine Art, Sexualität und Beziehung zu leben. Es gibt Menschen, die inter sind oder sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde, identifizieren, die trans* oder nicht-binär sind, und es gibt Menschen, die a-, bi-, demi- oder pansexuell, die lesbisch oder schwul sind. Sie sind keine „Ausnahmen von der Regel“. Sie sind. Schlicht und einfach.

Und nichts, aber auch gar nichts daran ist nicht normal.

»Wir brauchen Veränderungen in unserer Wahrnehmung, in der Art unseres Sprechens und der Bewertung von Geschlecht, Sexualität und Beziehungen.«

An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu Judith Butler:

Sie ist amerikanische Philosophin, Dozentin und Feministin, Vordenkerin der Queer Theory. Und sie beschäftigt sich viel mit Sprache, insbesondere mit ihrer performativen Macht. Judith Butler stellt die Stabilität “natürlicher” Tatsachen infrage. Sie sagt damit nicht, dass es keine Materie gibt, argumentiert jedoch, dass zwischen ihr, der Materie, und unserer Rezeption und Wahrnehmung davon immer die Sprache steht. Die sich wiederum ständig zitiert und in einem hegemonialen, historisch gewachsenen System „Tatsachen“ produziert und reproduziert. Das ist in ihrem performativen Charakter begründet: Durch den Sprechakt wird gehandelt, kategorisiert, Wirklichkeit geschaffen. Wenn ich sage „Ich gratuliere dir!“, dann tue ich das gleichzeitig. Durch die ständige verbale Wiederholung der Pronomen er/sein und sie/ihr wird das Geschlecht, das Menschen nach ihrer Geburt attestiert wurde, als Tatsache manifestiert.

Judith Butler diskutiert also, dass nicht nur die Geschlechtsidentität konstruierbar, sondern auch das „natürliche“ Geschlecht konstruiert ist. Sie plädiert für eine radikale Dekonstruktion. Für einen Aufbruch und Ausbruch aus dem, was als gegeben und normal gilt. Aus der Zweiteilung. Aus der Überordnung von Heterosexualität. Aus der Trennung von sex und gender hin zur Akzeptanz der Konstruktion und gleichzeitigen Dekonstruktion.

 

Der Weg dahin ist noch lang.

Ist das überhaupt der Weg, den wir gehen sollten?

 

Denn so viel Zuspruch sie und andere Theoretiker:innen der Queer Theory von einigen Seiten bekommen, so viel Gegenwind gibt es aus anderen Richtungen.

Die Diskussion werde auf einer rein akademischen Ebene und für tatsächlich Betroffene nahezu unverständlich geführt. Und ja, da ist sicher etwas dran. Wenn Mensch sich täglich Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt sieht, dann ist die Phrase „radikale Dekonstruktion der Geschlechter“ vermutlich nicht unbedingt Teil dieser Lebensrealität. Aber generell ist das, fürchte ich, mit den meisten Theorien so. Sie werden als Teil ihrer Natur häufig in akademischen Räumen aufgestellt, und die, um die es geht, denken die Theorien nicht mit.

Eine Theorie, die sich mit Geschlecht und Identität beschäftigt, ist aber immerhin in einer Hinsicht deutlich inklusiv: Sie betrifft uns alle.

 

Wir alle haben Identitäten, leben eine Art der Geschlechtlichkeit und führen in irgendeiner Form Beziehungen. Und da eben wir ein Teil jeder unserer Beziehungen sind, müssen wir uns auch mit uns selbst beschäftigen. Und auch wenn wir alle unterschiedlich mit uns selbst umgehen, die eher theoretische Auseinandersetzung vielleicht nicht überall stattfindet und stattfinden muss, so hat sie trotzdem ihre Berechtigung. Und (ein weiteres und, Entschuldigung), auch wenn es für einige leichter ist, die eigene Identität zu begreifen und zu benennen, so ist doch auch ein Blick über den eigenen Tellerrand von Zeit zu Zeit wichtig.

 

Ich glaube also, dass die, die die Möglichkeit der Auseinandersetzung haben und wahrnehmen, das nicht nur für sich tun. Dass jede Auseinandersetzung, die Aufmerksamkeit schafft und Veränderung hin zu mehr Akzeptanz für Vielfalt für Queerness fordert, einen Beitrag leistet.

Einen Beitrag dazu, dass eines Tages nicht mehr unterschiedlich bewertet wird, ob eine Frau eine Frau liebt oder einen Mann, eine Person nicht-binär ist oder trans* oder cis, Paare heiraten, Häuser bauen, Kinder kriegen oder nicht. Damit wir uns eines Tages von dem Wort normal entfernen.

Über die Autorin

Helene Fuchshuber

Hat sicher nicht die Wahrheit mit Löffeln gefressen und verkündet hier auch keine neuen Weisheiten. Aber sie findet, es gibt einige Dinge, die nicht häufig genug gesagt und geschrieben werden können. Damit sich endlich endlich etwas verändert. 

Foto: Ronny Bittner

Transition ist mehr als nur ein Coming-Out

Ein bürokratischer und frustrierender Parkour

Ein Gastartikel von Noah Joel Madest

01.07.2021 - Ausgabe 73

“Hey, ich bin Noah und das ist meine Stimme 14 Monate auf Testo!” So oder so ähnlich sahen meine Instagram Stories über das letzte Jahr verteilt aus. Mit regelmäßigen Updates versuchte ich mir und den Menschen in meinem Leben (zumindest denen, die Instagram haben) meine Transition aufzudröseln und zu veranschaulichen. Einerseits tue ich dies aus Bequemlichkeit, da die regelmäßig aufkommende Frage nach meinem Befinden in Bezug auf meine Hormontherapie irgendwann ziemlich anstrengend werden kann. Andererseits habe ich somit meinen kleinen persönlichen Vlog, auf den ich in der Zukunft mal zurückschauen und sagen kann: “Hey, ich bin Noah und ich bin stark geblieben, egal wie viele Steine die Gesellschaft und die deutsche Politik  mir in den Weg gelegt haben.”.

Hey, ich bin Noah und ich bin mir schon länger darüber bewusst, dass ich nicht das Mädchen bin, als welches ich anhand meiner äußerlichen Geschlechtsmerkmale in meine Geburtsurkunde eingetragen worden bin. Mein Therapeut würde jetzt nach frühen Anzeichen dieser als (noch) psychisch geltenden Krankheit fragen und sich dann mit mir über mein Masturbationsverhalten unterhalten wollen. Aber bevor wir überhaupt an den Punkt kommen, müssen wir noch ein paar Schritte zurückgehen. Seit der fünften Klasse hatte ich einen sehr geschlechtsneutralen Spitznamen. Lehrpersonen nannten mich so, Mitschüler:innen, Verwandte… bis hin zum Abitur. Somit wurde ich bis 2016 praktisch nie mit meinem Geburtsnamen konfrontiert. Ich sehe das immer als etwas Gutes und etwas Schlechtes: Mein Rufname und somit meine Identität nach Außen hin waren nie wegen meines Namens mit Vorstellungen und Erwartung von sozialen Geschlechtern aufgeladen, sodass ich meine Schulzeit mehr oder weniger in Ruhe genießen konnte. Sobald ich mich aber als 18-Jähriger an der Uni einschrieb, sollte sich das alles etwas ändern. Überall musste ich mich mit meinem Geburtsnamen vorstellen, das “Frau” vor jedem Aufrufen war wie ein Schlag ins Gesicht. Immer und immer wieder. In meinem geisteswissenschaftlichen Studium lernte ich, dass Geschlecht ein soziales Konstrukt ist, und langsam ergab alles ein bisschen mehr Sinn. Mir war klar, dass trans* Menschen existieren. Da ich mit 15 feststellte, dass mir Frauen eher gefallen als Männer, war ich mit LGBTQ+ vertraut, aber das T in LGBTQ+ bezog sich immer auf „die Anderen“. Es war nie etwas, was ich für mich selber in Betracht gezogen hätte. Es reichte meinen Eltern ja schon, dass das älteste Kind nicht heterosexuell ist (joke’s on you, wenn wir es ganz genau nehmen bin ich jetzt heterosexuell). Ich fing an, mich in die Thematik mehr einzulesen, schaute viele YouTube Videos und traf auf viele, viele Hürden. Vielleicht hatte ich ein paar Tage für mich selber akzeptiert, dass ich nicht dem Geschlecht entspreche, für das mich alle halten. Als ich dann aber auf besagte Hürden stieß, ging es für mich “back into the closet” und das für eine ganze Weile.

Ungefähr ein Jahr und einen Studiengangswechsel später traf ich auf eine Englisch Tutorin, die uns fragte, ob wir irgendwelche Namen bevorzugen, die nicht auf ihrer Liste stünden und die bat, dass wir doch auch unsere Pronomen aufschreiben sollten. Transinklusion? In einem akademischen Kontext? Außerhalb von Social Media? Durch sie lernte ich dann das Queer-Referat Bonn kennen und dieses öffnete mir Türen zu einer ganz neuen Realität, die ich als solche bisher nicht kennengelernt hatte. Einer der Mitarbeitenden nahm mich mit zum monatlichen Trans*-Café. Bis dahin lehnte ich den Begriff “trans*” für mich ab, internalisierter Transphobie und Gatekeeping in der eigenen Community sei Dank. Doch plötzlich sah ich Menschen in meinem Alter, die auch ihr Geschlecht hinterfragten, die teilweise schon lange geoutet waren, die sich auch nicht ganz sicher waren, die lachend über das System herzogen, die nach meinen Pronomen fragten. Monate vergingen und ich fing an, mich sehr wohl in meinem neuen Freundeskreis zu fühlen. Ich outete mich bei meiner Mutter, das war nicht ganz einfach. Ein halbes Jahr später bei meinem Vater, das war noch viel schwieriger. Ich schaute nach Babynamen, mit denen ich mich identifizieren konnte. Mir war klar, dass ich nie einen hypermaskulinen Chad verkörpern werde, aber der wollte ich auch nicht sein.

Irgendwann kommt der Punkt an dem ein Name einfach in deinem Kopf hängen bleibt und du dich vor deinem Spiegel wieder und wieder selber vorstellst. Ich bin Noah. Durch den gefundenen Namen ging es nun an ein Outing nach dem anderen, hauptsächlich in dem Teil des Freundeskreises, der noch nichts davon wusste. Das Outing bei Verwandten überließ ich meinen Eltern in ihrem Weihnachtsrundbrief. Es sind mittlerweile fast zwei Jahre vergangen seitdem ich zum ersten Mal richtig festgestellt habe, dass ich nicht cis* bin. Ich wusste, ich will eine Hormontherapie anfangen. Ich wusste, ich will eine flache Brust haben. Letzteres wusste ich im Rückblick auch schon mit 16, aber das habe ich damals auf das Problem des Sport-BHs geschoben und darauf, dass es einfacher ist Fußball mit flacher Brust zu spielen.

Also ging die Suche nach Therapeut:innen los. Denn man muss sich von medizinischem Personal bescheinigen lassen, dass man die Krankheit “Transsexualismus” hat, und als wären 19-20 Jahre Unwissen, Unsichtbarkeit und Unwohlsein nicht genug gewesen, fing die Demütigung jetzt erst richtig an. Man gibt sich zufrieden mit der Person, die man als erstes findet, weil es nicht viele Therapeut:innen gibt, die “Transsexualismus” diagnostizieren. Bei manchen hat man Glück und man bekommt die Indikation für Testosteron ziemlich schnell, bei anderen darf man erstmal zwei Jahre in Therapie kommen, um ganz sicher zu gehen, dass die volljährige Person bloß nichts Falsches macht. Ich bekam ein Mittelding und durfte im Juni 2019 zu meiner ersten Therapiestunde. Mein Therapeut hatte angeblich schon viel Erfahrung mit trans* Menschen, ist aber mit seinem Wortschatz und seiner Umgangsweise in den Achtzigern stecken geblieben. Beim Aufrufen wurde ich erstmal fett misgendert. Im Raum angekommen wurde erstmal der Elefant im Raum adressiert: Ich habe lange Haare (etwas über die Schultern). Dann wurde mir gesagt, dass ich mich ja schon sehr weiblich kleide (ich hatte mir extra mein maskulinstes Outfit rausgesucht… aber gut.) und, dass ich mich ja nicht beschweren darf, wenn man mich als Frau liest. Ob ich denn wirklich denke, dass ich ein Mann sei. Wieso ich Skinny Jeans trage. Wieso meine Haare lang sind. “Ah Sie stehen auf Frauen! Gut!” (Gut??). Seit wann ich denke, zu wissen, dass ich ein Mann bin. Wieso meine Haare lang sind. Wie viele Partner:innen ich schon hatte. Wieso ich mir die Haare nicht abschneide. Wie meine Beziehung zu meinen Eltern aussieht. Wie es für mich war, immer wieder umzuziehen. Wieso meine Haare so lang sind.

Parallel suchte ich eine Endokrinologie auf, die mir letztendlich das Rezept für Testosteron ausstellen kann, welches ich erst bekomme, wenn mein Therapeut mir eine Indikation ausstellt. Meine Endokrinologin ist bis dato die einzige professionelle Person, mit der ich wegen meiner Transition zu tun hatte, die mich wie einen Menschen und nicht wie eine pathologisierte laufende Krankheit behandelt hat. Durch bürokratische Fehler und meinen “Transsexualismus” als Sonderfall für meine (private) Krankenkasse dauerte die Übernahme der Therapie länger als geplant und musste 10 Wochen pausiert werden. Das wären fünf Stunden von den zwölf gewesen, die ich für die Ausstellung einer Indikation brauchte. Nach viel zu vielen Gesprächen über meinen Körper, meine Vorlieben im Bett und ob es nicht doch nur der Feminist in mir ist, der das klassische Frauenbild einfach ablehnt und deswegen denkt, er sei ein Mann, bekam ich endlich den Zettel, mit dem ich dann zu meiner Endokrinologin rennen konnte, um einen weiteren Zettel zu erhalten, den ich dann in der Apotheke vorzeigen konnte.

April 2020. “Hey, ich bin Noah und das ist meine Stimme einen Tag auf Testo!”. Der Tag war endlich gekommen. Seit einem Jahr wurden mir Zweifel von meinem Therapeuten und dem Gesundheitssystem in den Kopf gehämmert. Ich war nervös. Ich war erleichtert. Ich war enttäuscht, dass es nicht der romantisierte, magische Moment war, den ich mir vorgestellt hatte. Das war der erste Meilenstein. Endlich geschafft! Ein paar lagen aber noch vor mir. Die Namens- und Personenstandsänderung hatte ich eigentlich schon in die Wege geleitet.

Kurzer Flashback zu Februar 2020. Für die Namensänderung musste ich erst Prozesskostenhilfe beantragen. Nach deren Zusage durfte ich dann den eigentlichen Antrag einreichen. Das Amtsgericht antwortet dann mit zwei Gutachter:innen bei denen man sich nochmal eine Bescheinigung abholt, dass man wirklich trans* ist. Wegen der Pandemie und der Überforderung von Digitalisierung wartete ich bis Juni auf eine Antwort. Unter den zwei genannten Gutachter:innen war auch mein Therapeut. Der war gar nicht begeistert, weil das ja noch mehr Arbeit für ihn bedeutete. Bei der zweiten Gutachterin bekam ich zum Glück ziemlich schnell einen Termin. Nachdem mein Therapeut überraschend schnell ein Gutachten erstellt hatte und ich der zweiten Gutachterin zweieinhalb Stunden meine Lebensgeschichte in ein Diktiergerät gesprochen hatte, wartete ich wieder. 

Eigentlich ist die juristische und medizinische Transition gesetzlich getrennt, sodass ich während des Wartens auch die Kostenübernahme für meine Mastektomie beantragen konnte. Im August hatte ich sogar schon mein Vorgespräch bei meiner Wunschklinik, da ich ein Schreiben der behandelnden Ärztin für die Beantragung brauchte. Meine Beihilfe machte mir aber einen Strich durch die Rechnung. Ich musste erst meine Namensänderung abgeschlossen haben, um meine Mastektomie genehmigt zu bekommen.

Ich bin Noah. Es ist Sommer 2020, der Lockdown nagt an uns allen und ich bin unglaublich frustriert. Der Paragraph, der die strikte Trennung bestimmt, gilt nicht für private Krankenkassen. Außerdem müsste die Beihilfe noch eine weitere begutachtende Person bestimmen, die sich auskennt, um die Mastektomie zu übernehmen. Das zweite Gutachten kam dann endlich im September an. An dieser Stelle möchte ich nochmal erwähnen, dass mein Termin bei der Gutachterin im Juli war. Im Oktober kam dann endlich der Bescheid vom Amtsgericht Köln. “An Frau Geburtsname (…) Die Vornamen der Antragstellerin werden geändert. Die Antragstellerin trägt künftig den Namen “Noah Joel” (…) Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin als dem männlichen Geschlecht zugehörig anzusehen ist.” Deren Ernst?

Ich bin Noah. Jetzt auch gesetzlich. Der Bescheid wurde sofort an die Beihilfe und das Standesamt geschickt. Er sei erst in zwei Wochen rechtskräftig, solange solle ich noch auf die Beantragung der Mastektomie und der neuen Geburtsurkunde warten. Mein Studierendenausweis wurde sofort geändert. Somit lief ich eine Weile mit einem Personalausweis rum, der nicht mit meinem Studierendenausweis übereinstimmte. Zwei Wochen später meldete sich die Beihilfe, sie würden jetzt eine begutachtende Person suchen, das könne aber etwas dauern. Wir merken uns, der Prozess der Beantragung wurde im Juni in Gang gesetzt, es ist jetzt November. Weitere zwei Wochen vergehen. Die Geburtsurkunde wurde mir nicht automatisch zugesandt, wie versprochen. Die Beihilfe meldete sich. Sie haben einen geeigneten Therapeuten gefunden und schicken ihm nun alle Unterlagen, damit auch er nochmal bestätigen kann, dass ich wirklich trans* bin. Er habe aber gerade viel zu tun.

Dezember 2020. Ich bin Noah, meine Familie ist zu Besuch und wegen Weihnachten und Neujahr erreiche ich nirgendwo niemanden. Im Januar bekomme ich einen Anruf von dem dritten Gutachter, ob ich noch irgendwas zuzufügen hätte, er würde das Gutachten jetzt fertigstellen. Nach zwei, drei Versuchen, mein Standesamt zu kontaktieren wegen einer neuen Geburtsurkunde, erreiche ich endlich jemanden. Sie würden mir die neue Urkunde sofort zuschicken. Wenigstens das haben sie eingehalten. Mit der Geburtsurkunde konnte ich nun auch endlich meinen neuen Personalausweis beantragen. Dazu ist in Bonn genau eine Person berechtigt. Schließlich meldete sich selbst die Beihilfe Mitte Februar mit einer Zusage für die Mastektomie per E-Mail  zurück. Alles schien zu laufen. Bis die Klinik sich meldete. Mit der E-Mail könne ich keinen Termin machen. Da müsse schwarz auf weiß eine bestimmte Formulierung stehen, welche die Beihilfe mir aufgrund wirrer, bürokratischer Gründe nicht aushändigen konnte. Frustriert ging ich zu meinem Termin im Stadthaus, wo ich problemlos meinen neuen Perso beantragen konnte. Die Bearbeitung würde nochmal 4-6 Wochen dauern. Nach vielen E-Mails und Telefonaten schickte dann endlich meine private Krankenkasse besagte Formulierung an die Klinik und ich bekam überraschenderweise einen Termin für zwei Wochen später.

17. März 2021. Mein neuer Personalausweis liegt zur Abholung bereit. Bevor ich mich auf den Weg nach Düsseldorf zur OP machte, schaute ich noch schnell im Stadthaus vorbei. Am nächsten Morgen sollte es losgehen. Ich konnte bei einer Krankenschwester für die Nacht unterkommen. Sieben Uhr morgens war ich dann auf Station. Auf dem Armband, das ich bekam, stand noch mein Geburtsname. Aber in dem Moment war alles egal. Es sind fast zwei Jahre vergangen, seitdem ich dieses Ziel eindeutig vor Augen hatte. Ich wurde in Narkose gelegt und wachte zwei Stunden später und zwei Kilo leichter auf. Auf dem Weg zu meinem Zimmer hörte ich nur, wie eine Krankenpflegerin verwirrt fragte, warum ich in das Männerzimmer geschoben werde. Der Pfleger antwortete nur: “Nein, nein, das ist schon richtig.”. Glücklicherweise teilte ich mir mit einem anderen Transmann das Zimmer, der auch gerade seine Mastektomie hinter sich hatte. Nach fünf Tagen wurde ich entlassen und lernte gezwungenermaßen nach Hilfe zu fragen, da ich mich so gut wie gar nicht bewegen konnte.

Juni 2021. Viel aufgestaute Frustration, langes Warten, zu viele Tränen und drei Gutachten später sitze ich an meinem PC, trage ein offenes Hawaiihemd und werde zu 50% der Zeit von Fremden mit männlichen Nomen und Pronomen angesprochen. Ein Fortschritt.

Hi. Ich bin Noah. Ich bin ein nicht-binärer Transmann mit langen Haaren, der Gitarre und Klavier  spielt, gerne mit seinem Hund spazieren geht, im Tierheim aushilft und sein Bestes tut, die Welt jeden Tag ein kleines Stück zu verbessern.

Gastartikel

Noah Joel Madest

hat uns nicht nur diesen extrem persönlichen Bericht zur Verfügung gestellt, sondern uns auch maßgeblich im Namen des Queer-Referates bei der Erstellung dieser Ausgabe unterstützt.

Über das Queer-Referat: Als Queer-Referat möchten wir alle Personen willkommen heißen, die aufgrund ihrer sexuellen, romantischen und/oder geschlechtlichen Identität marginalisiert werden: lesbische, bisexuelle, schwule und trans* Personen, asexuelle und aromantische Personen, nichtbinäre und genderqueere Personen, die sich selbst nicht als trans* bezeichnen (möchten), inter* Personen, queere Personen und alle weiteren, deren Label (oder Präferenz keines zu verwenden) hier nicht explizit aufgeführt ist. Unsere Arbeit beruht maßgeblich auf zwei Säulen: einerseits leisten wir politische Bildungsarbeit zu Themen sexueller, romantischer und geschlechtlicher Vielfalt aus einer intersektionalen Perspektive,  zu denen alle Interessierten eingeladen sind, andererseits betreiben wir Community Building mit einer Vielzahl sozialer Veranstaltungen. Wir freuen uns bei unseren Veranstaltungen auch über Besucher*innen, die nicht (mehr) studieren!

Der Konflikt zwischen Politik und Kommerz zeigt sich auf Pride-Demos deutlich. (Bildquelle: Karl Bewick via unsplash)

Pride versus Prejudice?

Die ersten Bonner Pride-Demos des 21. Jahrhunderts

Ein Interview geführt von Lily Hußmann

29.06.2021 - Ausgabe 73

Schonmal auf einer Pride-Demonstration gewesen? Nein? Ich auch nicht. Anlässlich des Pride-Monats habe ich mit Alex Münster vom Queer-Referat der Uni Bonn gesprochen, um mehr über Pride-Demos und ihre Bedeutung für die Bonner LGBTQ+-Community zu erfahren. Letztes Jahr hat er bei der Planung und Durchführung der Pride-Demo Bonn mitgewirkt und tut dies auch bei der für den Juli geplanten Demo dieses Jahr.

 

FW: Was ist überhaupt eine Pride-Demo und wie kann sich eine Person, die noch nie auf einer solchen Demo war, die Pride-Demo in Bonn vorstellen?

Alex Münster: Also ich fange erst einmal mit einem historischen Rückblick an, ich denke, das ist zur Erklärung ganz hilfreich. Ein paar Leute erinnern sich wahrscheinlich, dass wir vor zwei Jahren eine große Jahreszahl hatten – das 50-jährige Jubiläum der Stonewall Riots 1969 in New York. Pride-Demos gab es seit 1970 dann jedes Jahr in den USA, um an diesen Aufstand queerer Menschen gegen willkürliche Polizeigewalt zu erinnern. Mit der Zeit ist das dann auch nach Deutschland übergeschwappt und hier finden nun schon seit einiger Zeit Pride-Demos in verschiedenen Formen statt. Es ist vielleicht etwas weit weg, aber in Bonn gab es im 20. Jahrhundert schon einmal Pride-Demos, dann aber für eine ganze Zeit nicht mehr. Deswegen klingt es auch total bizarr zu sagen, dass letztes Jahr die erste Bonner Pride-Demonstration des 21. Jahrhunderts geplant wurde. Statt einer Demo gab es in Bonn bislang immer ein Straßenfest mit Infoständen und Bühnenprogramm. Wir haben uns dann aber als Bündnis entschieden, dass wir auch mal eine Demo veranstalten wollen. Bei der Wahl der Route war es uns wichtig, queere Orte in Bonn abzudecken, deshalb wollten wir bei der AIDS-Hilfe in Beuel starten und dann rüber Richtung Uni und Innenstadt, wo wir als Queer-Referat aktiv sind. Zur Stimmung: Tendenziell würde ich sagen, dass auf jeden Fall keine Grabesstimmung herrscht.

FW: Wie wichtig sind Pride-Demos für die Community? Welche Bedeutung haben sie?

Alex: Im historischen Sinne natürlich die Erinnerung an die Stonewall Riots, wie ich schon gesagt habe. Wie es im Namen „Pride“ steckt, geht es auch um Stolz als Umkehrung dieser Scham, die queeren Menschen lange Zeit auferlegt wurde für ihre Abweichung von der Hetero-Norm – sowohl im Begehren als auch in der Geschlechtlichkeit. Es geht darum, diese negativen Gefühle nicht zu internalisieren, sondern sein eigenes Sein trotz der gesellschaftlichen Hindernisse irgendwie positiv zu besetzen. Ich denke, dieses Gefühl transportieren viele Pride-Veranstaltungen. Deswegen kann es gerade auch für junge queere Menschen sehr bestärkend sein, ein solches Event zu besuchen. Ich zumindest fand es beim ersten Mal sehr mitreißend, das zu erleben.

Je nach Veranstaltung verstehen sich Pride-Demos – auch unsere – als politische Veranstaltungen, die eine Verbesserung der Rechte queerer Menschen erreichen wollen, indem ihre Sichtbarkeit dort in den Vordergrund gerückt wird oder sie immerhin nicht vergessen werden, wie jetzt vor dem Hintergrund der Pandemie. Zurecht liegt natürlich der Fokus auf der Pandemie, aber bei vielen Maßnahmen wurden queere Menschen nicht mitgedacht und es gibt immer etwas zu verbessern.

Jetzt ist es ja so, dass Pride mittlerweile so etwas wie eine Jahreszeit ist, nicht nur während des Pride-Monats Juni, in dem diese Ausgabe erscheint, sondern den ganzen Sommer über. Queere Menschen möchten da natürlich zusammenkommen und die Sichtbarkeit nochmal erhöhen. Man sieht auch, dass viele Unternehmen während des Juni ihre Logos um einen Regenbogen ergänzen, da könnte man jetzt natürlich diskutieren, ob das wirklich etwas bewegt oder ob es einfach eine reine Kommerzialisierung ist. Ob man das nun gut findet oder nicht, der Sommer ist die Zeit, in der queere Themen die meiste Aufmerksamkeit erfahren und das möchten wir nutzen.

FW: Du hast von Spannungen zwischen reinem Kommerz und politischer Veranstaltung gesprochen. Wo positioniert sich die Pride-Demo Bonn in diesem Spannungsfeld?

Alex: Dieses Spannungsfeld gibt es deutschlandweit, aber auch international, würde ich sagen. Mittlerweile ist durch die fortschreitende gesellschaftliche Akzeptanz die Wut auf einen Staat, der nicht genug für die Rechte einer Minderheit tut, etwas abgeebbt. Dadurch hat Pride besonders in den ganz großen Städten einen gewissen Partycharakter angenommen. Firmen schicken mit ihrem Kapital große Wägen zu den Demos, die irgendwelche Partymusik spielen – dadurch wird den kleineren Gruppen irgendwo die Sichtbarkeit genommen. Zum Beispiel haben wir es beim CSD Köln erlebt, dass wir als Referats-Fußtruppe quasi zwischen zwei riesigen Trucks gelaufen sind, sodass wir mit unserer politischen Botschaft ziemlich untergegangen sind. Wir hatten versucht, Musik von queeren Künstler:innen zu spielen, die auch eine politische Message hat, und dann wurden wir sogar noch vom Rand angemacht, warum wir nicht auch coolere Musik spielen würden. Das war für mich ziemlich ernüchternd, sodass es mir ein Anliegen war da eine Alternative zu bieten. Es gibt auch in Köln und in ganz vielen anderen Städten alternative CSDs.

In Bonn gab es so eine Demo gar nicht, sodass sich im letzten Jahr ein Bündnis aus verschiedenen Gruppen zusammengefunden hat, die ohnehin schon eng zusammenarbeiten. Das sind wir, dann die AIDS-Hilfe Bonn, das Jugendzentrum GAP und das Antidiskriminierungsprojekt SCHLAU als Kern. Der Frauenstreik ist dann schnell dazugestoßen. Unser Anliegen war es, den Fokus auf die politische Botschaft zu legen. Durch die Pandemie war von vornherein klar, dass Party nicht geht, das kam uns ein Stück weit ganz gelegen.

Einer unserer Grundsätze ist, dass wir uns als gänzlich unkommerziell verstehen, sodass bei uns keine Unternehmen mitlaufen können. Es dürfen auch keine Parteien klar erkennbar mitlaufen, weil wir uns nicht für den Wahlkampf vereinnahmen lassen wollen. Der dritte Grundsatz ist, dass wir bei der Durchführung möglichst nachhaltig sein wollen – wir wollen also nicht mit irgendwelchen riesigen Trucks rumfahren. Letztes Jahr hat sich zum Beispiel eine tolle Gruppe gefunden, die Rikschas fahren wollten für Menschen, die nicht lange laufen können. Es finden sich also auch nachhaltige Lösungen.

FW: Letztes Jahr wurde von euch die erste Bonner Pride-Demo des 21. Jahrhunderts geplant. Warum gerade zu diesem Zeitpunkt während der Pandemie?

Alex: Ich denke so eine allgemeine, länger angestaute Frustration hat dazu beigetragen. Aber es kam genau in der Pandemie dazu, weil auf einmal spürbar wurde, dass queere Personen in der öffentlichen Debatte nicht immer mitgedacht werden. Das hat viel damit zu tun, was überhaupt als Familie anerkannt wird. Es gibt natürlich eine gleichgeschlechtliche Ehe, aber was wird tatsächlich im öffentlichen Diskurs als Familie anerkannt? Was ist mit Wahlfamilien, die sich nicht unbedingt durch eine Heirat oder eine Verwandtschaft auszeichnen? Was ist mit queeren Jugendlichen, die in ihrer Familien nicht auf Akzeptanz stoßen, die auf einmal ihre Jugendzentren nicht mehr besuchen können? Die Räume der Community sind schlagartig alle weggefallen. Wir als Referat haben schon versucht, Online-Angebote zu schaffen, aber das ist leider nicht für alle so zugänglich. Für manche ist es aber wiederum auch zugänglicher, es hat sicher auch Vorteile gebracht und es ist nicht schlecht, das Digitale mitzudenken. Aber uns in dieser Lage nicht mit dieser Unsichtbarkeit zufriedenzugeben war eine große Motivation zu sagen: „Dieses Jahr melden wir jetzt mal eine Demo an“. Was letztendlich genehmigt wurde war dann leider nur eine Kundgebung, die aber auch eine gute Erfahrung war, vielleicht als Aufwärmung für die tatsächliche Demo, die dieses Jahr geplant ist.

 

»Aber uns in dieser Lage nicht mit dieser Unsichtbarkeit zufriedenzugeben war eine große Motivation zu sagen: "Dieses Jahr melden wir jetzt mal eine Demo an"«

FW: Wie ist es denn dann bei der Kundgebung letztes Jahr gelaufen?

Alex: Die Kundgebung lief erfreulich glatt ab. Im Vorfeld war es sehr anstrengend. Wir hatten eine Demoroute geplant von Beuel in die Innenstadt und waren da auch kompromissbereit was die Details anging. Aber leider kam es dann in der Auseinandersetzung mit der Bonner Polizei so, dass uns quasi nicht genug vertraut wurde, dass diese Demonstration tatsächlich als politische Veranstaltung abläuft. Man hat befürchtet, dass die halbe Welt nach Bonn kommt, um auf einmal hier Party zu machen, weil die ganzen CSDs ausfielen. Wir als Orga fanden diese Erwartung sehr unrealistisch, eine ganz starke Überschätzung der Attraktivität der Stadt Bonn, auch, wenn ich es hier sehr schön finde. Es fanden ganz viele solcher Demos in anderen Städten statt und die waren auch nicht überlaufen. Aber so war dann halt die Argumentation. Wir fanden das eine sehr krasse Unterstellung an die Community und an uns als Orga, aber da konnten wir dann auch mit einer Klage beim Verwaltungsgericht mit Eilantrag nichts ausrichten, die wurde abgelehnt. Es war auf jeden Fall alles sehr fragwürdig, wie das abgelaufen ist, aber da will ich jetzt gar nicht zu weit ausholen, das lässt sich im Bericht von bonnFM vom letzten Jahr noch viel ausführlicher finden, wenn das jemand googeln möchte.

Letztendlich genehmigt wurde dann eine Kundgebung am Hofgarten, da lag dann der Fokus auf den Redebeiträgen, die wir eingereicht bekommen hatten. Ich würde sagen, die kamen auch durchaus gut an. Es waren dann so 200 bis 250 Personen da, mehr nicht. Das hätte auch locker als Demo funktioniert, vor allem, wenn wir uns anschauen, dass es dann ein paar Wochen später eine Großdemo von Fridays for Future gab. Ich persönlich muss sagen, ich fand die Polizeipräsenz an dem Tag sehr erschreckend, der ganze Hofgarten war eingekesselt wie ich es bei noch keiner anderen Demo in Bonn erlebt habe. Es war also wohl immer noch die Befürchtung da, es würden irgendwelche Zustände ausbrechen. Ansonsten hat mit den Hygienemaßnahmen aber alles reibungslos funktioniert. Es hat uns auf jeden Fall als Vorgeschmack nur noch mehr angestachelt, für dieses Jahr eine richtige Demo auf die Beine zu stellen.

FW: Ihr seid also super motiviert. Wie ist denn bisher der Plan für dieses Jahr?

Alex: Wir sind seit dem Frühjahr dran und haben kürzlich den geplanten Demotermin bekanntgegeben, das ist der 31. Juli, ein Samstag. Wir sind also aus dem Pride-Monat etwas raus, aber das erstreckt sich ja mittlerweile über den Juni hinaus. Was unser Konzept angeht, ist das ähnlich wie letztes Jahr. Wir hatten eine Blockstruktur vorgesehen, damit Menschen sich nochmal in Gruppen zusammenfinden können für bestimmte politische Botschaften. Zum Beispiel wird es einen BIPOC-Block geben, wo auf Rassismuserfahrungen, insbesondere innerhalb der LGBT+-Community, aufmerksam gemacht wird. Da gibt es auch durchaus noch Raum sich bei der Block-Orga einzubringen. Wer Interesse hat, kann gerne mal die Kanäle der Pride-Demo Bonn aufsuchen, da gibt es Infos dazu. Wir hoffen, dass wir dieses Mal von Beuel rüber laufen können, um einfach mehr Sichtbarkeit zu erreichen als im Hofgarten, da gab es nicht so viele Passant:innen. Für die Community war es natürlich ein schönes Event, aber Sichtbarkeit sieht dann doch anders aus. Wir hoffen, dass wir dieses Jahr auf dem Münsterplatz und an der Oxfordstraße mehr Sichtbarkeit schaffen können. Ansonsten läuft die Planung aber sehr gut bis jetzt.

FW: Das freut mich. Jetzt besteht das Jahr ja nicht nur aus Demos. Was macht das Queer-Referat sonst noch?

Alex: Wir haben zwei Standbeine, würde ich sagen. Das ist einmal dieser Socialising- und Community-Aspekt, aus dem das Referat gewissermaßen einmal entstanden ist. Als zweites Standbein verschreiben wir uns einer politischen Bildungsarbeit mit Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen, Dokumentarfilmen… und das ist etwas, das sich glücklicherweise auch ganz gut im digitalen Format fortsetzen lässt. Wir haben seit Beginn der Pandemie einige Vorträge durchgeführt, wo wir externe Referent:innen einladen, die erfreulich gut besucht waren. Ansonsten haben wir diesen Monat kein großartiges Pride-Programm, weil unsere Demo ja in den nächsten Monat fällt, aber da planen wir auch noch ein Programm im Vorfeld.

FW: Hast du noch eine abschließende Message für die Leser:innen der FW?

Alex: Ja, also ich freue mich, dass ihr euch informiert und ich hoffe, ihr könnt Anregungen mitnehmen aus der ganzen Ausgabe. Ich finde, gerade dieses Spannungsfeld zwischen Kommerzialisierung und politischer Veranstaltung ist ein total großes und da gibt es auf jeden Fall verschiedene Perspektiven und Seiten. Ich glaube auch so ein Partycharakter einer Demo ist nicht immer schlecht und natürlich auch ein Indikator für einen Fortschritt. Das Wichtigste: Geht  ins Gespräch und sucht weiteren Austausch mit anderen Menschen zu diesem Thema.

Über die Autorin

Lily Hußmann rät euch, bei folgenden Instagram-Kanälen vorbeizuschauen:

@lbstbonn

@pride_demo_bonn

und auf der Website des Queer-Referates:

queer-bonn.de

 

Wirtschaft

Pinkwashing

Wie eine rote Socke die blendende Weißheit der Wirtschaft schönfärben soll

Ein Kommentar von Dorit Selting

29.06.2021 - Ausgabe 73

Erstmal Schongang.

Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Pinkwashing bezeichnet das Phänomen, mit queerer Symbolik für sich zu werben und sich im gleichen Zuge hinter einer prätentiösen Vielfalt zu verschanzen.

Dazu sei vorweg angemerkt, dass nicht jede Werbung mit LGBTQ+ Themen automatisch Pinkwashing darstellt. Es gibt tatsächlich auch Unternehmen, die sich wirklich für unterstützende Projekte einsetzen und Systeme erneuern. Diese sind vom Begriff und folglich auch von diesem Artikel ausgenommen.

“Halt stopp”, könnte man jetzt noch einwenden, “das ist doch immer noch besser, als weiterhin auf black and white zu setzen”. Und ja, natürlich mag ich es, dass alle Icons nun regenbogenfarben aufblitzen und ich mir die passend bedruckten T-Shirts kaufen kann. Ich will nur sagen, dass das am Ende noch nicht genug gewesen sein kann, wenn man sich mit Diversity-Federn schmücken möchte.

Die Werbung steigert vielleicht das Bewusstsein. Aber sie schärft es nicht.

Das, was die Unternehmen in diesem Kontext produzieren, ist zu vergleichen mit dem unüberlegten Posten von ein paar Kacheln auf Instagram, die plötzlich die ganze Welt erklären sollen. Beides hat meist nicht den Zweck, effektiv aufzuklären, sondern eher, sich mit angeblichem Engagement zu profilieren.

Am Ende wird eben zu oft konstruktive Kooperation mit Kommerzialisierung verwechselt.

Flecken lokalisieren.

Um besagte tatsächliche Supporter (kein pinkwashing) von den Pretendern (sehr wohl pinkwashing) zu unterscheiden, ist es essentiell, deren Strategie herauszuarbeiten.

Und diese hat mit Kaufkraft zu tun: Viele Homosexuelle leben willentlich oder unwillentlich kinderlos und haben einen entsprechend hohen Lebensstandard. Experten reden auch vom „rosa Geld“, das der Markt anlocken möchte und sich unter den Nagel reißen will.

Werbung soll also vordergründig nur als Kanal funktionieren, um queere Menschen anzusprechen.

Schmutzentfernung.

Was könnten Unternehmen nun tun, um die Flecken, die sie durch Pinkwashing hinterlassen, zu beseitigen?

Zum Beispiel authentischen Support für Queer People in den eigenen Reihen liefern, wie etwa konkret Bewerbungserleichterung, indem man auch queere Personen deutlich in Ausschreibungen adressiert. Den Rainbow Profit spenden an Organisationen, die sich da besser auskennen und die sich dann zum Beispiel dafür einsetzen, dass queere Rechte auch anderswo gestärkt werden. In Bangladesch, wo viele pinkwashing Produkte hergestellt werden, stellt Homosexualität immer noch einen Straftatbestand dar.

Stattdessen fällt auf, dass gerade international agierende Unternehmen nur in westlichen Ländern mit Pride werben. BMW zum Beispiel färbte sein Logo in den sozialen Medien bunt – allerdings nicht auf den Kanälen östlicher Länder wie Russland und Saudi-Arabien. Nach mehreren Vorwürfen beriefen sie sich auf die dortige Gesetzeslage. Spätestens jetzt müsste es offensichtlich sein, dass sie sogar in Angesicht der Tatsache oder gerade deshalb auf ihre Unterstützung verzichten, obwohl es dort am meisten nötig wäre.

Wer zu heiß wäscht, dem läuft die Wäsche ein.

Konklusion: Der Kapitalismus ist kurzsichtig. Er hat oft nicht verstanden, dass ein Regenbogen nicht mit einem großem Pinsel an den Horizont gemalt werden kann, sondern dass er als natürliches Phänomen entsteht, nämlich in Form von Lichtreflexen, die sich aus der richtigen Umgebung von alleine ergeben.

Geschichte

Ein Sittengemälde

Zur Geschichte des Umgangs mit Homosexualität in Deutschland

Ein Essay von Jan Bachmann

29.06.2021 - Ausgabe 73

Homosexualität gab es zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Dies bedeutet natürlich nicht, dass sie auch immer offen ausgelebt werden konnte. Oftmals mussten Menschen ihre Homosexualität verheimlichen, konnten sie nicht ausleben oder waren gar – geprägt durch Erziehung und Umwelt – nicht einmal in der Lage, ihre eigene Homosexualität zu erkennen. Heute herrscht in der Bundesrepublik – wie in vielen anderen westlichen Ländern auch – eine fast vollständige rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen. Dabei ist es nur etwas mehr als fünf Jahrzehnte her, dass der Staat homosexuelle Männer strafrechtlich verfolgte und einsperrte. Vergessen sollten wir aber auch nicht, dass auch heute noch in vielen Ländern der Welt Homosexuelle staatlich verfolgt, eingesperrt oder sogar hingerichtet, von selbsternannten Bürgerwehren misshandelt oder von wütenden Mobs totgeschlagen werden.

Die Geschichte vieler Homosexueller, ihres Verlangens, ihrer Lust und ihrer Liebe ist meist auch die Geschichte des Umgangs der Gesellschaft mit ihrer Homosexualität. Die Probleme mit Homosexualität entstanden stets nur aus dem Umgang der Gesellschaft mit ihr, aus Ablehnung, Verfolgung, Diskriminierung. Betrachtet man die Geschichte des Umgangs mit Homosexualität, so fällt auf, dass Homosexuelle und ihre Liebe über lange Zeit nur das Objekt anderer Menschen waren, die zwar nicht das Recht, aber doch die Macht hatten, sie einzusperren, auszustoßen, ihnen Gewalt anzutun, sie zu töten oder in den Suizid zu treiben.

Ein Kreuzzug gegen Islam und Analsex

Bis in das 12. Jahrhundert hinein wurde Homosexualität – gemeint ist hier der Analverkehr zwischen Männern – zwar als Sünde angesehen, wurde aber nicht bestraft. Als Folge der Propaganda für die Kreuzzüge gegen den Islam jedoch – es wurde etwa behauptet, Mohamed habe die Sodomie (unter Sodomie verstand man damals jede Form von Geschlechtsverkehr, die nicht der Fortpflanzung dient) unter die Menschen gebracht, oder Muslime würden Bischöfe und christliche Knaben vergewaltigen – wurde Geschlechtsverkehr zwischen Männern in fast ganz Europa ein Verbrechen, das mit dem Tode bestraft wurde. Dass es indes oft keine Gesetze gegen weibliche Homosexualität gab, bedeutet freilich nicht, dass lesbische Frauen nicht ebenfalls verfolgt und diskriminiert wurden. Frauen galten damals in der Regel ohnehin nicht als eigenständige Rechtssubjekte, was die Anzahl der möglichen Lebensentwürfe recht überschaubar machte: Sie mussten zwingend einen Mann heiraten und sich ihm unterwerfen, adlige Frauen konnten allenfalls ins Kloster gehen.

… sechs Jahrhunderte später …

Gut sechs Jahrhunderte später wurde in Folge der Französischen Revolution homosexueller Verkehr in Frankreich im Jahre 1791 legal. In Preußen war man – quelle surprise – nicht ganz so fortschrittlich: Für homosexuellen Verkehr wurde man nun auch hier nicht mehr hingerichtet, es drohte lediglich noch eine mehrjährige Zuchthausstrafe mit Willkommen und Abschied, was bedeutet, dass man bei Haftantritt und Haftende verprügelt wurde. Außerdem wurde man für immer aus dem Ort, in dem der homosexuelle Sex stattfand, verbannt und das Andenken an den Verurteilten musste gänzlich getilgt werden. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts fielen die Prügelstrafen weg und aus der Zuchthaus- wurde eine Gefängnisstrafe.

Bayern als Vorreiter

Offener war man hingegen in jenen deutschen Staaten, in denen der Horizont der Menschen nicht mit dem Kasernenhof endete: In Bayern etwa, welches  traditionell immer als eines der liberalsten deutschen Länder galt, stellte man sich grundsätzlich die Frage, wieso etwas strafbar sein soll, was zwei mündige Menschen einvernehmlich miteinander machen. Im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 entfiel die Strafbarkeit homosexuellen Verkehrs. Gibt es kein Opfer, so gibt es auch keine Straftat. Es sollte noch über anderthalb Jahrhunderte dauern, bis sich diese Erkenntnis in Deutschland durchsetzte.

Schon wesentlich früher erkannt hatte dies aber schon der Schriftsteller Karl Maria Kertbeny, der sich 1869 in Flugblättern gegen die Übernahme des Verbotes von Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern aus dem preußischen Strafgesetzbuch in das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes aussprach. Er gilt als einer der ersten Aktivisten der Schwulenbewegung. Kertbeny vertrat die Ansicht – zur damaligen Zeit übrigens eine völlige Mindermeinung – Homosexualität sei angeboren und nicht veränderbar. Ähnlich äußerte sich auch Karl Heinrich Ulrich. Ulrich, der homosexuelle Frauen als Urninden, homosexuelle Männer als Urninge bezeichnete – der Begriff der Homosexualität wurde erst ein wenig später durch Kertbeny geprägt – bekannte sich offen zu seiner Homosexualität. Er verfasste Schriften zum Thema und trat auf dem Juristentag 1867 in München öffentlich für die Straffreiheit des homosexuellen Verkehrs ein. Ulrich gilt als Pionier der Sexualwissenschaft: Als Reaktion auf sein Wirken erhielt er zahlreiche Zuschriften. Diese umfassenden Schilderungen Betroffener waren eine wichtige Quelle für seine Forschungen. Nach der Reichsgründung 1871 wurde homosexueller Sex zwischen Männern durch § 175 des Strafgesetzbuches in allen deutschen Ländern strafbar, insgesamt nahm die Verfolgung homosexueller Menschen zu. Karl Heinrich Ulrichs Archiv wurde von den preußischen Behörden beschlagnahmt und vernichtet, Ulrich selbst ging ins Exil.

Die Weimarer Republik

Das Kaiserreich ging bekanntlich zu Bruch und mit ihm auch die Filmzensur – zumindest kurzzeitig. So konnte 1919 mit „Anders als die anderen“ erstmals ein Film in den Kinos laufen, der sich mit Homosexualität befasste. In dem Film geht es um einen homosexuellen Mann, der von einem Stricher erpresst wird. Zu Zeiten des § 175 waren homosexuelle Männer oft Opfer von Erpressungen. Nach Wiedereinführung der Zensur wurde der Film aber verboten. Ebenfalls 1919 gründete Magnus Hirschfeld das Institut für Sexualwissenschaft, seinerzeit eine einzigartige Einrichtung. Neben der wissenschaftlichen Forschung bot das Institut vielen Homosexuellen Hilfe und Beratung an. Am 6. Mai 1933 wurde das Institut im Zuge der Bücherverbrennung zerstört.

Verschiedentlich gab es Bestrebungen, die Strafbarkeit homosexuellen Verkehrs aufzuheben, nicht selten begründet damit, dass Homosexualität eine psychische Krankheit sei, ein Homosexueller also nicht schuldhaft handle. Diese Auffassung war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht verbreitet: Psychologie wurde als Wissenschaft immer mehr anerkannt, gleichzeitig aber war das psychologische Wissen – zumindest bei einigen Zeitgenossen:innen – noch recht beschränkt.

Die Gesellschaft der 1920er Jahre war in der Frage des Umgangs mit Homosexualität offener als die Gesellschaft im Kaiserreich. Es gab sogar Schlager, in denen Homosexualität thematisiert wurde, und sicherlich gab es in einigen Großstädten gewisse Freiräume und Nischen, in denen sich so etwas wie gesellschaftliches, homosexuelles Leben entwickeln konnte. Doch sollte man sich keine allzu bunten Vorstellungen hiervon machen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen und Diskussionen in dieser Frage standen noch ganz am Anfang und wirklich golden waren die 20er Jahre auch nur im Vergleich zu dem, was danach kam.

Die Verfolgung während des Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nahm die Zahl der wegen § 175 Verurteilten stetig zu. Im Zuge der „Niederschlagung des Röhmputsches“ – den es natürlich nie gegeben hatte – wurde reichsweit über Röhms Homosexualität berichtet. Röhm sei bei seiner Verhaftung in der „ekelhaftesten Position“ angetroffen worden. Tatsächlich war Hitler, der sich sehr entsetzt zeigte, Röhms Homosexualität seit Jahren bekannt, Ernst Busch hatte sie gar in einem Lied thematisiert. In der Folge wurde dann eine „moralische Erneuerung“ gefordert – sprich: die Verfolgung Homosexueller nahm zu. 1935 wurde der § 175 erheblich verschärft, schon eine einfache Berührung konnte für eine Verurteilung reichen.

Insbesondere nach Kriegsbeginn wurden immer mehr homosexuelle Männer, insbesondere im „Wiederholungsfall“, in Konzentrationslager gebracht. In den Lagern mussten sie einen rosa Winkel auf ihrer Kleidung tragen. Schätzungsweise 5 000 Homosexuelle wurden ermordet. Lesbische Frauen wurden ebenfalls verfolgt. Häufig wurden sie als sogenannte  Asoziale ebenfalls in Konzentrationslager gesperrt.

Die Entwicklung in Ost

In das Strafgesetzbuch der DDR wurde 1949 der § 175 in der Fassung, wie er vor der Verschärfung im Jahre 1935 gegolten hatte, übernommen. Ebenfalls übernommen wurde der im Jahre 1935 eingeführte § 175 a: Wegen schwerer Unzucht zwischen Männern wurde hiernach bestraft, wer eine homosexuelle Handlung – also nicht bloß Geschlechtsverkehr – beispielsweise unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses oder gewerbsmäßig vornimmt. Durch diese Regelung sollte die junge sozialistische Gesellschaft vor „sozialschädlichen homosexuellen Handlungen“ geschützt werden.

Ab den späten 50er Jahren wurden in der DDR Strafverfahren wegen einfachem – also: einvernehmlichen – homosexuellen Verkehr zwischen Erwachsenen meist wegen Geringfügigkeit eingestellt, wenn von den Taten keine Gefahr für die sozialistische Gesellschaft ausging, was immer das auch heißen mag. 1968 wurde homosexueller Verkehr zwischen Männer schließlich völlig legal. Mit dieser Regelung war der Gesetzgeber DDR – wie übrigens auch in einigen anderen gesellschaftspolitischen Fragen – etwas fortschrittlicher als jener in der Bundesrepublik. Freilich waren diese Regelungen aber nicht das Ergebnis einer vorangegangen gesellschaftlichen Debatte. Und so war es um die Akzeptanz von Homosexualität in der DDR auch nicht anders gestellt als im Westen, vielmehr galt sie als bürgerlich dekadent und widersprach den spießigen, preußisch-sozialistischen Moralvorstellungen der SED. Schwule Männer wurden meist aus der SED ausgeschlossen. Die sehr überschaubare Schwulenszene der DDR wurde von der Stasi überwacht.

… und West

In der Bundesrepublik blieb, anders als in der DDR, der § 175 in der 1935 verschärften Fassung weiter bestehen, allerdings wurde er nun etwas enger ausgelegt. Insgesamt wurden in der Bundesrepublik ca. 100.000 Ermittlungsverfahren wegen des § 175 geführt, etwa 50.000 Männer wurden verurteilt, was in etwa der Zahl der zwischen 1933 und 1945 verurteilten Homosexuellen entspricht. Die Polizei legte bei den Ermittlungen gegen homosexuelle Männer oft einen erstaunlichen Eifer an den Tag: Nicht selten lauerten Polizisten als Provokateure in Zivil mit heruntergelassen Hosen in öffentlichen Bedürfnisanstalten, die als Treffpunkte Homosexueller galten, auf mögliche „Täter“.

Wer erwischt wurde, musste nicht nur mit einer Verurteilung, sondern auch mit sozialer Ächtung rechnen: Bevor kurze Gefängnisstrafen durch Geld- oder Bewährungsstrafen ersetzt wurden, mussten Verurteilte stets ihr Strafe im Gefängnis absitzen, was unweigerlich zum Verlust des Arbeitsplatzes führte. Viele dieser so „Vorbestraften“ fanden nie wieder eine feste Anstellung.

Im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen kam es immer wieder zu regelrechten Suizidwellen unter Homosexuellen.

Zwar hatte sich der deutsche Juristentag bereits 1951 für die Abschaffung der Strafbarkeit der männlichen Homosexualität ausgesprochen, dem entgegen standen aber mächtige Vereinigungen wie etwa der sogenannte Volkswartbund, dessen Ziel der Kampf gegen Verstöße gegen die öffentliche Sittlichkeit war und der sogar eine Verschärfung der Strafbarkeit forderte.

Klagen gegen den § 175, in denen etwa angeführt wurde, dass die zum damaligen Zeitpunkt in der Bundesrepublik gültige Fassung im Jahre 1935 ohne Beteiligung des Reichstags beschlossen wurde und nationalsozialistisches Unrecht sei, oder, dass es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstieße, dass männliche Homosexualität strafbar, weibliche aber straffrei sei, wurden vom Bundesverfassungsgericht abgewiesen.

… von „kleinen Jungen“ und „kleinen Mädchen“

Allgemein war die Stimmung sehr ablehnend gegenüber Homosexuellen, wie das ja auch heute noch vielerorts der Fall ist. Während aber heute Homosexualität auch in jenen Gesellschaften, in denen ihr viele Menschen mit einer ablehnenden Haltung gegenüberstehen, durchaus häufig thematisiert wird – mancherorts scheint es gar so, als wäre Homosexualität für alles Übel unserer Zeit verantwortlich – fand die Thematik damals im gesellschaftlichen Diskurs, der in den Fünfzigerjahren ohnehin wenig geführt wurde, kaum statt. Wenn überhaupt, gab es unqualifizierte Beiträge zum Thema, wie beispielsweise „Anders als du und ich“, ein reichlich verunglückter Film über Homosexualität, gedreht von dem ebenfalls reichlich verunglückten Regisseur Veit Harlan.

Symptomatisch erscheint folgende Begebenheit: In den Fünfzigerjahren erschien eine zeitgemäß vertonte Version des Liedes, das der Volksmund in den Zwanzigerjahren über den Serienmörder Fritz Haarmann gedichtet hatte. Haarmann hatte damals 24 Jungen und junge Männer ermordet, die Leichen teilweise zu Wurstwaren verarbeitet und anschließend verspeist oder an Unwissende weitergegeben, was im Text des Liedes auch sehr plastisch geschildert wird. Mord und Kannibalismus empfand man nicht unbedingt als problematisch, wohl aber, dass die Ermordeten männlich waren, sodass der entsprechende Vers geändert wurde: aus „kleinen Jungen“ wurden „kleine Mädchen“ und die Welt war wieder in Ordnung.

Das Ende staatlicher Repression?

Im Zuge der großen Strafrechtsreformen entfiel 1969 die Strafbarkeit homosexuellen Verkehrs unter Erwachsenen, in der Folge wurden nach und nach die Schutzalter abgesenkt und schließlich nach der Wiedervereinigung auf das gleiche Niveau wie bei heterosexuellem Sex gesetzt.

Die Legalisierung erfolgte im Rahmen eines grundsätzlichen Umdenkens über den Zweck des Sexualstrafrechts: War früher der Zweck dieses Rechtsgebiet der Schutz der „guten Sitten“ – also eine Vorstellung von (vermeintlicher) Moral -, ist es heute die sexuelle Selbstbestimmung. So entfiel dann beispielsweise auch die Strafbarkeit von Kuppelei – der Ermöglichung vorehelichen Geschlechtsverkehrs.

Das Ende der Strafbarkeit des sexuellen Verkehrs zwischen erwachsenen Männern bedeutete freilich nicht das Ende gesellschaftlicher und auch staatlicher Diskriminierung. Bereits 1869 hatte Karl Heinrich darauf hingewiesen, dass die Polizei Listen mit den Namen Homosexueller führe. Diese als rosa Listen bekannt gewordenen Karteien verschwanden allerdings keineswegs mit der Legalisierung homosexuellen Verkehrs, vielmehr wurden sie von pflichttreuen Polizist:innen sorgfältig gepflegt und dienten als wichtige Hilfe bei so allerlei – nennen wir es mal – Ermittlungen: Bei ungeklärten Tötungsdelikten, verschwundenen Kindern etc. klapperte man – wenn man keine richtige Spur hatte – erst einmal die Homosexuellen ab, die ja ohnehin etwas suspekt waren. Die bayrische Polizei hörte im Jahr 2005  auf, danach zu fragen, wer homosexuell ist. Auch heute noch kommt es – wenn auch nicht mehr so häufig – zu homophoben Übergriffen seitens der Polizei.

Nach der Legalisierung

Trotz – oder besser –  gerade wegen der mannigfaltigen Diskriminierung fanden Anfang der Siebziger Homosexuelle zusammen, um gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen. Nun musste man zumindest keine Strafverfolgung mehr fürchten, wenn man sich offen als schwul bekannte. Anfangs war die Provokation eines der verbreitetsten Mittel im Kampf für gleiche Rechte. Sicher wäre aber ohnehin jede Form des Eintretens für die Rechte Homosexueller von einem großen Teil der damaligen Gesellschaft als Provokation gewertet worden.

Auf Einsicht und Verständnis von Menschen, die teilweise noch in der Kaiserzeit sozialisiert worden waren, denen Homosexualität, aber auch überhaupt das Führen von Debatten und Diskussionen, in hohem Maße suspekt waren, konnte man nicht hoffen. Hier hieß es sich einen eigenen Platz zu erkämpfen und diesen zu verteidigen. Die Scham und das Verstecken, worunter viele Homosexuelle litten, wurden durchbrochen, freilich aber nicht ohne, dass die zuvor befürchteten Folgen – etwa gesellschaftliche Herabwürdigung – eintraten.

Bewusst wurden ursprünglich abwertend gemeinte Bezeichnungen wie „schwul“ oder das englische „gay“ übernommen und positiv besetzt.

Und jetzt?

Heute haben – wie anfangs gesagt – Homosexuelle die gleichen Rechte wie Heterosexuelle. Auch sind die wegen § 175 Verurteilten rehabilitiert und symbolisch entschädigt worden.

Auch wenn die gesellschaftliche Akzeptanz immer weiter zunimmt, haben auch heute noch viele Homosexuelle – ebenso wie zahlreiche anders queere Personen – mit Anfeindungen, Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen. Noch immer suizidieren deutlich mehr homo-  als heterosexuelle Jugendliche.

Immer mal wieder bäumen sich besorgte Eltern, wütende Bürger:innen oder manch Bonner Professor gegen eine angebliche „Verschwulung“ oder die „Homo-Lobby“auf. Auch wenn diese Stimmen leiser werden, heißt es hier wachsam zu sein.

Zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt uns aber die junge Generation, die heute wesentlich selbstverständlicher mit Homosexualität umgeht als es noch vor wenigen Jahrzehnten üblich war. Auch viele Ältere, die vielleicht noch gewisse Vorurteile haben, ändern oft – freilich nicht immer – ihre Meinung, wenn sie sich ernsthaft mit dem Thema befassen. Ein Anlass hierfür ist nicht selten ein Outing einer nahestehenden Person. So wie ein offen homosexuell lebender Mensch noch in der Generation unserer Eltern oder Großeltern für Empörung gesorgt hat, wird dann künftig hoffentlich für Empörung sorgen, wie man mit diesem Menschen umgegangen ist.

Politik

Die Bundestagsdebatte um das Transsexuellengesetz

Eine vertane Chance auf Selbstbestimmung

Ein Gastartikel von Milan Nellen

29.06.2021 - Ausgabe 73

Der 19. Mai 2021 hätte für sehr viele trans* Personen in diesem Land ein historischer Tag der Freiheit und Selbstbestimmung werden können. Dazu kam es jedoch nicht. An diesem Tag standen im Bundestag drei Anträge von der Linken, den Grünen und der FDP zur Debatte, die die Lage von trans* Personen erheblich hätten verbessern können. Die beiden Gesetzesanträge von FDP und Grünen hatten zum Ziel gehabt, die bisherigen, extrem repressiven Regelungen zu verändern, denen  Menschen unterworfen sind, wenn sie ihren Namen ändern lassen und mit ihrer Transition beginnen möchten. Nach den herkömmlichen Regelungen, die nun aufgrund des Abstimmungsverhaltens der Fraktionen der großen Koalition im Verbund mit der AfD bis auf Weiteres beibehalten werden, ist dieser Prozess mit einem oft sehr langwierigen und extrem teuren Marathon an psychologischen Begutachtungen und einem erheblichen juristischen, sowie bürokratischen Aufwand verbunden. Teil dieses Aufwandes ist dabei eine Art Anhörung, die an den Amtsgerichten durchgeführt wird und die von vielen als sehr belastend und zum Teil als stark entwürdigend wahrgenommen wird. Das sollte nun mit den beiden Gesetzentwürfen anders werden: Es sollte ermöglicht werden, dass Menschen ohne den bisher verlangten gewaltigen Aufwand dem Standesamt gegenüber ihre Geschlechtsidentität erklären und im Anschluss daran ohne größeren Aufwand ihre Personalpapiere und ihren Namenseintrag entsprechend ändern können. Danach wären dann auch medizinische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung möglich.

Im ebenfalls an diesem Tag abgestimmten Antrag der Linken wurden Entschädigungszahlungen des Staates an trans- und intergeschlechtliche Menschen gefordert, die aufgrund der Gesetzgebung Opfer fremdbestimmter operativer Eingriffe geworden sind. So wurden laut dem Antragstext zwischen 1981 und 2011 über 10.000 Menschen in Deutschland als Voraussetzung für eine Änderung ihres Personenstandseintrages zwangssterilisiert. Wie die beiden anderen Anträge wurde jedoch auch dieser von der Mehrheit aus Großer Kollation und AfD abgelehnt, wobei sich die FDP-Fraktion hier enthielt, während Linke und Grüne auch dem Antrag der FDP in ihrer großen Mehrheit zustimmten. Das Abstimmungsverhalten der AfD und der CDU bedarf natürlich keiner großen Erklärung; die unveränderte Erhaltung aus vergangenen Zeiten überlieferter gesellschaftlicher Werte und sozialer Strukturen wie eben auch die der etablierten Geschlechterverhältnisse ist Kernthema konservativer und reaktionärer Politik. Nicht umsonst hatte auch die sich eher liberal gebende Angela Merkel bei der entsprechenden Abstimmung gegen die Einführung der „Ehe für alle“ gestimmt. Was wirklich erklärungsbedürftig ist, ist das Abstimmungsverhalten der Sozialdemokratie. Nach dem Bekunden ihrer Abgeordneten auch während der Debatte vom 19. Mai, unterstützt die SPD die Ziele, welche durch die Anträge umgesetzt werden sollten, nämlich rückhaltlos. Nichtsdestoweniger stimmten die Abgeordneten der SPD mit überwältigender Mehrheit gegen die Anträge. Der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Brunner sprach in seiner Rede sogar explizit an, er hätte sich aus der CDU eigentlich ein Entgegenkommen in dieser Frage gewünscht und sei sehr betrübt, dass es nicht dazu gekommen sei, jedoch sei die SPD natürlich vertragstreu. Politisch wäre die SPD in einer starken Position gewesen, Druck auf die Union auszuüben, denn allein Union und AfD hätten die Zustimmung zu zumindest einem der beiden Gesetzesanträge nicht verhindern können. Mit ihrem Handeln hat die SPD erneut eine Abwendung von ihren eigenen Überzeugungen zur Schau gestellt – in einer Woche, in der die SPD montags die Regenbogenfahne vor dem Willy-Brandt-Haus gehisst hat, während sie mittwochs die Interessen von trans*Menschen mit Füßen trat.

Not-so-fun-facts zum Transsexuellengesetz • Seit der Verabschiedung 1980 wurden mehrere Aspekte des Gesetzes für verfassungswidrig erklärt • Erst seit 2011 ist eine Zwangssterilisation nicht mehr mit einer Geschlechtsangleichung verknüpft • Erst Anfang dieses Jahres ist es Eltern oder Ärzten nicht mehr möglich ohne die Einwilligung von inter*-Kindern eine Genitaloperation bzw. eine Geschlechtsangleichung durchzuführen.

Kultur

Der erste Pride im Jahr

Warum der Eurovision Song Contest für queere Menschen so wichtig ist

Ein Kommentar von Tom Schmidtgen

29.06.2021 - Ausgabe 73

Jedes Jahr im Mai steigt irgendwo in Europa eine riesige Party und 200 Millionen Zuschauer:innen sind live vor dem Fernseher dabei. Der Eurovision Song Contest ist die größte Musikshow der Welt. Künstler:innen wie ABBA, Udo Jürgens, Céline Dion und Johnny Logan würde es ohne den Grandprix entweder gar nicht geben oder sie wären nie so bekannt geworden. Für queere Menschen ist der ESC außerdem eine große, bunte Party, ein Spektakel unter Gleichen und für einige auch ein Safe Space.

Bereits 1997 nahm der erste offen schwule Künstler am Wettbewerb teil, der Isländer Páll Óskar. Er erreichte den 20. Platz. Ein Jahr später gewann die transsexuelle Sängerin Dana International aus Israel den ESC. Das war ein Meilenstein für alle queeren Menschen in Europa: Auch ein Schwuler, auch eine Transsexuelle können ihr Land für einen Wettbewerb vertreten und sogar gewinnen – und das nur wenige Jahre, nachdem die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität endgültig von der Liste der Krankheiten gestrichen hatte! Dana International nutzte ihre Bekanntheit, um für LGBTQ+-Rechte zu kämpfen, engagierte sich unter anderem 1999 für die niederländische Sektion von Amnesty International, um auf Menschenrechtsverletzungen von Schwulen und Lesben aufmerksam zu machen. Dann, im Jahr 2014, gelang Conchita Wurst erneut ein kleines Wunder: Die Drag Queen mit Bart aus Österreich gewann den ESC, bekam sogar acht Punkte im Televoting aus Russland – jenem Land, das zuvor den Beitrag verteufelte und für eine harte und queerfeindliche Politik bekannt ist. Conchita riss nach ihrem Sieg die Faust nach oben und rief: „We are unstoppable!“ Diese drei Worte haben das Gefühl von Millionen Menschen widergespiegelt.

Über die Jahre eroberten sich immer mehr Homosexuelle und queere Menschen den einst drögen und steifen Grand Prix Eurovision de la Chanson, welcher am Anfang den Künstler:innen sogar verbot, zu tanzen! Der ESC wurde immer bunter und zog eine bunte Community an, die sich im Umfeld des Wettbewerbs wohler fühlte und etablierte. Wer irgendwann im Leben sein inneres Coming Out hat und den ESC sieht, wird hängen bleiben: Die trashige Musik, die schrillen Kostüme und die wahnsinnig gut inszenierte Live-Show mit Punktevergabe hat etwas Anziehendes.

Einmal im Jahr fühlen sich queere Menschen, die Show, Musik und Trash lieben, unter Gleichen, fühlen sich aufgehoben und verstanden. Beim ESC ist (fast) alles erlaubt: Musikgenre egal, Frisur egal, Bauchumfang egal. Es können sich Omis auf die Bühne stellen und ein Brot backen, knapp bekleidete Polinnen können lasziv Butter stampfen oder tätowierte Italiener:innen mit Kajal dürfen Pyrotechnik en masse verschießen. Der ESC ist so bunt wie unsere Gesellschaft – kein Abbild, aber ein wichtiger Ausschnitt. Auch deswegen fühlen sich queere Menschen aufgehoben: weil hier bestimmte Fragen nicht gestellt werden, die uns draußen auf der Straße jederzeit drohen; weil wir zeigen und lieben können, wer wir sind. Der ESC ist so etwas wie der kalendarisch erste CSD im Jahr und läutet Ende Mai bereits den Pride Month ein. Es gibt nur wenige Shows im Fernsehen, die es schaffen, so viele Klischees gleichzeitig zu bedienen und gleichzeitig so frei und nicht affektiert zu sein. Der ESC will nicht queer sein, er ist es. Der ESC will nicht Europa in seinen Facetten widerspiegeln, er tut es. Der ESC will nicht politisch sein, doch er ist es. Denn queere Menschen erobern sich diese Bühne, die sie verdienen und sagen: Wir sind hier. Wir sind laut. Ihr könnt uns nicht stoppen. Das ist Politik.

Über den Autor

Tom Schmidtgen

liebt den ESC selbst seit er Denken kann und hat sich immer schon gefragt, warum er dort auf so viele Gleichgesinnte trifft.