Editorial

Liebe Leser*innen,

Wir können es selbst kaum glaube, aber das Semester neigt sich schon wieder dem Ende entgegen… Und also haltet ihr hiermit die letzte FW des Sommersemesters 2022 in den Händen. Wir wünschen euch schonmal ganz viel Erfolg bei etwaigen Klausuren, Hausarbeiten etc. und hoffen, dass ihr den Sommer trotzdem genießen könnt!

Für uns heißt es jetzt jedenfalls erstmal: Sommerpause. Allerdings sind wir schon am austüfteln, wie ihr die Zeit ohne regelmäßig erscheinende FW trotzdem mit uns, aber eben in anderer Form, überbrücken könnt 😉 Seid also gespannt (wir sind es auch) und behaltet Instagram und unserer Website im Blick!

An dieser Stelle jetzt aber erstmal viel Freude beim Lesen! Wir hatten wie immer viel Spaß beim Zusammenstellen – ein ungeplant entstandener Schwerpunkt liegt beim Feminismus, eine zweiter auf Zügen… Außerdem könnt ihr diesmal einen Gastartikel lesen und endlich auch unser drittes neues Redaktionsmitglied lesend kennenlernen.

Viiiele Grüße,

Eure Lily & Helene 

Helene Fuchshuber und Lily Husmann, Chefredakteurinnen

Inhalts-verzeichnis

Zu Alice Schwarzers Kampf gegen trans Personen

Feministische Theorie empfinden: Das andere Geschlecht im Museum

Das Gerichtsverfahren von Johnny Depp x Amber Heard

 9€-Ticket Reiseinspiration

Eine Rezension zu Fatma Aydemirs Geschichte über Menschen, die nie eine Geschichte bekamen

Gedanken über Gedanken in Zügen

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Was heißt es, eine Frau zu sein? Unsere Vorstellung vom Frau-Sein beeinflusst auch, wie wir Transidentität verstehen. (Bild: Erika Fletcher via unsplash)

Gesellschaft

Stimmungsmache gegen trans* Personen

Eine Auseinandersetzung mit Alice Schwarzers Kritik am Selbstbestimmungsgesetz

von Nicole Marczyk

28.06.2022 - Ausgabe 84

Liebe Frau Schwarzer,

vor ein paar Monaten erschien ein Gastartikel von Ihnen in Der Zeit, in dem Sie sich kritisch gegenüber dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz geäußert haben, welches auf Wunsch vieler Transaktivist:innen und mittlerweile auch der Ampelkoalition das noch geltende und seit langem in der Kritik stehende Transsexuellengesetz (TSG) ablösen soll. Während für eine Personenstandsänderung nach dem TSG beispielsweise zwei unabhängige, teure psychologische Gutachten notwendig sind, um die eigene Transidentität zu belegen, wäre nach dem Selbstbestimmungsgesetz eine unbürokratische Personenstandsänderung beim Standesamt möglich. Ob das Selbstbestimmungsgesetz tatsächlich eingeführt werden soll und wenn ja, wie, ist aktuell Gegenstand zahlreicher Debatten. In Ihrem Debattenbeitrag haben Sie nun sehr viele, teilweise begründete, teilweise polemische und teilweise schlicht falsche Behauptungen über das Selbstbestimmungsgesetz und damit einhergehende Phänomene geäußert – das ist schade, denn statt zu einem rationalen und fairen Diskurs über eine wichtige Reform (wie auch immer sie letztlich aussehen mag) beizutragen, vergiften solche Behauptungen unsere Debattenkultur und fördern das bereits existierende Unverständnis für die Situation von trans* Personen.

In diesem Brief möchte ich mich deshalb mit Ihren Thesen und Argumenten hinsichtlich des Selbstbestimmungsgesetzes und der Situation von trans* Personen auseinandersetzen – in der Hoffnung, für ein wenig Aufklärung zu sorgen.

Trans*-Aktivismus = Essentialismus?

Seitdem in feministischen Kreisen davon ausgegangen wird, dass Geschlecht sozial konstruiert ist, stellt sich die Frage, wie das mit der Erfahrung von trans* Personen vereinbar ist, die (in den meisten Fällen) von sich selbst sagen, sie würden sich das trans*-Sein nicht aussuchen, sondern sie wüssten, dass ihr eigentliches Geschlecht nicht dem bei der Geburt zugewiesenen entspricht. Dabei stellen Sie sich auf die konstruktivistische Seite, indem Sie schreiben: „In einer vom Terror der Geschlechterrollen befreiten Gesellschaft wäre Transsexualismus schlicht nicht denkbar.“ Sie beziehen sich später immer wieder auf diesen Punkt und werfen den Selbstbestimmungsbefürworter:innen vor, dass sie von einer angeborenen Geschlechtsidentität ausgingen. Für Sie, die Sie sich in geistiger Gefolgschaft Simone de Beauvoirs begreifen und davon ausgehen, dass das Frau-Sein mit keiner angeborenen Essenz einhergeht, sondern ein durch Sozialisation und Ideologie entstandener Zustand ist, läuten da die Alarmglocken. Deshalb werfen Sie Transaktivist:innen auch vor, Natur mit Kultur zu verwechseln.

Tatsächlich ist es schwer, das Phänomen Transidentität und den Gedanken, dass Geschlecht maximal sozial konstruiert ist, zu vereinen. Besonders wenn man, wie Sie, versucht Transidentität dadurch zu erklären, dass man sich in der zugewiesenen Geschlechterrolle nicht wohlfühlt. Ließe sich Transidentität tatsächlich auf ein Unbehagen mit der Geschlechterrolle reduzieren, wäre an Ihrer Kritik, dass trans* Personen nur die binäre Schublade wechseln, statt ganz aus dem System auszubrechen, womöglich sogar etwas dran. Was allerdings einen Großteil der Verwirrung beseitigen könnte, wäre an dieser Stelle eine für den englischen Sprachraum klassische Trennung von sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) einzuführen. Wie kommen Sie denn darauf, dass Transidentität ausschließlich auf der Unzufriedenheit mit dem eigenen sozialen Geschlecht beruht? Trans* Personen, die sich geschlechtsangleichenden Eingriffen unterziehen, tun das in den allermeisten Fällen, weil sie Dysphorie, also starke negative Gefühle in Bezug auf ihre unpassenden Geschlechtsmerkmale empfinden. Glauben Sie, dass trans* Personen sich diesen Operationen unterziehen würden, wenn sie glauben würden, ihr Problem könnte viel einfacher dadurch gelöst werden, wenn sie künftig als „burschikose“ Frau oder femininer Mann leben? Offensichtlich wäre es das nicht, weshalb es auch keinen Sinn macht, Transidentität mit dem Wunsch nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen in erster Linie als Unzufriedenheit mit der zugewiesenen Geschlechterrolle, dem gender, zu charakterisieren. Es gibt außerdem auch genügend trans* Personen, die Stereotype ablehnen und nicht einfach eine Gender-Schublade wechseln, um dann als klassische Frau oder als klassischer Mann zu leben – aber trotzdem geschlechtsangleichende Veränderungen an ihren Körpern vornehmen.

Eine Option, den Vorwurf, dass trans* Personen verhindern, binäre Geschlechterrollen aufzubrechen, zu entkräften, wäre demnach eine minimale biologistische Annahme einzuführen: Nämlich die, dass es so etwas gibt wie ein „gefühltes“ biologisches Geschlecht, also eine Art der Erwartung bestimmter Geschlechtsmerkmale, die dann aber von dem tatsächlichen biologischen Geschlecht abweichen kann. Dadurch würde man vermeiden, anzunehmen, dass das biologische Geschlecht direkt mit einer bestimmten Geschlechtsrolle einhergeht. Gleichzeitig würde man aber dem Phänomen Rechnung tragen, dass es trans* Kinder gibt, die schon extrem früh wissen, dass sie trans* sind und die sehr explizit sagen, dass es ihnen nicht darum geht, lieber Mädchen- oder Jungensachen machen zu wollen, sondern dass sie eben ein Mädchen oder ein Junge sind – und einfach ein Geschlechtsteil haben, was da nicht hingehört. Und man würde den Ängsten von trans* Jugendlichen gerecht werden, die auf keinen Fall eine Pubertät im falschen Geschlecht durchlaufen wollen, weil ihr Körper in dieser Zeit irreversible Veränderungen durchmachen würde.

Die große Angst vor der Beeinflussung junger Mädchen

Was aber, wenn es sie doch gibt, die trans* Personen, die in erster Linie eine Unzufriedenheit mit ihrer Geschlechtsrolle verspüren, und trotzdem direkt aus einer binären Kategorie in eine andere wechseln? Dass es sehr wohl trans* Personen gibt, die das binäre System aufbrechen, lassen Sie an dieser Stelle unerwähnt. Dabei sollten Ihnen nicht-binäre Menschen mittlerweile nicht mehr unbekannt sein. Aber Ihr Interesse gilt besonders den Mädchen, die ihr berechtigtes „Unbehagen an der zunehmend widersprüchlich werdenden Frauenrolle für ‚transsexuell‘“ halten. Hinzu kommt die Rede von einem „Homosexualitätsverhinderungsprogramm“ sowie davon, dass sich Mädchen aufgrund von sexuellen Traumatisierungen für ein Leben als trans* Mann entscheiden würden. Sie schreiben sogar: „Helfen wir diesen Mädchen – und ,heilen‘ wir sie nicht, indem wir ihre Körper mit Hormonen und Operationen traktieren und sie zu Männern machen.“ Gestützt werden diese Thesen durch die Behauptung, dass mittlerweile zehn trans* Männer auf eine trans* Frau kommen sollen und dieses Ungleichgewicht ja irgendwo seinen Grund haben müsse. Da stellt sich zunächst die Frage: Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

 

»Glauben Sie, dass eine Person in unserer Gesellschaft, die es sich aussuchen könnte, entweder als heterosexueller trans Mann oder als homosexuelle cis Frau leben zu wollen, sich für Ersteres entscheiden würde?«

Denn während es bis vor einigen Jahren tatsächlich so war, dass mehr trans* Frauen und weniger trans* Männer statistisch erfasst wurden, hat sich das Verhältnis heute zwar umgekehrt, befindet sich, je nach Studie, allerdings im Bereich zwischen 1:1,2 bis 1:2. Das Verhältnis von 1:2 ließe sich alleine schon dadurch erklären, dass trans* Männer früher sehr wahrscheinlich statistisch untererfasst waren und deshalb verspätet in der Statistik auftauchen, denn nimmt man alle Jahre zusammen, ergibt sich eher ein ausgeglichenes Verhältnis. Das Phänomen, für das Sie Ihre Erklärungsversuche anführen, existiert also, wenn überhaupt, in einer sehr abgeschwächten Form und erscheint aufgrund der langjährigen statistischen Dominanz von trans* Frauen gar nicht mehr so ungewöhnlich. Ganz unabhängig davon: Glauben Sie, dass eine Person in unserer Gesellschaft, die es sich aussuchen könnte, entweder als heterosexueller trans* Mann oder als homosexuelle cis Frau leben zu wollen, sich für Ersteres entscheiden würde? Dies erscheint vor dem Hintergrund der Schwere der potentiellen operativen Eingriffe und auch der gesellschaftlichen Akzeptanz von trans* Personen, die der gesellschaftlichen Akzeptanz von Homosexuellen offensichtlich hinterherhinkt, als absurd. Niemand macht hier also irgendwen gegen den eigenen Willen zu Männern. Sie werden auch kaum eine trans* Person finden, die derartige Beweggründe für die eigene Transition angibt – außer bei dem sehr geringen Anteil der Personen, die ihre Transition bereuen (eine Meta-Analyse von Forscher:innen der Harvard Medical School über 7928 trans* Personen berichtet eine Häufigkeit von weniger als 1%, Vgl. Bustos et al. (2021): Regret after Gender-affirmation Surgery: A Systematic Review and Meta-analysis of Prevalence.) Ihre Sorge um die jungen Mädchen, die aufgrund von patriarchalen Zuständen zur Transition gedrängt werden, ist also gänzlich unbegründet. Es scheint so, als würde hier mit falschen Tatsachenbehauptungen und unplausiblen Erklärungsversuchen Stimmung gegenüber trans* Personen gemacht.

Worüber wir stattdessen diskutieren können

Womöglich halten Sie es ja für notwendig, derlei Geschütze aufzufahren, weil Sie das ganze als politischen Kampf betrachten. Dafür spricht schließlich auch ihre Verwendung von Kampfbegriffen wie „Trans-Ideologie“. Aber wogegen kämpfen Sie? Wenn nicht gegen trans* Personen als solche, wie Sie zu Beginn ihres Artikels versichern, fallen mir hier nur zwei verbleibende Möglichkeiten ein: Entweder Sie haben wirklich Sorge davor, dass jungen Mädchen systematisch vom „Zeitgeist“ eingeredet wird, sie seien trans*. Dass es keinen Grund für solche Sorgen gibt, sollte mittlerweile klar sein. Oder Sie sorgen sich vor potentiellen negativen Konsequenzen, die ein Selbstbestimmungsgesetz für unsere Gesellschaft hätte. So befürchten Kritiker:innen, dass das Gesetz zu Missbrauch führen könnte. Ein häufig vorgebrachtes Szenario ist beispielsweise, dass Männer, denen eine Gefängnisstrafe droht, sich mittels schneller unbürokratischer Änderung des Geschlechtseintrags beim Standesamt den Zugang zu einem Frauengefängnis erschleichen könnten. Ob das tatsächlich so passieren würde, ist eine andere Frage, aber zumindest die Möglichkeit bestünde dann. Eine andere Sorge von Kritiker:innen ist, dass das Selbstbestimmungsgesetz von Männern (nicht von trans* Frauen) im Leistungssport missbraucht werden könnte. Sind das Ihre Gründe, zu kämpfen? Dann sagen Sie das doch. Darüber kann man schließlich streiten, ohne Angst durch Desinformation zu erzeugen. Statt Zeit darauf zu verwenden, sich mit Märchen von einem „Homosexualitätsverhinderungsprogramm“ zu beschäftigen, könnte man stattdessen Argumente austauschen, um am Ende zu einer Lösung zu kommen, die Selbstbestimmung zulässt und Missbrauch verhindert.

Mit freundlichen Grüßen

Nicole Marczyk

Anmerkung: Alle Zitate entstammen dem Artikel „Im Gendertrouble“, den Alice Schwarzer am 23.02.2022 für Die Zeit verfasst hat.
Bild via Bundeskunsthalle (Georges Dudognon / adoc-photos)

Gastbeitrag

Besuch bei Beauvoir

Ein feministisch-phänomenologischer Museumsgang

von David Leopold Winterhagen

28.06.2022 - Ausgabe 84

Durch die schmale Drehtür hinein in die fast gänzlich verlassene, aber lichtdurchflutete Eingangshalle: „Ein Ticket für Simone de Beauvoir ermäßigt bitte“. Den Rucksack in dem geräumigen glatten Spind abgestellt und das Ticket bei dem freundlichen betagten Museumswärter vorgezeigt, der vor den Türen der Ausstellungsräume sein Lager aufgeschlagen hat. Mit einem Seitenblick bereits die hauchdünne Fineline-Zeichnung von Beauvoirs Gesicht als Wand-Tattoo wahrgenommen. Es kann losgehen.

 

Mit dem Eintreten in den Ausstellungssaal öffnet sich die Welt der Simone de Beauvoir. Allerdings nicht in farbenfroher Gestalt, sondern mit schwarzer Schrift auf grauen Wänden nebst schwarz-weißen Fotografien. Frei nach dem Motto des Philosophen G. F. W. Hegel (einer bedeutsamen Inspirationsquelle auch für das Werk Beauvoirs): „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen“. Die Philosophie blickt nicht nach vorne. Sie trifft keine waghalsigen Prognosen, sondern schaut in Ruhe zurück und bringt das Vergehende auf den Begriff. So wird der Besucherin auch das Denken Beauvoirs in der Bundeskunsthalle präsentiert: Als betagte Lebensgestalt, die es rückblickend zu durchdringen und aufzubereiten gilt, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Mittelpunkt steht dabei ihr Hauptwerk Das andere Geschlecht – wesentlicher Wegbereiter der feministischen Theorie wie auch Praxis in Gestalt der Frauenbewegung der späten 60er Jahre. Diesem Werk entspringt ihr wohl bekanntestes Zitat: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“

 

Beauvoir geworden

Das Zitat lässt die Grundidee des gesamten Buches durchscheinen: So etwas wie das Ewigweibliche gibt es nicht. Weder als metaphysisches Konzept noch als physisches Faktum. Weder auf philosophischer, noch auf biologischer oder psychologischer Ebene. Derartige Geschlechterdifferenzen fließen zu einem unwesentlichen Hintergrundrauschen zusammen, vor dem aus sich die Einzelexistenz wesentlich frei in die Zukunft entwirft. Ein Paradebeispiel für einen solchen selbstbestimmten Entwurf stellt Beauvoirs eigener Werdegang dar. Dabei hat sie es noch vergleichsweise einfach gehabt, wie aus den Informationstafeln gleich rechts des Ausstellungseingangs hervorgeht:

In eine großbürgerliche Familie geboren, mit Zugang zu prestigeträchtigen Bildungsinstitutionen, innerhalb derer sie brilliert wie keine Zweite. Erhalt der Lehrerlaubnis mit Bravour. Bekanntschaft mit Sartre, die sich im Verlaufe zu einem Pakt auf Lebenszeit entwickelt, in dem sich beide sowohl unbedingte (intellektuelle) Treue als auch unbedingte (erotische) Freiheit zusichern. Anschluss an die Pariser Intellektuellenkreise und Tätigkeit als freie Schriftstellerin und Philosophin.

 

Verdinglichung der Frau

Beauvoir wollte diese Lebensstationen biographisch einfangen. Dabei wurde ihr jedoch klar, dass sie sich zunächst die Tatsache ihrer Weiblichkeit vor Augen führen müsse, bevor sie über sich selbst als Individuum schreiben könne. Das war der Anstoß für die Arbeit an Das andere Geschlecht. Denn trotz ihrer privilegierten Ausgangssituation schränkt Beauvoirs Dasein als Frau die Möglichkeit zur radikal freien Bestimmung der eigenen Existenz strukturell ein. Seit jeher – so die These – wird das weibliche Geschlecht schlichtweg als das Andere markiert. Und zwar auf der Ebene der Wissenschaft, der Gesellschaft und Politik, der Erziehung und Sexualität, ja sogar der Mythen und Narrative, die unser kollektives Gedächtnis prägen. Anstatt als Existenz anerkannt zu werden, wird die Frau aufgrund ihrer vermeintlichen „Andersartigkeit“ als bloßes Ding fixiert, in dessen Angesicht sich der Mann frei heraus überschreiten kann – während die Frau innerhalb fremd abgesteckter Grenzen verharren muss. Diese Verdinglichungstendenz muss in ihren verschiedenen Erscheinungsformen durchbrochen werden, damit eine Gesellschaft entstehen kann, innerhalb derer sich die Geschlechter als freie und gleiche Existenzen begegnen können.

 

Museumsphänomenologie

All dies wird in der Bundeskunsthalle bloß angedeutet. Die Thesen Beauvoirs werden nicht vertieft erörtert, einige Grundkonzepte nicht einmal hinreichend erklärt. Und dennoch, der Gang durch die Museumsräume verschafft neben den dargebotenen Informationshappen mindestens ein ästhetisches Gefühl für die Bedeutsamkeit ihres Schaffens, das Lust auf eine intensivere Auseinandersetzung macht: Entlang der mit Fotos bedruckten, übergroßen Stoffplanen, vorbei an den winzigen Plastiken von Beauvoirs Antlitz, an den greifbaren Exemplaren ihrer Werke in allerhand Sprachen, den auf Leinwand projizierten Textauszügen, den knapp gehaltenen Ausstellungstafeln sowie der fesselnden Filmaufnahmen der von Alice Schwarzer geführten Interviews, die Einblicke nicht nur in das feministische Denken Beauvoirs, sondern ebenso in die Privatheit ihrer Wohnung und ihrer Beziehung mit Sartre bieten.

 

Dieses museale Empfindungskonzert ist Beauvoirs phänomenologischem Ansatz wiederum ganz getreu: eine philosophische Denkschule, die den Menschen nicht als distanziertes, den Kern der Dinge erkennendes Subjekt bestimmt, sondern als in seinen Empfindungen unmittelbar aufgehende Existenz – in den Empfindungen der Dinge, wie sie sich im Alltag intuitiv darbieten. Es ist somit nur passend, dass die Ausstellung ein erstes Gefühl für Beauvoirs Leben und Werk auf kleinem Raum auslöst, ohne mit einer übergroßen Menge an Informationen den Erkenntnisapparat zu überfordern.

Ein Mangel verbleibt jedoch: Die Empfindung wird innerhalb eines Rahmens ausgelöst, der die Theoretikerin und Schriftstellerin als bereits historisch abgeschlossene, eben graue Lebensgestalt eingrenzt, ohne einen lebendigen Bezug zur Gegenwart, zu aktuellen philosophischen und feministischen Debatten herzustellen. Das obliegt letztlich der Besucherin, die angeregt durch das Empfundene den Ausstellungssaal verlässt, an dem Museumswärterhocker vorbei schreitet und durch die taghelle Eingangshalle hindurch nach draußen tritt, um den gewonnen Eindrücken endlich Farbe zu verleihen – um bunt in Grau zu malen.

Wie Twitter gegen Amber Heard wettert.

Gesellschaft

#MenToo oder die altmodische Lächerlichmachung von Frauen?

von Gabriella Ramus

28.06.2022 - Ausgabe 84

In den 1990er Jahren gab es den Prozess gegen den NFL-Superstar O. J. Simpson wegen zweifachen Mordes; in den 2000er Jahren den Mordprozess gegen den Musikproduzenten Phil Spector; in den 2010er Jahren den Prozess gegen die Schauspielerin Lindsay Lohan wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen, und nun war es an der Zeit für einen weiteren im Fernsehen übertragenen skandalösen Gerichtsfall des Jahrzehnts. Johnny Depp verklagte seine Ex-Frau Amber Heard wegen Verleumdung in einem Meinungsartikel, den sie 2018 für die Washington Post geschrieben hatte, und in dem sie sich selbst als “öffentliche Figur, die häuslichen Missbrauch vertritt” bezeichnete. Obwohl Depps Name in dem Artikel nicht vorkam, behauptet er, sein Ruf sei erheblich beeinträchtigt worden und der Artikel hätte ihn lukrative Schauspielrollen gekostet. Heard verklagte ihn wegen Verleumdung aufgrund von Aussagen, die Depps Anwalt über ihre Missbrauchsvorwürfe gemacht hat. Beide behaupteten, dass die andere Partei der:die Missbraucher:in der Beziehung sei, indem sie Beweise vorlegten und Zeug:innen benannten, die auf ihrer jeweiligen Seite standen.

Da die Gerichtsverhandlung übertragen wurde, konnte man ihren Verlauf live auf YouTube verfolgen und Kommentare in den Live-Chat schreiben, Ausschnitte davon auf Instagram oder TikTok sehen oder Reaktionen auf den Gerichtsfall auf Twitch verfolgen. In den USA kann der:die Richter:in das Verfahren als von erheblichem öffentlichem Interesse einstufen, sodass die Übertragung als unerlässlich für die Erlangung von Gerechtigkeit angesehen wird und nicht als mögliches Instrument zur Beeinträchtigung der Integrität des Falles. Depp und Heard sind zwei prominente Persönlichkeiten, die einen Imageschaden geltend machen, weshalb die Richterin Kameras im Gerichtssaal zuließ.

Am 1. Juni fällte die Jury eine Entscheidung und befand sowohl Amber Heard als auch Johnny Depp in ihren Prozessen gegeneinander für verleumderisch. Sie sprachen Depp jedoch deutlich mehr Geld zu: 10 Millionen Dollar Schadenersatz und 5 Millionen Dollar Strafschadensersatz im Vergleich zu 2 Millionen Dollar Schadensersatz und keinem Strafschadensersatz für Heard.

In diesem Artikel werde ich die Reaktionen auf den Prozess im Internet erörtern und darlegen, warum sie als moralisch unangemessen angesehen werden können. Ich werde nicht darüber diskutieren, wer schuldig ist oder wer der:die Missbraucher:in der Beziehung ist.

Die Reaktion: #amberturd

Bislang war das Narrativ rund um die Ehe der beiden Schauspieler:innen, dass Depp ein “Frauenschläger” sei und Heard ein weiteres Opfer, das die #MeToo-Bewegung repräsentiert. Doch seit Beginn des Prozesses hat sich das Blatt komplett gewendet und ein unglaublicher Shitstorm wurde in Heards Richtung geschickt. Die Öffentlichkeit war der Meinung, dass Amber Heards Aussage nicht viel Sinn machte und begann, sie für ihre Lügen und ihr “falsches Weinen” vor Gericht zu beschimpfen, sie wurde ein “Monster”, “bipolar”, “narzisstisch”, “manipulativ”, “berechnend”, eine “Lügnerin”, “gold digger” und “crazy bitch” genannt.

Auf TikTok haben Menschen brutale Momente von Heards Aussage nachgespielt und lippensynchronisiert, um deren angebliche Absurdität zu unterstreichen. Eine beliebte Szene ist die, in der die Schauspielerin eine gewalttätige Begegnung mit ihrem Ex-Mann beschreibt und behauptet, er habe sie geohrfeigt und sie habe gesagt: “Johnny, you hit me. You just hit me.” Sehr beliebt sind auch Zusammenstellungen mit dem Titel “Amber Heard once said…”, in denen Beschreibungen von sexuellem Missbrauch und Übergriffen als lächerliche Einzeiler dargestellt werden, oder “Johnny Depp being SAVAGE in the courtroom” mit Szenen charismatischer und lustiger kleiner Ausschnitte des Schauspielers über den Mii-Song.

Auf Twitter sind Hashtags wie #JusticeforDepp, #FreeJohnny, #JohnnyDeppisinnocent und #AmberHeardisanabuser seit Beginn des Prozesses in aller Munde. Nachdem Amber Heard der Today Show am 14. Juni ein Exklusivinterview gegeben hatte, waren die beliebtesten Trends #AmberHeardIsAPsychopath, #AmberHeardDeservesPrison, #AmberHeardDoesNOTSpeakForMe, #AmberHeardIsALiar und #AmberTurd, wobei sich der letzte Trend auf die Aussage von Johnny Depp bezog, als er enthüllte, dass er ein Foto von seinem Bett mit menschlichen Fäkalien darauf gesehen habe (angeblich von Amber Heard).

Die Online-Petition “We want Johnny Depp back as Captain Jack Sparrow”, die darauf abzielt, den Schauspieler wieder in den “Pirates of the Caribbean”-Franchise einzubinden, nachdem Disney nach dem Artikel in der Washington Post die Pläne für eine Fortsetzung der Serie gestrichen hatte, hat bereits mehr als 870.000 Unterschriften. Eine andere Online-Petition mit dem Titel “Remove Amber Heard from Aquaman 2” hat mehr als 4.500.000 Unterschriften.

Selbst wenn sie die Täterin in der Beziehung war (was wir nicht mit Sicherheit wissen können), den Ruf ihres Ex-Mannes absichtlich geschädigt hat und die ultimative Bösewichtin der Geschichte war, haben wir noch nie erlebt, dass einem männlichen Täter so viel Hass entgegengeschleudert wurde. Die größten Hollywood-Skandale, die es bisher gab, scheinen nicht dasselbe Maß an Publikumsinteraktion zu erreichen wie dieser Gerichtsfall.

#MenToo?

Männer können genauso wie Frauen Opfer von häuslicher Gewalt werden, auch wenn dies weniger wahrscheinlich eher unwahrscheinlich ist. Laut der amerikanischen National Intimate Partner and Sexual Violence Survey aus dem Jahr 2010 wurde eine von sieben Frauen und einer von 25 Männern von einem:r Intimpartner:in physisch verletzt. Ziel der #MenToo-Bewegung ist es also, die männlichen Opfer von häuslicher Gewalt ins Licht zu rücken, und Johnny Depp ist ihr neues Gesicht.

Menschen, die Amber Heard online kritisieren, erklären, dass sie keine reaktionäre Bewegung sind, die versucht, die Arbeit der #MeToo-Bewegung rückgängig zu machen, und dass die Infragestellung von Heards Behauptungen sie nicht zu Frauenhasser:innen macht. Ihrer Meinung nach ist sie diejenige, die sich über die wahren Opfer von #MeToo lustig macht. Wer Depp unterstützt, unterstützt also männliche Opfer von Missbrauch.

»Aber die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet nicht "Wer ist der Bösewicht?", sondern vielmehr, wie beunruhigend es ist, dass schwerwiegende Vorwürfe häuslicher Gewalt zum Inhalt von Memes und LOLs wurden.«

Die Menschen haben sich sehr schnell auf die Seite von Depp gestellt, obwohl er im Vereinigten Königreich seinen Prozess gegen die Boulevardzeitung The Sun verloren hat, die ihn als “Frauenschläger” bezeichnet hatte, da sie genügend Beweise dafür gefunden hatte, dass Johnny Depp seine Frau tatsächlich zumindest einmal geschlagen hatte. Weil der Prozess im Fernsehen ausgestrahlt wurde, nahmen die Menschen ihn vielleicht so wahr, als würden sie eine wahre Krimiserie schauen, in der eine einzige Wahrheit ans Licht kommt und in der es einen klaren “Helden” und einen klaren “Bösewicht” gibt. Vielleicht haben Depps charismatische und ikonische Rollen und sein Ruhm als Superstar die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in Bezug auf diesen Prozess beeinflusst.

Aber die Frage, die wir uns stellen sollten, lautet nicht “Wer ist der Bösewicht?”, sondern vielmehr, wie beunruhigend es ist, dass schwerwiegende Vorwürfe häuslicher Gewalt zum Inhalt von Memes und LOLs wurden. Männliche Opfer häuslicher Gewalt zu unterstützen, bedeutet nicht, die mutmaßlichen Täterinnen völlig lächerlich zu machen und zu erniedrigen. Die Diskussion ist so extrem geworden, dass es nur noch zwei Seiten gibt: Entweder man hat einen rasenden Hass auf Amber Heard oder man glaubt nicht an weibliche Missbrauchstäterinnen. Und diese Polarisierung kann Opfer häuslicher Gewalt davon abhalten, sich zu äußern, aus Angst, lächerlich gemacht zu werden.

Wenn Amber Heard wirklich schuldig ist, die alleinige Täterin in der Beziehung war und in ihren Behauptungen gegen Johnny Depp gelogen hat, ist es fair, dass sie den Fall verliert, aber ich denke nicht, dass das Schneiden von Videos von Frauen, die über Missbrauch und sexuelle Übergriffe sprechen, jemals als lustig oder als Zeichen der Solidarität mit männlichen Opfern angesehen werden sollte.

Gabriella Ramus…

war es satt, dass ihr Tausende von YouTube-Videos über den Prozess von Johnny Depp und Amber Heard empfohlen wurden.

Wochenend- und Tagestrips unter 5 Stunden mit dem 9€-Ticket

von Lily Hußmann

28.06.2022 - Ausgabe 84

Seit etwa einem Monat gibt es nun das 9€-Ticket – das Studierende mit NRW-Ticket übrigens automatisch bekommen haben – und ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich habe mich damit noch kein einziges Mal außerhalb von NRW bewegt. Wenn es euch genauso geht, dann ist jetzt die Zeit das zu ändern. In diesem Artikel stelle ich euch neun lohnenswerte Destinationen vor, die in unter fünf Stunden mit dem 9€-Ticket zu erreichen sind und euch hoffentlich dazu inspirieren, die Umgebung NRWs diesen Sommer ein bisschen besser zu erkunden.

Koblenz

Fahrtzeit: 0:45h

Umstiege: keine

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf

 

Koblenz ist wahrscheinlich das naheliegendste Ziel von Bonn aus. Ihr steigt einfach in den RE 5 und fahrt bis zum Ende durch. In Koblenz fließen der Rhein und die Mosel zusammen; daher stammt auch der Name, der sich vom Römerkastell Confluentes ableitet, das sich einmal im jetzigen Stadtkern befunden hat. Neben der schönen Innenstadt und dem Mittelrhein-Museum, das allerlei Kunst beherbergt, könnt ihr auch vom Deutschen Eck aus mit der Seilbahn zur Festung Ehrenbreitstein rauf fahren und von dort die gesamte Stadt überblicken. Außerdem befindet sich in der Festung das Landesmuseum Koblenz.

Mainz

Fahrtzeit: 2:30h

Umstiege: keine

Route: RB 26 nach Mainz Hbf

Mit Sicherheit seid ihr schon einmal mit dem RB 26 nach Köln gefahren. Aber wusstet ihr, dass die Strecke in die andere Richtung eine der schönsten Deutschlands ist? Auf 187 Kilometern erstreckt sich die Mittelrheinbahn am Rhein entlang und passiert auf dem Weg die historischen Burgen und eindrucksvolle Landschaft des oberen Mittelrheintals, bis sie schließlich am Mainzer Hauptbahnhof endet. Ganz klar: Hier ist der Weg das Ziel. Doch auch Mainz hat eine wunderschöne historische Innenstadt und einige interessante Museen – etwa das Gutenberg Museum – zu bieten.

Trier

Fahrtzeit: 2:35h

Umstiege: 1

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RE 1 nach Trier

 

Trier ist vermutlich am bekanntesten für die Porta Nigra, ein altes und wirklich eindrucksvolles römisches Stadttor, das seit 1986 zum UNESCO-Welterbe zählt. Zugleich ist Trier die älteste Stadt Deutschlands und deswegen garantiert etwas für Geschichts-Nerds. Trier beherbergt neben der Porta noch weitere römische Bauten wie etwa die Römerbrücke, die Kaiserthermen und die Konstantinbasilika. Aus dem Mittelalter stammen der Dom und die Liebfrauenkirche.

Frankfurt

Fahrtzeit: 3h

Umstiege: 1

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RE 2 nach Frankfurt am Main

Wer weniger Bock auf alte Gemäuer hat, sollte sich vielleicht besser nach Frankfurt begeben und vom Main Tower aus die Wolkenkratzer des Bankenviertels bewundern. Auch das hochkarätige Städelmuseum ist für Kunstliebhaber:innen ein Muss. Natürlich gibt es auch reichlich Möglichkeiten zum nächtlichen Feiern. Insgesamt lohnen sich die drei Stunden Fahrt für die größte nicht-NRW-Stadt im Umkreis Bonns auf jeden Fall!

Gießen und Marburg

Fahrtzeit: 3:30h

Umstiege: 2

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RE 25 nach Gießen → RE 98 nach Marburg

Diese beiden hessischen Städte kommen im Doppelpack, weil sie nur 15 Minuten voneinander entfernt und beide definitiv sehenswert sind. Sowohl Gießen als auch Marburg sind Universitätsstädte und haben zwei der höchsten Studierendenanteile Deutschlands. Empfehlenswert in Gießen ist das Dachcafé für einen unschlagbaren Blick über die Stadt, das Liebig Museum und natürlich das weltberühmte Gießkannenmuseum (ja, das gibt es wirklich). Marburg besticht vor allem durch die Altstadt – auch Oberstadt genannt – die mittels eines Aufzugs erreicht werden kann. Aufgrund der hohen Studierendendichte gibt es hier viele kleine Kneipen. Oberhalb liegt das Landgrafenschloss, in dem sich ein Museum befindet.

Aschaffenburg

Fahrtzeit: 3:45h

Umstiege: 2

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RE 2 nach Mainz Hbf → RB 75 nach Aschaffenburg

In unter vier Stunden nach Bayern? Ja das geht. Aschaffenburg lohnt sich nicht nur wegen des Namens, sondern vor allem wegen der malerischen Parks und dem Schloss Johannisburg, denn beide eignen sich vorzüglich als Insta-Spots. Ebenfalls interessant könnte das Pompejanum sein; dabei handelt es sich um einen Nachbau einer antiken römischen Villa aus dem 19. Jahrhundert.

Heidelberg

Fahrtzeit: 4h

Umstiege: 3

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RE 2 nach Mainz → RE 4 nach Ludwigshafen → S 3 nach Heidelberg Hbf

 

Heidelberg gilt als eine der schönsten Städte Deutschlands und beherbergt die älteste Uni des Landes. Neben der barocken Altstadt ist sicherlich auch der sogenannte „Studentenkarzer“ interessant. Dort wurden bis 1914 Studierende für kleinere Vergehen wie Ruhestörung oder Trunkenheit eingesperrt (was sie allerdings nicht von den Vorlesungen befreite). Wer gern wandert und sich gleichzeitig intellektuell fühlt, möchte vielleicht den Philosophenweg besuchen, der eine wunderschöne Aussicht über die Stadt bietet.

Fulda

Fahrtzeit: 4:35h

Umstiege: 2

Route: RE 5 nach Koblenz Hbf → RB 10 nach Frankfurt am Main Hbf → RE 5 (Richtung Bebra) nach Fulda

Besticht durch barocke Schlösser und Parks. Lohnenswert sind der Schlossgarten und die Orangerie, aber auch das etwas außerhalb gelegene Museum Fasanerie ist besonders von innen sehr prunkvoll. Auch die Innenstadt ist mit ihren alten Fassaden wirklich nett. Ebenfalls sehr bekannt ist der Dom. Insgesamt ist Fulda einfach eine schöne Stadt.

Lily Hußmann…

fährt unironisch gern Zug und wünscht sich sehnlichst, dass der ÖPNV 1. ausgebaut und 2. kostenlos wird. Funfact: viele ihrer Artikel sind im RE 5 entstanden.

Dschinns, gezeichnet von Clara Cadenbach

Gesellschaft

„Dschinns“

Eine Familie und ihre Geister

eine Rezension von Maryam El Ouadhane

07.06.2022 - Ausgabe 83

Mit ihrem Roman „Dschinns“ bietet Fatma Aydemir einen Einblick in die menschliche Zerbrechlichkeit – und erzählt gleichzeitig die Geschichte mehrerer Generationen.

Assimiliation, dachte Peri, hatte eben keine Geschichte.“

Peri ist eine der sechs Protagonist:innen, denen jeweils ein Kapitel des Werkes gewidmet ist und die durch ihre Verwandtschaft miteinander verbunden sind. Beginnend mit einem tragischen Ereignis, das am Kern des Familiengerüsts rüttelt, füllen sich in „Dschinns“ mit jeder Perspektive die Lücken, ohne die eine Familiengeschichte nicht verstanden werden kann. Als Metapher für diese Lücken des Schweigens, die innerhalb der Familie eine stille Zerstörung auslösten, dienen die Namensgeber des Buches. „Dschinns“ sind nach islamischer Theologie übernatürliche Wesen, die für das menschliche Auge nicht sichtbar sind (vgl. Stieglecker 2021).

Die Erzählung spielt kurz vor der Jahrtausendwende – fast drei Jahrzehnte, nachdem Hüseyin, der Vater der Familie, als Gastarbeiter nach Deutschland kam. Fatma Aydemir zeichnet anhand der Protagonist:innen den Weg nach, den diese Familie seitdem gegangen ist und mit ihr all ihre Träume und Hoffnungen. Diese begannen mit Hüseyins Ausreise und zerplatzten endgültig, als er nach den vielen Jahren, die sich sein Leben nennen und die nur aus Arbeit bestanden, mit seinem mürben Körper verheißungsvoll in der langersehnten Eigentumswohnung in Istanbul sitzt – nur, um dann von seinem Herz im Stich gelassen zu werden, noch bevor die Möbel ganz ausgepackt sind.

Die Autorin verabschiedet sich von dem Anspruch eines Spannungsbogens, indem sie das Werk mit diesem dramaturgischen Höhepunkt beginnen lässt und sich danach die Zeit nimmt, mit den Leser:innen in die Gedankenwelt der hinterbliebenen Figuren einzutauchen. Rückblicke lassen die Leserschaft in prägende Ereignisse aus dem Leben von Hüseyin, seiner Frau Emine und ihren Kindern Ümit, Sevda, Peri und Hakan einsehen. Die Geheimnisse, die aus dem Dunkel ihrer Seelen ans Licht treten, setzen sich wie Teile eines Puzzles zusammen und halten einen gebannt an den Zeilen. Die Personifikation des größten Geheimnisses der Familie ist Ciwan: Ein junger Mann mit der immergleichen zu großen Lederjacke, der eines Tages einfach so vor der Arbeit von Hüseyin und in der Campuskneipe von Peri auftauchte.

Die Autorin zeigt in ihrem Werk die Vielfältigkeit der Realitäten und Erfahrungen, die aus dem Boden eines Einwanderungslandes erwuchsen. Hierfür legt sie den Finger auch in die Wunden, die dabei entstanden sind. Der Roman ist ein Einblick in das tiefste Innere der Figuren. Ihr Schmerz und ihre Zerbrechlichkeit werden so schonungslos offengelegt, dass einem schwindelig wird. Die Sätze der Autorin erstrecken sich nicht allzu selten über viele Zeilen hinweg, aber die Emotionswelle, die sie mit ihren Worten entfesselt, trägt einen durch den hypotaktischen Satzbau. In den beiden Kapiteln, die sich den Elternfiguren widmen, nutzt sie eine Abwandlung der personalen Erzählperspektive, die ich so noch nie in einem Roman gelesen habe: Sie spricht den Charakter mit Hilfe eines „Du-Erzählers“ direkt an. Im letzten Kapitel über die Mutter Emine wird klar, dass diese sprachliche Besonderheit eine Konfrontation der Protagonist:innen mit ihrem eigenen „Dschinn“ darstellen soll.

Das Wertvolle an „Dschinns“ ist, neben Fatma Aydemirs berührender Art zu schreiben, dass sie es schafft, die Familie mehr sein zu lassen als ihre Migrationserfahrung. In dem Werk geht es darum, was es heißt, Eltern zu sein, um Liebe, Sehnsüchte und Schuld. Hier sieht man das Konzept des „Postmigrantischen“ verwirklicht, das durch Shermin Langhoff geprägt wurde und den Blick auf Diversität jenseits von Herkunft richtet (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2011).

Die Autorin hat es geschafft, ihre eigene Figur Peri zu widerlegen und den Generationen eine Stimme zu geben, die dem Strudel der Zerrissenheit entfliehen wollten, die gelernt haben, bloß nicht aufzufallen und denen lange kein Gehör geschenkt wurde. Ihr Roman ist ein Werk voller Wucht, Tragik und Ehrlichkeit. Es gehört in die Bücherregale jedes deutschen Wohnzimmers, denn es ist nicht nur die fiktive Geschichte von sechs Protagonist:innen, sondern spiegelt einen Teil der Geschichte Deutschlands wider.

Bild: Braden Barwich via unsplash

Oder: #enjoyyourlifeinfulltrains

eine Kolumne von Helene Fuchshuber

28.06.2022 - Ausgabe 84

Es gibt ein Lied von den Düsseldorfer Düsterboys, das Alkoholgedanken heißt. Das ist an und für sich komplett irrelevant für diesen Artikel. Der Zusammenhang besteht darin, dass ich beschlossen habe, über Zuggedanken zu schreiben, und seitdem ständig einen Ohrwurm der Düsterboys habe. Falls ihr die Band nicht kennt, hört rein. Ziemlich großartige Texte. Falls ihr sie kennt, wisst ihr wovon ich spreche.

Und nun zu den Zuggedanken.

 

Alle Welt fährt grad für 9€ quer durchs Land. Sylt ist ein beliebtes Ziel, hab ich mir sagen lassen. Und meine Freundin Zoë ist gerade in zehn Stunden von Berlin nach Bonn gedüdelt. Ich bin in 20 Stunden und für deutlich mehr als 9€ nach Italien gefahren und habe festgestellt, dass Gedanken in Zügen anders funktionieren. Sie sind ein bisschen losgelöst von Raum und Zeit. Genauso wie man selbst auch.

 

Gut, ich war nicht losgelöst von der Zeit. Auch nicht vom Raum. Erster Zug direkt mal Halt in Bonn entfallen. Ich also verkatert 7:30, früher als geplant, zur Straßenbahn gesprintet, um irgendwie nach Köln zu kommen. Ich konnte nicht mal meinen Kaffee fertig trinken. Und von da dann nach München. Dort zwei Stunden Aufenthalt, Zeit totschlagen, bei Rossmann chillen, sieben Nagellacke ausprobieren, zwei kaufen. Außerdem einen Salat für zu viel Geld für später. Und von da dann weiter. In den Zug von München nach Verona. Der in Rosenheim erstmal vorrübergehend für 90 Minuten strandete. Ich habe am Gleisrand meinen zu teuren Salat gegessen und musste noch die Paprika, die ich nicht mag, rausfischen. Danke für gar nix. Irgendwann weiter, nach Verona, Umstieg in den Zug nach Venedig und dann, nach drei Jahren, sieben Monaten, einer halben Stunde und 17 Minuten, nach einem Auf und Ab der Gefühle, kam ich endlich an. So gesehen also doch eine sehr zeitliche und räumliche Angelegenheit. 

 

Aber während des Fahrens zählt das irgendwie nicht. Du bist im Grunde nirgendwo, außer unterwegs. Und du hast dein Vorankommen absolut nicht in der Hand. Du kannst nicht beschleunigen, nicht entschleunigen, nicht ausbrechen aus dem Weiterkommen, Weiterfahren, Zeitvergehen oder -stagnieren. Du bist ein bisschen ausgeliefert, bis du irgendwann ankommst. Du sitzt neben dir wildfremden Personen (es sei denn du gehörst zum Junggesellinnenabschied, der das halbe Abteil in Beschlag nimmt, bei jedem Halt geschlossen rauchen geht und Sekt aus einer Maxi Flasche trinkt) und kannst andere Menschen unauffällig auffällig beobachten. 

 

Ich habe im Zug von München nach Verona mein altes Ich gesehen. Oder jedenfalls ein Mädchen, dass mich krass an mich selbst mit ungefähr elf erinnerte. Ein bisschen zu groß für ihr Alter, ein bisschen unsicher, ein bisschen hässliche Klamotten, Brille, aber irgendwie sweet. Ich wollte ihr sagen es wird besser und eigentlich wollte ich ihr das definitiv nicht sagen, weil eigentlich sah sie nicht unhappy aus und sie war ja nicht ich mit elf (und so unhappy war ich auch gar nicht, nur eben ein bisschen zu groß für mein Alter, ein bisschen unsicher etc.). 

 

Vorher im Zug von Köln nach München wurde mir bewusst, wie scheiße Menschen in Zügen sind. Insbesondere Menschen mit Reservierungen. Menschen, die aber ihre Reservierung nicht richtig gelesen haben und ganz viele andere Menschen erstmal aufscheuchen und ganz viel Trubel verbreiten. Während ich nichts lieber wollte, als zu schlafen. Nachdem ich meinen Plan, Uni zu machen kurzerhand (wie jedes Mal auf Reisen) über Bord geworfen hatte. Diese lauten aufgeregten Menschen heißen gefühlt immer Birgit und Günter oder so was in der Art und alter Falter… sie rauben mir den letzten Nerv. Da mein einer Kopfhörer kaputt ist konnte ich ihnen nicht entfliehen, war ihnen hilflos ausgeliefert und musste mich zusammenreißen, mich nicht als zukünftige Birgit miteinzumischen.

 

Und dann an wieder anderer Stelle wurde mir bewusst, wie lieb Menschen auch sein können. Der Zug ab München war ab München voll und es stiegen immer noch mehr Menschen dazu. Blickten sich suchend nach leeren Sitzen um und ließen sich erleichtert auf die vereinzelten freien Plätze sinken. Verstauten ihre Koffer in Gepäckablagen, ihre Kinder auf Schößen, Snacks wurden ausgepackt. Und dann, kamen die Birgits und Günters dieser Welt beim nächsten Halt. Stiegen dazu, wirbelten den Status Quo des Abteils einmal auf. Aber hinter so mancher Günter Fassade schlummerte ein weiches Herz und Mütter mit Kindern durften sitzen bleiben. Und auch Birgit überraschte mich, indem sie dem pubertierenden Paar anbot, dass sie sich einfach zu dritt auf die zwei Sitze quetschen könnten. Ich gewann meinen Glauben an die Menschheit zurück. Im Zug von München nach Verona.

 

Und weil ich sonst nichts zu tun hatte, Uni jedenfalls frühzeitig aufgab und zu müde war, um mich in tiefe Lektüre zu vertiefen, bekam ich all das mit. Und noch mehr. Wie zwei kleine Mädchen für drei Stunden beste Freundinnen wurden und das ganze Abteil entertainten. Wie traurig die eine war, nachdem die andere ausstieg. Wie ein Junggesellenabschied Kontakt zu den Junggesellinnen mit der Maxi Flasche Sekt aufnahm und dann doch wieder Reißaus nahm. Wie Schnaffner:innen geduldig (ja, tatsächlich) immer wieder erklärten, wer wie wo wann welche Anschlusszüge verpassen oder bekommen würde. Wie sich die einzigen zwei Fahrradfahrer:innen natürlich fanden und ab da hinter mir übers Radfahren debattierten. Und wie das pubertierende Paar heimlich plante, in der Zugtoilette zu rauchen. Für ein paar Stunden waren wir alle in diesem Zug ein kleines Team, haben irgendwie eine schräge Nähe miteinander geteilt und jedenfalls ich habe ziemlich viel über die Menschen um mich herum und mich nachgedacht. Es entstand, ein Phänomen von Langzeitstrecken plus 90 Minuten Verspätung, eine Art Übereinkunft, das beste aus der Situation zu machen. Aus der wir alle nicht heraus kamen, bis wir ankamen.

Zoë jedenfalls schrieb mir auf ihrer jahrelangen Reise von Berlin nach Bonn folgende Zugpoesie:

 

Helene Fuchshuber…

hatte wie beschrieben mal wieder konstant einen Ohrwurm: https://www.youtube.com/watch?v=xr-k4u5BgVk. Er wurde wenig später von https://www.youtube.com/watch?v=Jsf6DCEnb3s abgelöst. Enjoy (und don’t judge)!