Titel83

Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

 

Alles neu macht der Mai – auch wenn diese Ausgabe im Juni erscheint, so ist sie doch im Mai entstanden. Und neben der neuen Ausgabe gab es noch einige dicke Veränderungen bei uns: Wie Melina im letzten Editorial ja bereits angekündigt hat, ist sie jetzt leider nicht mehr Teil unserer Redaktion. An dieser Stelle ein riiiiiesiges Danke!!

Stattdessen haben wir aber drei neue Redaktionsmitglieder: Maryam El Ouadhane, Gabrielle Ramos Moreira und Nicole Marczyk. Falls ihr mehr über sie wissen wollt, findet ihr auf unserer Website kleine Vorstellungstexte zu allen Redakteur:innen des FW. Aber noch viel wichtiger: Ihr findet in dieser Ausgabe Texte von immerhin zwei von ihnen, die euch vielleicht auch was über sie verraten. 🙂

Darüber hinaus haben wir jetzt eine neue Chefredaktion: Sie besteht aus Lily, die ihr auch schon als Redaktionsmitglied und Verfasserin vieler Texte kennt, und mir. Ich hoffe, wir kriegen das mindestens so gut hin wie Melina, und wir freuen uns, wenn ihr uns Feedback zukommen lasst, an: fw@asta.uni-bonn.de.

Ansonsten wie immer viel Spaß beim Lesen!

Vielste Grüße, Helene & Lily

Helene Fuchshuber und Lily Husmann, Chefredakteurinnen

Inhalts-verzeichnis

 Von alten Handyakkus und sozialer Angst

Erklärungsversuche eines Kollapses

Ein Blick in die Wahlprogramme der potentiellen neuen Regierungsparteien

Ein Blick hinein in die Schwierigkeiten mit der Bürgerlichkeit

 Der politische Einfluss von TikTok auf die Wahlen in Australien und Philippinen in diesem Monat

Ein Text über Uni, Arbeit und Leben in Präsenz

jakob-owens-By8Tjvw8GaU-unsplash
Bild: Jakob Owens via Unsplash

Gesellschaft

Die Pandemie hat mir meine Social Skills geraubt

Von alten Handyakkus und sozialer Angst

ein Kommentar von DLily Hußmann

07.06.2022 - Ausgabe 83

Es ist ein perfekter Samstagnachmittag, 19 Grad, Sonnenschein. Ich bin auf dem Weg zur Party einer guten Schulfreundin, auf die ich mich eigentlich schon wochenlang gefreut habe. Doch beim Gedanken daran packt mich jetzt der blanke Horror. Bei der Aussicht, stundenlang mit Leuten, die ich ewig nicht gesehen habe und vielleicht gar nicht mehr mag, in einer vermutlich stickigen Dachgeschosswohnung zu hocken, während die zu laute Musik im Hintergrund alle meine eigenen Gedanken überdröhnt, dreht sich mir der Magen um. Ich könnte immer noch am nächsten Bahnhof aussteigen, irgendeine halbwegs glaubhafte Ausrede erfinden und mich einfach zuhause in meinem Bett verkriechen… Bauchschmerzen, Kopfweh, familiärer Notfall, eine verpasste Deadline? Aber nein. Objektiv betrachtet möchte ich ja zu der Party. Warum fühle ich mich dann beim Gedanken an andere Menschen so verdammt unwohl? Die Pandemie hat mir meine Social Skills geraubt. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Klar, auch pre-pandemic war ich kein social butterfly. Ich war schon immer eher der introvertierte Typ, verbringe gerne Zeit alleine. Aber wenigstens brauchte ich vor zwei Jahren nach einem Abend im Hofgarten mit Freund:innen nicht das ganze Wochenende zur Erholung. Ich habe das Gefühl, meine soziale Batterie ist eher wie der Akku eines fünf Jahre alten iPhones: Irgendwie ausgelutscht und nach ein paar Minuten direkt von 90 Prozent auf 5, trotz stundenlangem Laden. Und bei 0 will ich dann nur noch aus der Situation weg und mich in einem Kokon aus Decken vor der Welt verstecken.

Vielleicht ist diese Analogie aber gar nicht so schlecht. Wie ein alter Handyakku, der nach jahrelangem Aufladen über Nacht nicht mehr seine volle Ladung aufnehmen kann, ist meine soziale Batterie nach zwei Jahren Schongang mit minimaler sozialer Interaktion einfach nicht mehr so leistungsfähig wie vorher. Wie auch, wenn das Maximum an Interaktion – von meinem Mitbewohner mal abgesehen – im Supermarkt stattfindet? Ich habe das Gefühl, meine soziale Batterie ist nach zwei Jahre erzwungener sozialer Abstinenz einfach ausgebrannt, kaputt.

Und was macht man bei einem kaputten Handyakku? Richtig, man tauscht ihn aus. Oder kauft sich einfach direkt ein neues Handy. Blöd, dass das bei mir nicht so einfach ist. Cyborg sein hätte so viele Vorteile… Aber ich schweife ab. Was also tun? Immerhin bin ich nicht allein oder komisch, so viel hat meine erste Recherche schon mal ergeben. Es finden sich zahllose Artikel online, in denen Psycholog:innen versichern, dass eine gewisse Nervosität und Angst vor sozialen Situationen nach zwei Jahren Isolation absolut normal ist. Das Level an Angst variiert von Person zu Person und auch Menschen, die vor der Pandemie eher extrovertiert waren, können jetzt Symptome sozialer Angst verspüren. Darunter fallen generelles Unwohlsein und das Bedürfnis, die Situation zu verlassen, aber auch physische Symptome wie Herzrasen, Schwitzen, Übelkeit oder Schwindel.

»Der Grund ist fast schon banal: Die meisten sind einfach aus der Übung. Viele soziale Verhaltensweisen müssen wir jetzt wieder neu lernen, indem wir uns den angstbehafteten Situationen bewusst aussetzen.«

Der Grund ist fast schon banal: Die meisten sind einfach aus der Übung. Viele soziale Verhaltensweisen müssen wir jetzt wieder neu lernen, indem wir uns den angstbehafteten Situationen bewusst aussetzen. Dabei macht es Sinn, langsam vorzugehen und sich nicht zu überfordern, denn das würde die Angst nur verstärken. Also: Statt auf eine riesige Party mit fremden Leuten, vielleicht besser erstmal mit ein paar Kommiliton:innen in eine Kneipe gehen.

Eine häufige Sorge – auch bei mir, übrigens – ist die Angst, keine Gesprächsthemen mehr zu haben. Hier kann es helfen, sich vor der sozialen Situation ein paar generelle Themen zurechtzulegen, auf die man zurückgreifen kann, sollte es zu einer peinlichen Stille kommen. Alternativ kann man auch darüber reden, dass man gerade nichts zu sagen hat; in den meisten Fällen geht es dem Gegenüber genauso. Generell ist es wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, wovor man eigentlich Angst hat und sich hinterher zu fragen, ob die Angst berechtigt war. Zumindest bei mir ist die gefürchtete Situation rückblickend meist halb so schlimm.

Letztendlich bin ich zu der Party gegangen und sie war – welch Überraschung – halb so schlimm. Sie hätte aber auch definitiv besser sein können, ich will hier nichts idealisieren. Es gab einen Moment, da wollte ich wirklich einfach nach Hause gehen, weil ich so on edge war; alles war zu laut, ich war zu nüchtern, die anderen zu besoffen und die Musik zu scheiße. Aber hey, ich hab’s durchgestanden und der restliche Abend war nett. Jetzt werde ich mir aber erstmal ein paar Tage soziale Ruhe gönnen und meine Batterie wieder aufladen, aber auch nicht zu viel, damit sie beim nächsten Mal vielleicht nicht mehr so schnell leer ist.

Politik

LINKSunten

Erklärungsversuche eines Kollapses

von Clemens Uhing

07.06.2022 - Ausgabe 83

Bei den Wahlen diesen und letzten Jahres durften die meisten Parteien mindestens einmal Gewinner sein. Verlierer waren durchweg AfD und die LINKE. Während die Verluste der AfD sich dabei aber im Rahmen hielten und nur in Schleswig-Holstein mit dem Verfehlen der 5-Prozent-Hürde Konsequenzen hatten, sahen die Ergebnisse der LINKEN wesentlich verheerender aus. Bei der Bundestagswahl gab es ein Minus von 4,3 %, nur die Grundmandatsklausel rettete die Partei vor dem Nicht-Einzug. Prozentual war die Schlappe im Saarland am größten: 10,3 Prozentpunkte Verlust, nach nur einer Legislatur. Dem neuen Landtag wird die LINKE nicht mehr angehören. In Nordrhein-Westfalen ging es von 4,9 Prozent auf 2,1 – weit entfernt von der 5-%-Hürde. Die Partei war damit so tief in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden, dass die Wahlstudios des WDR und der ARD nach der ersten Prognose nicht mehr über die LINKE berichteten. Der Abstieg der LINKEN ist zumindest mit Blick auf die Wahlergebnisse kein allmählicher. Bei der NRW- und der Bundestagswahl in 2017 hatte die LINKE noch jeweils ihr zweitbestes historisches Ergebnis erreicht. Dementsprechend sitzt der Schock tief. Es scheint, als könnte es in naher Zukunft keine ernstzunehmende Partei mehr links der Mitte geben.

Um die Erklärung des Kollapses konkurrieren verschiedene Theorien. Der ehemalige MdB und Mitglied im Parteivorstand der LINKEN Niema Movassat sieht in ihm ein Zeichen für eine mangelnde Anknüpfungsfähigkeit linker Politik in Deutschland. Der „[…] Abgrund, an dem die Partei DIE LINKE steht“, sei „derselbe Abgrund […], an dem die gesamte gesellschaftliche Linke steht“ (1). Sahra Wagenknecht hingegen sieht ein anderes Problem: Die gesamtgesellschaftliche Linke und mit ihr die in ihr eingebettete linke Partei würden zu sehr von Lifestyle-Problemen dominiert. „[…] immer skurrilere Minderheiten“ – gemeint sind im Wesentlichen queere Menschen – würden den Diskurs bestimmen (2). Damit, so Wagenknecht, könne das natürliche Klientel der LINKEN nichts anfangen. Ein Dorn im Auge ist ihr auch die flüchtlingsfreundliche Haltung ihrer Partei. Parolen wie „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht […] verwirkt“ (3) gehören zu ihrem rhetorischen Repertoire. Im Folgenden soll die Zutreffendheit dieser Thesen geprüft werden. Klar ist aber: Erklärungen über das Abschneiden der LINKEN tappen immer etwas im Dunkeln, weil die Zahlengrundlage mau ist. Außerdem wird es nicht nur einen, sondern verschiedene Gründe für den Einbruch ihrer Wahlergebnisse geben.

Wähler:innenschaft und Ansprache

 

Zahlen von YouGov, die in 2017 erhoben wurden, lassen über die Wähler:innenschaft der Linken vor allem drei Schlüsse ziehen: Sie ist durchschnittlich etwas älter, überdurchschnittlich arm (38 Prozent haben ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 1000 Euro) und ist inhaltlich – wenig überraschend – vor allem an sozialer Absicherung interessiert (4). Außen- und Verteidigungspolitik rangieren in der Prioritätenliste hingegen weit unten. Die besondere Attraktivität der LINKEN für einkommensarme Personen spiegelt sich auch in ihren Wahlergebnissen nach Wahlkreisen wieder. In den 70 einkommensschwächsten Wahlkreisen Deutschlands holte sie bei der Bundestagswahl 2021 immerhin noch 7,7 Prozent (5). Bei einer ihrer wichtigsten Zielgruppen, den Arbeitslosen, kommt die LINKE trotz ihrer zentralen Forderung nach der Abschaffung von Hartz IV nicht ausgezeichnet gut an: 11 % der wählenden Arbeitslosen haben 2017 die Linke gewählt, immerhin 21 % AfD und 23 % SPD (6).

Es stellt sich nun die Frage, wohin die Wähler:innen der LINKEN verschwunden sind. Von 2017 bis 2021 bzw. 2022 hat sich in der politischen Debatte in der Bundesrepublik einiges verändert. Dominierte das Thema der Migrations- und Flüchtlingspolitik noch die Wahlkämpfe in 2017, interessieren sich die Wähler:innen neuerdings verstärkt für Sozialpolitik und Klima. In Auswertungen von infratest waren die Preissteigerungen bei der Landtagswahl in NRW mit 19 % das für die Wähler:innen relevanteste Thema, ähnlich bei der Bundestagswahl mit 28 % unter dem Titel „Soziale Sicherheit“ (6, 7). Man könnte meinen, dass die LINKE mit ihrem klaren sozialpolitischen Profil, an dem sie über die vielen Programme der letzten Jahre konsequent festhielt, Erfolge erzielen müsste. Und tatsächlich waren die entsprechenden Programmpunkte für 39 % der LINKEN-Wähler:innen bei der Bundestagswahl wahlentscheidend (6). Gegen die Wahlschlappen hat dies trotzdem nicht genützt. Grundsätzlich scheint es nicht unmöglich, in einem westeuropäischen Land mit linker Politik (relative) Mehrheiten zu holen. Das zeigt das Ergebnis von Jean-Luc Mélenchon bei der französischen Präsidentschaftswahl oder der zwischenzeitige Höhenflug von Jeremy Corbyn in Großbritannien. Die LINKE hingegen scheint kein Personal zu haben, das eine vergleichbare Zugkraft entwickeln kann. Doch auch mit ihren Programmen gibt es ein Problem: Die meisten Punkte der sozialen Programmatik finden sich so auch bei Grünen und SPD – nur in entschärfter Form. Alle drei Parteien sind sich einig: Es muss umverteilt werden, Hartz IV muss weg, der Mindestlohn muss steigen. Die LINKE geht immer ein Stück weiter: 11 % höherer Spitzensteuersatz und Millionärssteuer statt 3 % Erhöhung wie bei der SPD, 13 Euro Mindestlohn statt 12 wie bei SPD und Grünen, 1200 Euro Grundsicherung statt einer geringfügigeren Anpassung und Verringerung des Sanktionsdrucks (8). Was allerdings fehlt sind klare Leuchtturmforderungen, die die LINKE deutlich abheben und die Menschen mitreißen. Grundsätzlich würden von dem radikaleren Programm zwar viele Menschen profitieren. Allerdings fehlt zu seiner Umsetzung die Machtoption. Die LINKE wird bei Regierungsbeteiligungen im Bund immer außen vor bleiben, sofern es entweder FDP oder CDU für eine Mehrheit braucht. Wieso also sollte jemand für eine gerechtere Politik die LINKE wählen, wenn an den Schaltstellen am Ende eher Grüne oder SPD sitzen – die dafür dann ein starkes Mandat gegenüber den Rechten brauchen?

Doch selbst eine rot-rot-grüne Parlamentsmehrheit im Bund garantiert noch keinen Einfluss der LINKEN auf die Regierungspolitik. Schließlich gibt es mit der LINKEN einen erheblichen Streitpunkt bezüglich des deutschen Engagements in der NATO. 2017 erschien diese Diskussion noch unwichtig. Vielleicht hätte man darüber hinwegsehen können. Mit dem russischen Angriffskrieg hat sich dies nun geändert. Es wird auf einmal klar, dass mit einer aggressiven völkisch-rechtsautoritär eingestellten Regionalmacht in der Nachbarschaft ein Fundamentalpazifismus keine haltbare Position mehr darstellt. Die schärfsten NATO-Kritiker:innen müssten sich redlicherweise eingestehen, dass es die NATO ist, die zwischen Krieg und Frieden im Baltikum steht. Eine linke Partei, deren Vertreter:innen nach dem 24. Februar und trotz der Geschehnisse der letzten Monate noch den Lügen Putins über seine NATO-Angst anhängt und erwartet, dass sich die Ukrainer:innen freiwillig der Unterdrückung ergeben, verliert massiv an Glaubwürdigkeit als Partei der Menschenwürde (Beispiele sind die MdBs Dagdelen und Hunko, aber auch Sahra Wagenknecht). Zwar wird diese Ansicht nicht jede:r teilen. Potentielle Wähler:innen der Linkspartei werden sich aber trotzdem die Frage gestellt haben, ob sie eine Partei wählen möchten, die die letzte Machtoption zu einer wirklichen Verbesserung der Lebensumstände zugunsten eines falschen Friedensbegriffes und aus Rücksicht auf einen rechten Diktatoren aufzugeben bereit ist. Eben diese außenpolitischen Vorstellungen der LINKEN sind einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zufolge für 43 % der potentiellen Wähler:innen der LINKEN ein Grund für deren Nichtwahl (9).

»Die Linke in Deutschland ist nicht am Ende. Die Partei die LINKE womöglich schon. Es würde ihr gutstehen, sich in einem selbstkritischen Prozess neuaufzustellen, statt sich anhand einer falschen Identifikation mit linker Politik insgesamt in Fatalismus zu suhlen.«

Wo sind die Wähler:innen geblieben?

Die Statistiken zur Wähler:innenwanderung sind uneindeutig. Für NRW wurden sie für die LINKE gar nicht mehr gesondert aufgeführt. Sie zeigen aber immerhin: Der Abgang von Wähler:innen lässt sich weder mit einem grundsätzlichen Desinteresse an linker Politik, noch mit einer Ablehnung gesellschafts- und flüchtlingspolitischer progressiverer Positionen erklären. Bei der Bundestagswahl verlor die LINKE insgesamt 2,02 Millionen Wähler:innen. Davon wanderten 1,12 Millionen zu SPD und Grünen (6). Beide Parteien hatten sich in der vergangenen Legislatur mit politischem Druck profiliert, der zur Öffnung der Ehe für Alle führte. Gerade die Grünen werden mit progressiven gesellschaftspolitischen Positionen assoziiert. Im Rahmen ihrer jetzigen Regierungsbeteiligung haben SPD und Grüne bereits die Aufklärung über Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert und begonnen, das Transsexuellengesetz durch ein liberaleres Selbstbestimmungsgesetz zu ersetzen. Die LINKE hingegen fällt anders als Wagenknecht & Co. behaupten nicht mit viel „Wokeness“ auf, sozialpolitische Forderungen dominierten ihren Bundestagswahlkampf. In Nordrhein-Westfalen stand Sahra Wagenknecht auf Listenplatz 1 und trotzdem rutschte die LINKE im Landesergebnis um 3,8 % ab (6). Das Abstürzen der Partei ist also nicht mit einer zu modernen Gesellschaftsvorstellung zu erklären (die Wähler:innenwanderung zur AfD hielt sich bei der BTW 2021 mit 90.000 übrigens auch in Grenzen). Auch eine Erklärung über die flüchtlingsfreundliche Haltung der Partei bietet sich nicht an. Im Gegenteil: Gerade in dem von flüchtlingspolitischen Fragen dominierten Wahlkampf 2017 konnte die LINKE ein starkes Ergebnis holen. 2021/22 folgte der Absturz, obwohl das Thema nur noch eine untergeordnete Rolle spielt.

Ein zweiter Befund, auf den die Wähler:innenwanderung hinweist, ist der, dass der Abstieg der LINKEN nicht vorrangig mit einem Rechtsruck der Wähler:innenschaft zu tun hat. Schließlich hat das Lager links der Union – also Grüne, SPD und LINKE – bei der letzten Bundestagswahl insgesamt um 6,7 % und auch bei der NRW-Wahl an Zweitstimmen zugelegt, während die rechtsextreme AfD wieder und wieder verlor. Zwar ist das Parteiensystem inhaltlich insgesamt nach rechts gerückt – ein Trend, dem sich die LINKE noch am erfolgreichsten verschloss – doch folgt daraus nicht notwendig der Schluss, die Wähler:innen seien mit den rechteren Programmen auch einverstanden. Hier greifen eben Erklärungen über das Abschreckende der Außenpolitik der LINKEN oder über die Präferenz von Parteien mit Machtoption. Natürlich ist aber nicht auszuschließen, dass der „Abgrund“ zwischen der Gesellschaft und linker Politik, den Niema Movassat sieht, tatsächlich breiter wird. An vielen Stellen ist die gesamtgesellschaftliche Linke in der Defensive, sei es in Ostdeutschland gegen eine größer werdende rechtsextreme (relative) Mehrheit oder gegen staatliche Repression. Doch gleichzeitig haben Bewegungen links der Mitte Zulauf. Fridays for Future und die Klimabewegung haben weiterhin ein großes Mobilisierungspotential und nehmen zunehmend Einfluss auf verschiedenste Institutionen. Mit „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ hat die Forderung nach einer radikal linken Maßnahme die Wähler:innenschaft einer Millionenstadt wie Berlin überzeugt.

Die Linke in Deutschland ist nicht am Ende. Die Partei die LINKE womöglich schon. Es würde ihr gutstehen, sich in einem selbstkritischen Prozess neu aufzustellen, statt sich anhand einer falschen Identifikation mit linker Politik insgesamt in Fatalismus zu suhlen. In diesen Zeiten muss sie Denkmuster des kalten Krieges hinter sich lassen und sich angesichts einer russischen völkisch-autoritären Diktatur ein differenzierteres Bild von der NATO erarbeiten. Außerdem muss sie ihr ökologisches Profil schärfen, um den Grünen bei diesem immer wichtiger werdenden Thema Konkurrenz zu machen. Und sie sollte in der Sozialpolitik auf neue, positiv gedachte Konzepte setzen, statt immer nur auf den neoliberalen Umbau der letzten Jahrzehnte zurückzusehen.

Alle Quellen zuletzt abgerufen am 24.05.2022. 

 

(1)  Movassat, Niema (NiemaMovassat): Tweet vom 15.05.2022, URL:
https://twitter.com/NiemaMovassat/status
/1525885046200094722?cxt=HHwWhMCyra6XhK0qAAAA
.

(2)  Wagenknecht, Sahra: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2021. 

(3)  Quant: Sahra Wagenknecht ~ „Wer Gastrecht missbraucht, hat Gastrecht verwirkt“ (komplette Rede), 03.03.2016, [YouTube] https://www.youtube.com/watch?v=9OuPhrQegmY, 05:40-05:46. 

(4)  vgl. Steffen, Tilman; Venohr, Sascha: Linken-Wähler. Partei der Überzeugungstäter. In: Zeit Online, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-06/linke-waehler-partei-yougov-durchschnitt?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F.

(5)  vgl. Barthels, Inga et al.: Die Wahlergebnisse in den ärmsten und reichsten Wahlkreisen Deutschlands. In: Tagesspiegel Online, URL: https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/bundestagswahl-2021-karte-ergebnisse-wahlkreise-armut-reichtum/.

(6)  siehe Tagesschau Online: Wahlergebnisse Bundestag. URL: https://www.tagesschau.de/wahlarchiv/bundestag/.

(7)  siehe Tagesschau Online: Wahlergebnisse Landtag Nordrhein-Westfalen. URL: https://www.tagesschau.de/wahlarchiv/laenderparlamente/nordrhein-westfalen/.

(8)  siehe die jeweiligen Wahlprogramme: „Zeit zu handeln! Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit“ (die LINKE), „Deutschland. Alles ist drin“ (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und „Aus Respekt vor deiner Zukunft. Das Zukunftsprogramm der SPD“ (SPD). 

(9)  vgl. Candeias, Mario: Eine Partei mit Zukunft. Die LINKE. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin 2022, S. 22, URL: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Studie_Eine_Partei_mit_Zukunft.pdf

Studierende im Juni 2020 bei einer Demonstration für finanzielle Unterstützung in der Corona-Krise (Bild: Ronny Bittner)

Gesellschaft

Hochschulpolitik der NRW-Parteien

von Nicole Marczyk

07.06.2022 - Ausgabe 83

Während eine Bundestagswahl bei den meisten politisch interessierten Menschen ein emotionales Großereignis darstellt, geht so eine Landtagswahl oft doch eher an einem vorbei. Dabei haben auch Landesregierungen rechtliche und finanzielle Möglichkeiten, das Leben der Menschen in den jeweiligen Bundesländern einfacher und gerechter zu gestalten. Das gilt bekanntlich besonders im Bereich der Bildungspolitik.

Was für einen großen Einfluss die Bildungspolitik der Länder auf Studierende haben kann, zeigt sich beispielsweise am Thema Studiengebühren: Deren Erhebung hatte die CDU/FDP-Regierung im Jahr 2006 wieder möglich gemacht. Davon hat sich die CDU trotz lebhafter Debatten im Wahljahr 2017 mittlerweile endgültig verabschiedet. Was haben die Parteien aber dann mit den Studierenden in NRW vor? Haben sie in ihren Wahlprogrammen die von Wissenschaftler:innen geforderten Reformen für den Mittelbau geplant? Und gehen sie auf die Rufe der TV-Stud-Kampagne nach einem Tarifvertrag für studentische Beschäftigte an Hochschulen ein?

Finanzierung und studentischer Alltag

Die CDU scheint eine Kehrtwende gemacht zu haben und möchte sich nach der Abkehr von den Studiengebühren für ein elternunabhängiges BAföG einsetzen. Jedoch ist ausgerechnet das BAföG Sache der Bundespolitik und die Bundesregierung hat schon verkündet, dass die BAföG -Sätze zum nächsten Wintersemester steigen werden und dass die Einkommensgrenzen, von denen die BAföG-Berechtigung abhängt, nach oben verschoben werden. Immerhin kann man darauf hoffen, dass die CDU das Vorhaben im Bundesrat nicht blockiert.

Außerdem hat die NRW-CDU ein Sonderfinanzierungsprogramm „Studentisches Wohnen“ angekündigt. Damit sollen die Studierendenwerke beim Neubau und bei der Modernisierung von bezahlbarem Wohnen unterstützt werden.

Ebenso wie die CDU plant die SPD Investitionen in den Neubau und die Sanierung von Studierendenwohnanlagen. Zudem möchte sie den Studierendenwerken mehr Geld zur Verfügung stellen, damit diese eine preisgünstige Hochschulgastronomie, Kinderbetreuung und psychosoziale Beratungsangebote ausbauen und Semesterbeiträge senken können. Beim BAföG verweist die NRW-SPD auf die von der Ampel-Koalition geplanten Reformen und spricht sich dafür aus (ebenso wie der Koalitionspartner FDP).

Die Forderungen der SPD werden von den Grünen komplett geteilt. Die Grünen überbieten die SPD allerdings, indem sie für bedürftige Studienanfänger:innen eine Studienstarthilfe von 1.000 Euro fordern. Außerdem möchten sie finanziell benachteiligte Studierende über das BAföG hinaus durch die Kostenübernahme von Studienmaterialien unterstützen.

Auch die FDP möchte finanzielle Hürden bei der Aufnahme eines Studiums beseitigen, wählt dafür jedoch einen anderen Weg als die übrigen Parteien: Sie plant, die Zusammenarbeit mit Portalen, die über Studienfinanzierungsmöglichkeiten informieren, auszubauen.

Arbeitsbedingungen studentischer Beschäftigter

Die SPD will dafür sorgen, dass SHKs an Universitäten grundsätzlich dem Tarifvertrag der Länder unterliegen und dass sie unbefristete Verträge erhalten, wenn sie für Daueraufgaben eingesetzt werden. Außerdem möchte sie die Arbeitsbedingungen von SHKs verbessern, indem sie SHK-Räte als studentische Personalvertretung verpflichtend machen will. Auch die Grünen fordern einen eigenen Tarifvertrag für studentische Hilfskräfte, sowie eine gesetzlich verankerte Personalvertretung mit gleichwertigen Personalvertretungsrechten an den Hochschulen.

Die CDU und die FDP thematisieren die Situation studentischer Beschäftigter in ihren Wahlprogrammen hingegen nicht.

 

»Auch die FDP möchte finanzielle Hürden bei der Aufnahme eines Studiums beseitigen, wählt dafür jedoch einen anderen Weg als die übrigen Parteien: Sie plant, die Zusammenarbeit mit Portalen, die über Studienfinanzierungsmöglichkeiten informieren, auszubauen.«

Perspektiven für den Mittelbau

Die CDU möchte Wissenschaftler:innen an den Hochschulen NRWs „nachhaltig fördern“ und dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr „Chancen geben“. An Hochschulen für angewandte Wissenschaften möchte sie außerdem den Mittelbau „stärken“. Konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen an Universitäten finden sich in dem Wahlprogramm nicht.

Die SPD hat die Rufe von #ichbinhanna dafür offenbar gehört, denn sie möchte entfristete Stellen für promovierte Wissenschaftler:innen zur Regel machen. Dazu  will sie sich für eine verlässliche Grundfinanzierung von Hochschulen und neue, dauerhafte Beschäftigungsmöglichkeiten unterhalb der Professur einsetzen. Zudem will sie dafür sorgen, dass sich Arbeitsverträge von Promovierenden  auch an der tatsächlich zu erwartenden Promotionsdauer orientieren und mehr Vollzeitstellen für Promovierende schaffen.

Auch die Grünen fordern Anstellungen für die volle Dauer von Promotions- und Habilitationsphasen. Außerdem setzen sie sich für neue Karrierewege für Wissenschaftler:innen abseits einer Professur, sowie Wiedereinstiegsmöglichkeiten in den akademischen Betrieb ein.

Zudem fordern sie mehr Juniorprofessuren, die nach einer Bewährungszeit in eine unbefristete Professur übergehen.

Sogar die FDP möchte mehr unbefristete Stellen für Daueraufgaben schaffen, betont jedoch die Sinnhaftigkeit befristeter Arbeitsverhältnisse für junge Wissenschaftler:innen, um durch Rotation den nachrückenden Generationen den Zugang zu wissenschaftlichen Tätigkeiten zu ermöglichen.

Die Schlüsse aus dem Vergleich der Wahlprogramme

Worauf können Studierende und Promovierende jetzt also hoffen? Zumindest darauf, dass sie gehört werden. Zwei der vier verglichenen Parteien haben sowohl Forderungen der TV-Stud-Kampagne als auch von #ichbinhanna in ihre Wahlprogramme übernommen – ein wichtiger Schritt auf dem Weg, das Thema auch bundesweit an den Verhandlungstisch zu bringen. Und ein Zeichen, dass Protest sich lohnt und wirkungsvoll ist. Auch die BAföG -Erhöhung zum kommenden Wintersemester ist ein Grund zur Freude, für den die Landesverbände jedoch nicht wirklich etwas können. Der studentisch-soziale Wohnungsbau wird von allen Parteien außer von der FDP unterstützt und man kann deshalb davon ausgehen, dass dort in der nächsten Legislaturperiode tatsächlich etwas Geld investiert wird. Dafür bietet uns die FDP etwas zum Lachen: Ihre Antwort auf die finanziellen Probleme von Studierenden ist der Ausbau von Internetportalen, mit denen man sich über Finanzierungsmöglichkeiten informieren kann! Das ist in Anbetracht der steigenden Mietpreise und Lebenskosten einfach nur zynisch. Glücklicherweise wird die FDP aber aufgrund der hohen Stimmverluste auch bei einer potentiellen Regierungsbeteiligung nicht viel von ihrem bildungs- und sozialpolitischen Programm umsetzen können. Viel mehr lässt sich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht sagen, denn wie viel Geld am Ende wirklich bei den Studierenden, den Hochschulen und den Studierendenwerken ankommt, wird sich wohl erst in den kommenden Monaten und Jahren zeigen. Bis dahin können wir nur begründet hoffen und fleißig weiter demonstrieren.

Bürgerlich: der "Dichter" Ernst Moritz Arndt. (Bild: Samuel F. Johanns)

Ein Blick hinein in gutbürgerliche Abgründe

von Jan Bachmann

07.06.2022 - Ausgabe 83

Darüber, welche Parteien der Bundesrepublik bürgerlich sind und welche nicht, ist viel gesprochen worden. Zu kurz kam in den diversen Diskussionen aber leider oft jene Frage, deren Beantwortung doch die Voraussetzung für das sinnvolle Führen der Debatte ist: Was genau meint eigentlich „bürgerlich“?

Bürgerliche Küche

Beginnen wir die Begriffsbestimmung mit einer Erinnerung des Verfassers: Als dieser vor vielen Jahren zum ersten Mal die Einführungsvorlesung in das bürgerliche Recht besuchte, da fragte der Professor, während er, die Hände auf dem Rücken gefaltet vor dem Katheder auf und ab ging, was denn eigentlich bürgerliches Recht sei — die erste von vielen rhetorischen Fragen, die noch folgen sollten. Man kenne, so fuhr er fort, ja sicher die bürgerliche Küche, was aber sei denn eigentlich genau die bürgerliche Küche? Die bürgerliche Küche sei alles das, was nicht dieses „kümmelige Ausländeressen“ sei. Eine befriedigende Definition ist dies freilich nicht, doch erlaubt diese kleine Anekdote einen kleinen Einblick in zutiefst bürgerliche Denkweisen, über die noch zu reden sein wird. Das Bürgerliche Recht trägt seinen Namen deshalb, weil es die Rechtsverhältnisse gleichgestellter Rechtsteilnehmer:innen — eben u.a. den Bürger:innen  — untereinander regelt. Rechtlich gesehen sind mit dem Begriff Bürger:innen die Angehörigen eines Staates oder auch einer Kommune gemeint.

„bürgerlich“ statt „rechts“

Doch ist — nun einmal politisch gesehen — nicht jede:r Bürger:in auch bürgerlich. Im marxistischen Sprachgebrauch etwa sind Bürger:innen Angehörige der herrschenden gesellschaftlichen Klasse, der Bourgeoisie, die im Widerspruch zur unterdrückten Arbeiterklasse stehe. Der Begriff hielt aber auch Einzug in die politische Debatte in der Bundesrepublik: Mitte der 80er Jahre wurde er von Heiner Geißler, dem damaligen Generalsekretär der CDU, in die politische Diskussion eingebracht. Gemeint waren mit dem bürgerlichen Lager die CDU/CSU und die FDP. Hintergrund war auch, den Begriff „rechtes Lager“, der in vielen anderen Staaten für Parteien mit vergleichbarer politischer Ausrichtung verwendet wird, aufgrund der historischen Vorbelastung zu vermeiden und sich gleichzeitig von den rechtsextremen Parteien abzugrenzen. Wie gut aber eignet sich der Begriff zu eben dieser Abgrenzung?

Das liberale Bürgertum?

Durch die Verwendung des Begriffs soll aber auch an die Tradition eines vermeintlich liberalen, von der Aufklärung geprägten Bürgertums des 19. Jahrhunderts angeknüpft werden, das sich mutig vom Joch der Herrschaft des Adels befreit und das es so natürlich nicht wirklich gegeben hat. Sicherlich gab es in den deutschen Landen auch einige Vertreter:innen eines liberalen, freisinnigen Bürgertums, doch werden von der — in der Regel zu Unrecht als liberal bezeichneten — bürgerlichen Nationalbewegung jener Zeit schon viele jener Wege beschritten, die schließlich an den Abgrund führten, in den das deutsche Volk so unendlich viele Menschen gestoßen hat.

Der „Dichter“ Arndt und das „judenartige Zusammenkleben“ der Franzosen

Am alten Zoll steht — noch immer — das Denkmal eines berühmten Vertreters dieser Bewegung: Der „Dichter“ Ernst Moritz Arndt — so eine Art Alexander Gauland des Biedermeiers. Arndt sah neben der Sprache vor allem den Hass auf französische und jüdische Menschen als einigendes Band zwischen allen Deutschen. Ob französisch oder jüdisch — für Arndt war das ohnehin das Gleiche, dies erkenne man ja zweifelsfrei am „judenartigen Zusammenkleben“ der französischen Menschen. Ernst Moritz Arndt vertrat auch als einer der Ersten den fatalen Irrglauben, es gäbe eine deutsche Art — gemeint ist Rasse —, die anders als viele andere Völker noch nicht durch zu viel fremdes Blut „verbastardet“ sei, sondern sich ihre „angeborene Reinheit“ bewahren konnte. Schließlich sei „jede zu häufige Mischung der Völker mit fremden Stoffen durchaus ein Verderben.“ Darüber hinaus kann er auch als der Begründer der heute noch sehr verbreiteten Erzählung vom „Austausch der Deutschen“ gesehen werden, als er den geheimen Plan von Franzosen und Juden „aufdeckte“, alle „mannbaren teutschen Jungfrauen“ nach Frankreich zu entführen und sie dort mit Franzosen zu verheiraten um so die „edle deutsche Art“ zu „verbastarden“.

»So ist denn auch oft die einzige Kritik, die aus diesen bürgerlichen Kreisen an Hitler geübt wurde, dass dieser im ersten Weltkrieg nur einfacher Gefreiter war. Darüber hinaus gab es meist nichts an den Nazis, woran man sich stören konnte, im deutschen Bürgertum.«

Das bürgerliche Selbstbild

Eines der im deutschsprachigen Raum meistgelesenen Bücher des 19. Jahrhunderts  ist der 1855 erschienen Roman „Soll und Haben“ von Gustav Freytag. Das Buch wird dem bürgerlichen Realismus zugerechnet und vermittelt einen trefflichen Eindruck des Selbstbildes des Bürgertums jener Zeit, das sich, stets fleißig und strebsam arbeitend, seinen Platz gegenüber dem untergehenden Adel behauptet. Neben diesem bürgerlichen Selbstbewusstsein werden aber auch antisemitische Denkmuster vermittelt. Etwa durch die Figur des „Veitel Itzig“, der heimlich und versteckt durch Verträge, Darlehen und Kredite über Jahre hinweg eine Art Netz um die Menschen spinnt, um seine Gier zu befriedigen.

Verbreitet werden aber auch Klischees über das polnische Volk; es sei faul, träge, man betrinke sich schon zum Frühstück und lasse die Landwirtschaft verkommen, was dann den emsig arbeitenden Deutschen das Recht gebe, polnisches Land in Besitz zu nehmen und sich polnische Menschen untertan zu machen. Diese Idee wurde bereits Jahrhunderte zuvor vom Deutschritterorden verfolgt. Nach den Teilungen Polens existierte zwischen 1795 und 1918 kein polnischer Staat. Viele Pol:innen fristeten ihr Dasein als rechtlose Erntearbeiter:innen unter den Agrariern, allmächtigen adeligen Großgrundbesitzern, die im Osten des Reichs den Feudalismus des Mittelalters am Leben erhielten.

Eine bürgerliche Karriere 

An der Entrechtung polnischer Menschen, genauer gesagt an der „Kolonisierung“ Polens arbeitete auch zu Beginn seiner bürgerlichen Karriere einer der bezeichnendsten Vertreter des deutschen Bürgertums: Alfred Hugenberg. Hugenberg sah schon in den 1890er Jahren die Deutschen als „Herrenvolk“ dem sich Pol:innen zu unterwerfen hätten. Er war Gründungsmitglied des Alldeutschen Verbandes einem der größten Agitationsverbände des Kaiserreichs, der meist rassistische, expansionistische und natürlich auch antisemitische Ansichten verbreitete. In der Weimarer Republik schuf er ein Medienunternehmen, bestehend aus Zeitung, Verlagen, Filmgesellschaften, Presseagenturen, Pressediensten, Beteiligungen und vielem mehr. Durch seinen Konzern hatte er einen Einfluss auf die öffentliche Meinung, wie kein:e Unternehmer:in vor und nach ihm. Er nutzte diese Macht dann auch um die Demokratie, die er aus tiefster, bürgerlicher Überzeugung ablehnte, zu bekämpfen, wo immer es ging. Diesen Kampf führte er nicht nur als Unternehmer, sondern auch als Politiker. Hugenberg war Gründungsmitglied der Deutschnationalen Volkspartei  (DNVP), deren Programm im Wesentlichen aus Nationalismus, dem Kampf gegen die Demokratie und aus Antisemitismus bestand.

Die Bürgerlichen und die Nazis 

1933 ist es dann auch die DNVP, die eine Koalition mit der NSDAP bildet. Hugenberg wurde Wirtschaftsminister. 

Oft wird gesagt, die Bildung der Regierung unter Hitler als Kanzler sei der Versuch konservativer Kräfte gewesen, die Nazis in einem bürgerlichen Rahmen zu mäßigen. Es wäre jedoch falsch zu glauben, diese angestrebte Mäßigung beträfe den Antisemitismus, den Nationalismus, die Rassenlehre, die Ablehnung der Demokratie oder die Vorbereitung des Krieges. Gemäßigt werden sollte das Sozialistische — oder das, was man so nannte — der Nationalsozialisten.

Der wesentliche Unterschied zwischen den Bürgerlichen Kräften und den Nationalsozialisten bestand darin, dass letztere sehr gezielt alle gesellschaftlichen Schichten — also auch die bereitwillige Arbeiterschicht — ansprachen, während in den bürgerlichen Kreisen, bestehend aus Akademiker:innen, Offizieren oder Unternehmer:innen, ein allgegenwärtiger Chauvinismus gegenüber den unteren sozialen Schichten herrschte. So ist denn auch oft die einzige Kritik, die aus diesen Kreisen an Hitler geübt wurde, dass dieser im ersten Weltkrieg nur einfacher Gefreiter war. Darüber hinaus gab es meist nichts an den Nazis, woran man sich stören konnte, im deutschen Bürgertum.

Bid: May Gauthier via Unsplash

Politik

Ist die Ausnutzung von TikTok die neue Strategie für den Wahlsieg?

Der politische Einfluss von TikTok auf die Wahlen in Australien und Philippinen in diesem Monat

von Gabriella Ramus

07.06.2022 - Ausgabe 83

Soziale Medien haben sich nicht nur als revolutionär bei der Umgestaltung sozialer Normen und Verhaltensweisen erwiesen, sondern auch bei der Manipulation von Wahlen und der politischen Einstellung der Bürger:innen. Wir haben gesehen, wie Facebook Obama zum Wahlsieg 2008 verholfen hat, dann haben wir gesehen, wie russische Trolls Fake News verbreiteten und Trump beim Wahlkampf 2016 unterstützt haben, und wir haben gesehen, wie ein einziger Tweet den Sturm auf das Kapitol im Jahr 2021 ausgelöst hat. 

 

Der neue Riese auf dem Social-Media-Markt ist TikTok, und sein globaler Einfluss auf die Politik ist möglicherweise noch extremer als der anderer Plattformen. Um das zu verstehen, haben wir zwei Beispiele mitgebracht: Die Bundeswahlen 2022 in Australien und die Präsidentschaftswahlen 2022 auf den Philippinen, die beide in diesem Monat stattfanden.

 

Eine kurze Erklärung der Funktionsweise von Propaganda auf TikTok 

 

Es ist klar, dass sich die Art und Weise und die Quellen, aus denen die Menschen ihre politischen Informationen beziehen, ständig ändern. Vor zwei Jahren wussten die Menschen entweder nicht, was TikTok ist, oder sie hielten es für eine chinesische Tanz-App für Kinder. Im September 2021 gab die TikTok-Zentrale bekannt, dass der Meilenstein von 1 Milliarde monatlich aktiver Nutzer:innen erreicht wurde und TikTok auf Platz 6 der Liste der weltweit aktivsten Social-Media-Plattformen von DataReportal steht. 

 

Aber wer sind diese Nutzer:innen? Etwa 44 % der TikTok-Nutzer:innen sind laut DataReportal zwischen 18 und 24 Jahre alt und 32 % sind zwischen 25 und 34 Jahre alt. Die Hauptzielgruppe sind also junge Menschen, vor allem aber Menschen, die wahlberechtigt sind und sich über die App über Politik informieren können. Diese Altersgruppen sind auch voreingenommen dafür bekannt, dass sie wenig bis gar keine Geduld haben, wenn es darum geht, Zeitungen zu lesen oder die Tagesschau zu verfolgen, so dass es mehr als wahrscheinlich ist, dass sie es vorziehen würden, sich mit kurzen sarkastischen Videos zu informieren. 

 

Obwohl bezahlte politische Werbung auf TikTok nicht erlaubt ist, bedeutet das nicht, dass Parteien und Politiker:innen keine eigenen Accounts haben und für ihre politische Agenda werben können oder dass Wähler:innen ihre parteiischen Meinungen nicht frei äußern können. Das könnte man auch auf Facebook, Twitter oder Instagram tun, aber was TikTok von anderen unterscheidet und seinen politischen Einfluss so kolossal macht, ist sein Algorithmus. 

 

Wenn man TikTok öffnet, landet man direkt auf der Seite “Für dich”, auf der empfohlene Videos angezeigt werden – und nicht die Seite mit Videos von Personen, denen man folgt. Je nachdem, wie lange man sich ein Video ansieht, welche Art von Kommentar man schreibt oder mag, ob man das Video mit anderen teilt oder speichert, ist die Seite “Für dich” so gestaltet, dass sie nur auf die eigenen Bedürfnisse eingeht. Also hat man selbst nur wenig aktiven Einfluss darauf, was man sich am meisten ansieht. Und deshalb ist TikTok als politisches Propagandainstrument so wirksam und gefährlich.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass alle für Partei A und gegen Partei B sind, weil nur das auf der eigenen Seite erscheint und alle Kommentare dies bestätigen. Die Informationen müssen nicht überprüft werden, und es geht so schnell, dass man nicht einmal Zeit hat, sie zu hinterfragen, sondern sie einfach verinnerlicht und zum nächsten Video scrollt. Es ist mehr als eine Filterblase, es ist eine Filterwand.

Die australischen Bundeswahlen 2022

Einige Monate vor dem Wahltermin, dem 21.05., verzeichnete TikTok einen deutlichen Anstieg der Anzahl der Konten von Politiker:innen, deren Hauptziel es war, vor der Wahl der Abgeordneten des 47. australischen Parlaments politische Erfolge zu verbreiten und Gegner:innen zu kritisieren. Die erfolgreichste Content-Methode offizieller politischer Konten ist die Angriffsanzeige, d.h. kurze, leicht bearbeitete Clips mit einem Fauxpas der Opposition. 

Australiens größtes offizielles politisches TikTok stammt von Julian Hill von der Labor-Partei, der fast 150.000 Follower:innen und mehr als 2,2 Millionen Likes hat, dank seiner Videos im Vlog-Stil und Highlights seiner Reden, in denen er oft die Taten des derzeitigen Premierministers Scott Morrison von der Liberalen Partei verurteilt. Morrison hat auch ein Konto – allerdings nicht so erfolgreich oder aktiv – wo man ein Video finden konnte, in dem er über einen “Happy Lunar New Year”-Filter versucht, Chinesisch zu sprechen und Teigtaschen zu kochen.

 

»Obwohl die Marcos-Familie nach Angaben der Weltbank 10 Milliarden Dollar an unrechtmäßigem Reichtum angehäuft hat und nach Angaben von Amnesty International rund 70.000 "Staatsfeinde" verhaftet, 34.000 gefoltert und mehr als 3.000 getötet hat, werden sie auf der App als Helden und ihr Regime als "goldenes Zeitalter" porträtiert.«

Es sind jedoch die nutzer:innengenerierten Inhalte, die die Plattform dominieren. Hashtags wie #ausvotes, #auspol, #scomo und #albo sind voll mit Inhalten von normalen Nutzer:innen, die Memes machen, Sketche aufführen, auf Clips und Schlagzeilen reagieren und ihre Gedanken zur Politik teilen. Einem Bericht von We Are Social und Hootsuite zufolge verbringen australische Nutzer:innen monatlich deutlich mehr Zeit auf TikTok als auf anderen Apps – 23 Stunden im Vergleich zu 17 Stunden auf YouTube oder Facebook –, so dass man die Menge der erstellten Inhalte stark einschätzen kann.

Um qualitativ hochwertige politische Informationen zu unterstützen und Fake News zu vermeiden, hat TikTok im März mit Unterstützung der Australian Electoral Commission (AEC) einen In-App-Wahlführer eingeführt. Er informiert über die Bedeutung der Stimmabgabe und bietet Informationen über den Wahlprozess, den Ort und die Möglichkeiten zur Stimmabgabe. Möglicherweise reichte dies jedoch nicht aus, um die Legitimität der Wahldebatte auf der Plattform zu schützen. Im November berichtete ein TikTok-Nutzer, dass ihm 300 Dollar angeboten wurden, um Anti-Scott-Morrison-Videos zu erstellen, und im Mai berichtete die ABC, dass mindestens ein Influencer dafür bezahlt wurde, anti-Liberale Inhalte zu produzieren. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, was die verschleierte rechtswidrige Norm zu sein scheint.

Die philippinischen Präsidentschaftswahlen 2022

Die philippinischen Wahlen erwiesen sich durch die Funktionsweise von TikTok als noch gefährdeter. In einem Land, in dem laut DataReportal rund 36 Millionen Menschen die App nutzen und laut Comelec (Commission on Elections) 56 % der 65,7 Millionen registrierten Wähler:innen unter 40 Jahre alt sind, wird die Plattform zu einem zwingenden und einflussreichen politischen Instrument. 

Diese jungen Wähler:innen wurden entweder nicht während des Kriegsrechts von Diktator Marcos Sr. geboren oder waren zu jung, um sich daran zu erinnern. Infolgedessen unterstützten 72% der registrierten Wähler:innen im Alter von 18 bis 24 Jahren den Kandidaten Bongbong Marcos, den Sohn des Diktators, wie aus einer Umfrage von Pulse Asia hervorgeht.

Die erstaunlichen Zahlen von TikTok-Nutzer:innen und Marcos-Anhänger:innen sind kein Zufall. Obwohl die Marcos-Familie nach Angaben der Weltbank 10 Milliarden Dollar an unrechtmäßigem Reichtum angehäuft hat und nach Angaben von Amnesty International rund 70.000 “Staatsfeinde” verhaftet, 34.000 gefoltert und mehr als 3.000 getötet hat, werden sie auf der App als Held:innen und ihr Regime als “goldenes Zeitalter” porträtiert. Einige TikToker:innen tun dies kostenlos, während andere nach Angaben von Agents International monatlich bis zu 4.700 Dollar für die Erstellung von Pro-Marcos-Inhalten erhalten können.

Als Versuch, die Situation zu verbessern, hat sich TikTok mit Comelec, GMA News und Public Affairs zusammengetan, um verlässliche Wahlinformationen zu liefern. Dies ist Teil der Bemühungen, Fehlinformationen auf der Plattform im Vorfeld der Wahlen 2022 zu bekämpfen. Der Sieg von Bongbong Marcos beweist, dass dies nicht genug war.

Diese beiden Beispiele zeigen, wie TikTok mit politischen Absichten ausgenutzt werden kann. Es kann in einem etablierten demokratischen Land wie Australien genauso viel Schaden anrichten wie in einem unterentwickelten Land wie den Philippinen. Wir leben in einer Zeit, in der die sozialen Medien die sozialen Interaktionen und langsam auch unsere Politik kontrollieren. 

Oder vier Stunden mehr

eine Kolumne von Helene Fuchshuber

07.06.2022 - Ausgabe 83

Akkuladestand 30 %. Ich bin zwar noch an, aber erkenne Menschen, die ich eigentlich kenne, nicht. Blockseminar ab 9:00 gehabt, am Tag vorher arbeiten bis 20:30, nach dem Seminar grad nach Köln gefahren und jetzt ganz viele Menschen um mich herum. Die ich alle vage kenne, ein paar besser, Felix nicht gut genug, um mich an seinen Namen zu erinnern. Oh well. Ich brauch eine Powerbank. Mein Handy hatte Phasen, in denen es bei 70 % den Geist aufgab. Also habe ich konsequent eine dabei – allerdings brauche ich die gerade nicht, sondern eher eine für mich. 

Powerbanks für Menschen sind vermutlich Dinge wie genug Schlaf, Self Care, Urlaub, gesunde Ernährung, Work Life Balance und so. Wobei meine Mitbewohnerin Karina grade angemerkt hat, dass diese Dinge in der Analogie die Steckdose wären, und eine Powerbank für Menschen eher so was wie eine Line Koks. Egal – das Gleichgewicht krieg ich jedenfalls gerade nicht hin bzw. es fehlt mir eigentlich komplett. Ich vergesse mich regelmäßig voll aufzuladen, mache stattdessen ganz viele andere Sachen.

Was mich dazu führt, dass ich gerade gerne vier Stunden mehr jeden Tag hätte. Oder vielleicht nicht jeden Tag, aber doch an so mindestens vier Tagen die Woche. Oder eine persönliche Zeitumstellung nur für mich. À la, es ist erst 13:00 obwohl es schon um fünf ist. À la, du darfst bis zwölf schlafen, noch ein bisschen länger laden, denn keine Sorge, es ist erst 8:00. 

Und das, obwohl es ausnahmsweise sogar halbwegs okay ist, wenn ich morgens um 6:30 aufstehen muss. Meine innere Uhr weckt mich kurz vor dem Handy und es ist in Ordnung, mich nicht noch einmal umzudrehen, sondern mir das nervige Geräusch eines Glockenturms zu ersparen.

An alle Menschen, die noch früher oder eh schon immer wahnsinnig früh aufstehen (müssen): Mein herzliches Beileid, Chapeaux, und ich weiß, dass das alles eine Frage der Gewöhnung ist. Aber nach zwei Jahren Leerlauf ist das frühe Aufstehen für mich ein Ding. Innerhalb dieser zwei Jahre war es mir gefühlt physisch unmöglich, zu geregelten Zeiten regelmäßig früh aufzustehen. Und das, obwohl ich dann tagsüber gar nicht so viel machte. Außer mir Gedanken, über mich und die Welt. Bisschen Self Care. Und manchmal ein bisschen Uni. Aber gar nicht mal so viel. 

Ich halte also rückblickend fest, dass Menschen nicht wie Handys sind, oder anders, dass Schlafen als Steckdose und Energiezufuhr zumindest mir nicht reicht.

Zurück im jetzt ist der Leerlauf vorbei:

Uni findet in Präsenz statt. Arbeit findet in Präsenz statt. Leben findet in Präsenz statt.

Und deshalb brauche ich vier Stunden mehr bzw. lebe ich gerade ca. 300 % – Ich habe nämlich absolut keine Lust, an einer dieser Stellen weniger zu machen. 

Das klingt vermutlich ziemlich prätentiös. 300 % Leben. Wow Helene, herzlichen Glückwunsch. Ich weiß auch, dass andere Menschen noch mehr machen und gebacken kriegen als ich, aber ich schreibe ja nun mal gerade als ich. Aber just to let you know, ich bin mir der Relativität bewusst. Oder Relationalität. Was auch immer. 

»Das ist die Paradoxie dahinter: Es gibt mir Energie, Energie in die Dinge zu stecken.«

Ich stelle jedenfalls fest, dass ich zu viel mehr Sachen-Machen in der Lage bin, wenn ich mehr Sachen zu tun habe. Ergibt das Sinn? Ich hatte zu lange nichts zu tun, musste nichts wirklich tun, außer den ein oder anderen Text lesen. Was ich dann auch nicht gemacht habe. Und ich war fürchterlich angestrengt davon, es hat mir wahnsinnig viel Energie genommen. Sorry für den nachträglichen Jammermodus. Aber ich bin nicht gemacht fürs Nichtstun und nicht aus mir heraus diszipliniert und motiviert genug, mehr zu machen. Selbst schuld. Jetzt merke ich, wie viel fröhlicher es mich macht, wie viel mehr Energie ich habe, obwohl ich so viel mehr Energie aufwende. 

Blick zurück auf meinen Energiestand. Samstagabend in Köln, 30 %, ich muss erstmal klarkommen. Ich erkläre einigen Menschen meine 300 % Theorie und trinke währenddessen ein Bier. Klassische Smalltalk Gespräche folgen – und was studierst du so, was war das für ein Seminar und so weiter und so fort. Politik und Gesellschaft, es ging um feministische Außenpolitik, wir haben ein Planspiel gemacht. Ja es war anstrengend, aber auch cool, zum Teil überraschenderweise (weil hallo, wir haben ein Planspiel gemacht). Oh und wow, du studierst Kunstgeschichte? Erzähl mir mehr…

Und während ich das erzähle, stelle ich nach zwei Jahren fest, dass ich gerne studiere, was ich studiere. Dass es mich interessiert. Dass Studium an sich doch gar nicht so kacke ist, wie ich zwei Jahre dachte. 

Mein Akku lädt. Ein bisschen später sitz ich mit 60 %, einem zweiten Bier und besserer Laune an einem Lagerfeuer am Rhein. 

Das ist die Paradoxie dahinter: Es gibt mir Energie, Energie in die Dinge zu stecken. Ich wette, es gibt theoretisch irgendein tolles mathematisches Wort für diese Art von Rechnung, ich bleibe aber bei Paradoxie, weil ich das Wort mag und Mathe nicht kann und keine Energie ins Nachschlagen stecken mag. Es ist viel anstrengender in Präsenz in einem Seminar zu sitzen, insbesondere in einem Seminar mit genau zwei Teilnehmerinnen. Ich muss plötzlich tatsächlich den ganzen Lektürehaufen lesen. Außerdem, ich erwähnte es, arbeiten. Außerdem, nach Köln fahren oder nicht mal, sondern in Bonn bleiben, aber Menschen sehen. Es ist irgendwie anstrengend, alles unter einen Hut zu kriegen, manchmal fällt der Schlaf hinten runter, manchmal fällt das Frühstück davor aus. Manchmal sitz ich mit 30 % irgendwo im Sand und vergesse einen Namen, aber insgesamt laufe ich deutlich fröhlicher und energetischer durch die Welt. Denn es geht eben nicht auf, mich selbst mit einem Handy zu vergleichen. Mein Akku wird durch Benutzung nicht niedriger, die Zahlen laufen nicht konsequent rückläufig, bis ich an Steckdose oder Powerbank angeschlossen werde. Ich kann mich quasi selbstaufladen. Und das funktioniert umso besser, je mehr ich mache. Und zumindest gerade mache ich eben 300 %.