SEMESTERFERIEN
2022

Editorial

Liebe Leserinnen & Leser,

 

wir hoffen, ihr habt es alle gut in die vorlesungsfreie Zeit geschafft – alle Klausuren geschrieben oder verschoben, die so anstanden, Themen für Hausarbeiten gefunden, andere Arbeiten schon abgeschickt, Verlängerungen beantragt oder einfach entschieden, statt dreie Papern Maximum eins zu schreiben… Quintessenz: Hoffentlich könnt ihr den Sommer genießen und habt tatsächlich ein bisschen freie Zeit! Liegt unter irgendeiner Sonne, wahlweise im Hofgarten oder am Rhein, vielleicht sogar irgendwo am Meer. Strandet auf dem Weg nach Sylt aufgrund diverser Verspätungen der DB wer weiß wo. Steht auf irgendeinem Berg und genießt die Aussicht oder wartet an einer Gepäckausgabe auf einen Koffer, der hoffentlich bald kommt.

Falls ihr diese freie Zeit zum Lesen nutzen wollt oder vielleicht Prokrastinationsgründe braucht, erscheinen hier ab jetzt Ferienbeiträge von uns, die wir am Ende in einer virtuellen Sommerausgabe zusammenstellen werden. Also stay tuned und viel Spaß!

Liebe Grüße

Eure Redaktion des FW 

Helene Fuchshuber und Lily Husmann, Chefredakteurinnen

Inhalts-verzeichnis

lumbung und ruangrupa sind Thema der documenta fifteen

Weniger Pandemie, weniger Geld, weniger Reisen

Eine Reihe von Fotos aus dem BAStA-Archiv

Das Wichtigste in Kürze

Eine Ratte und der kosmische Horror

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Neben Kontroversen gibt es auf der documenta auch genug Platz zum ausruhen.(Bild: Gabriella Ramus)

Ein Wochenende auf der documenta

Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und lumbung sind die zentralen Themen der documenta fifteen dieses Jahr

von Gabriella Ramus

01.08.2022 - Semesterferien 22

„Mama, ich kann jetzt nicht reden. Ich sitze im Zug nach Düsseldorf… Nein, er fährt nicht. Wir stehen im Kölner Hauptbahnhof fest… Ich glaube, die Polizei wirft eine Gruppe betrunkener Männer mit rosa Hüten aus dem Zug… Ja, schon wieder… Es ist so voll hier, ich fühle mich wie in einer Sardinenbüchse… Ja, ich treffe Amelie in Düsseldorf, und dann fahren wir nach Kassel… Ok, wir telefonieren später. Tschüss”.

So begann meine Reise zur documenta, die ich am Wochenende besuchen wollte: in einem sehr stressigen, überfüllten und verspäteten Zug. Leider war das nicht der einzige. Wir sind dann mit einem anderen Zug nach Hamm gefahren, dann mit einem anderen Zug nach Warburg und mit einem Bus nach Kassel. Insgesamt fünf Stunden unterwegs, alles dank Baustellen und der üblichen Verspätung unserer lieben Deutschen Bahn.

Aber ich muss sagen, das hat sich gelohnt. Für diejenigen, die noch nie etwas von der documenta gehört haben (oder vielleicht nur von dem antisemitischen Skandal dieses Jahr), ist es eine sehr bedeutsame Kunstausstellung, die alle fünf Jahre für 100 Tage in Kassel stattfindet, also in einer relativ kleinen und charmanten Stadt an den Ufern der Fulda in Hessen. Meine Freundin Amelie, die dort geboren ist, erzählt mir, dass sich die Stimmung in der Stadt ändert, sobald die documenta beginnt. Wenn man durch das Stadtzentrum geht, findet man an jeder Ecke ein anderes Kunstwerk. Von einem Obelisken mit der Aufschrift “ICH WAR EIN FREMDLING UND IHR HABT MICH BEHERBERGT” bis hin zu einer Außensauna, die tatsächlich jede Nacht in Betrieb ist. Werke aus früheren documentas, die vom Rathaus gekauft wurden, mischen sich mit den Werken von Künstler:innen, die für die fünfzehnte Ausgabe der Ausstellung eingeladen wurden.

Es mag zwar bemerkenswert erscheinen, dass ein so wichtiges Ereignis in einer relativ unbekannten Stadt mitten in Deutschland stattfindet, aber es gibt einen Grund dafür. Und der Grund heißt Arnold Bode. Der Kasseler Maler und Akademieprofessor wollte im Jahr 1955 Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder in die internationale Kunstszene einführen. Er organisierte eine große Veranstaltung in der Stadt, die sich auf die Präsentation der “Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts” konzentrierte, d. h. vor allem auf die Kunst der Moderne von berühmten Künstlern wie Pablo Picasso, Max Ernst, Hans Arp, Henri Matisse, Wassily Kandinsky und Henry Moore. Ermutigt durch den unerwarteten Erfolg und die enormen Besucherzahlen (130.000) plante Bode für 1959 eine zweite Ausstellung. Seitdem ist alle fünf Jahre wieder Zeit für die documenta.

In diesem Jahr wird sie von einem indonesischen Künstlerkollektiv namens ruangrupa aus Jakarta kuratiert. Die Gruppe gab an, dass sie sich bei der Auswahl der Kunstwerke an den Werten von lumbung orientiert. lumbung ist ein indonesisches Wort, das sich auf gemeinschaftliche Reisscheunen und die konkrete Umsetzung der Prinzipien von Kollektivität, Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung bezieht. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt also auf alternativen, gemeinschaftsorientierten und nachhaltigen Arbeitsweisen. Das hört sich etwas kompliziert an, aber wenn man mit den Kunstwerken konfrontiert wird, ergibt es viel mehr Sinn.

 

»Ich hatte den Eindruck, dass ruangrupa die Kunst mit der Öffentlichkeit verbinden wollte, um die Distanz, die Fremdheit und die Vorurteile zu beseitigen, die die Menschen normalerweise gegenüber zeitgenössischer Kunst haben.«

Dieses gemeinsames Thema verbindet alle auf der documenta präsentierten Kunstwerke miteinander. Ich hatte den Eindruck, dass ruangrupa die Kunst mit der Öffentlichkeit verbinden wollte, um die Distanz, die Fremdheit und die Vorurteile zu beseitigen, die die Menschen normalerweise gegenüber zeitgenössischer Kunst haben. Und das taten die Gruppe, indem sie Künstler:innen einluden, die normalerweise auf dem Kunstmarkt keine Stimme haben, d. h. Künstler:innen, die nicht nur männlich, weiß, reich und französisch sind, und die etwas über ihre Geschichte und ihr Erbe zu sagen hatten, und zwar auf eine bottom-up Art und Weise. Und ich glaube, die Leute haben das verstanden und waren offen und interessiert. Denn ich war nicht die einzige, die sich einen 60-minütigen Film über eine Stadt namens Müküs in der Bergregion an der türkischen Grenze zum Iran ansah – Der Film heißt Aşît (2022) von Pinar Öğrenci und ist im Hessischen Landesmuseum zu sehen.

Ein weiterer Favorit von mir war die Arbeit der kollektiven Kunstgruppe Atis Rezistans | Ghetto Biennale aus Port-au-Prince, Haiti, in der Kirche St. Kunigundis. Der Ort wirkt deplatziert zwischen den Häuserkomplexen. Schon der Weg dorthin ist interessant, denn man muss durch die Gärten der Menschen gehen, während sie rauchen, sich unterhalten und einen durch die an den Wänden hängenden Klamotten beobachten. Im Inneren befinden sich zahlreiche Skulpturen, die Heiliges und Profanes, Christentum und Voodoo, echte Skelette und Schrott aus Autowerkstätten vermischen. Diese Gegensätze machen in diesem Fall jedoch Sinn und ergänzen sich gegenseitig.

Von der Decke der Kirche hängt eine gigantische Struktur, die der britische Architekt und ehemalige Ghetto-Biennale-Teilnehmer Vivian Chan in Zusammenarbeit mit André Eugène und Leah Gordon entworfen hat. Seine Form spiegelt die Geometrie und Kakophonie der Straßen im Viertel hinter der Grand Rue in Port-au-Prince wider.

In der gleichen Straße von der Kirche befindet sich das Hallenbad Ost mit einer Ausstellung von Taring Padi, einer Gruppe progressiver Kunststudierenden und Aktivist:innen, die in 1988 als Reaktion auf die soziopolitischen Umwälzungen in Indonesien während der Reformationszeit entstanden. Außerhalb des umfunktionierten öffentlichen Bades stehen zahlreiche politisch kritisch Pappfiguren, so genannte wayang kardus, die aussehen, als könnten sie für einen Protest verwendet werden, und im Inneren befinden sich zehn großformatige Banner und Artefakte aus den letzten 22 Jahren ihrer Tätigkeit.

Und schließlich geht eine weitere lobende Erwähnung an Malgorzata Mirga-Tas und ihre Serie Out of Egypt 1-5. Auf monumentalen Textilcollagen bekämpft sie die negativen Stereotypen, die mit den Roma verbunden sind, indem sie hauptsächlich Frauen bei ihren entspannenden alltäglichen Aktivitäten zeigt. Ihre farbenfrohen, ornamentalen Textilcollagen werden mit der Garderobe der abgebildeten Personen angefertigt, was sie noch persönlicher macht. Sie präsentiert Roma-Selbstporträts oder Erzählungen darüber, wie die Roma sich selbst wahrnehmen.

Zeitgenössische Kunst muss also nicht elitär und abgeschottet sein. Sie muss die Besucher:innen nicht verwirren und ihnen das Gefühl geben, dumm zu sein, wenn sie nicht „kultiviert genug“ sind, um zu wissen, worum es geht. ruangrupa ist es gelungen, dies zu vermeiden, indem sie eine Brücke der Empathie zwischen Künstler:innen und Besucher:innen gebaut haben. Falls ihr Interesse an einer Teilnahme habt, die documenta fifteen findet vom 18. Juni bis 25. September statt. Ihr könnt mit dem 9-Euro-Ticket anreisen, wie ich es getan habe, aber ich wünsche euch viel Glück mit der Bahn.

Gabriella Ramus

Anmerkung: Ich habe beschlossen, in diesem Artikel nicht auf den Skandal des Antisemitismus einzugehen, weil ich denke, dass alles, was gesagt werden sollte, bereits schon gesagt wurde. Wenn du dich für das Thema interessierst, empfehle ich die folgenden Texte:

Documenta: Ein Skandal mit langer Vorgeschichte

Von der Kunstfreiheit nicht gedeckt

Documenta der Ignoranz

Karikatur

Pandemische Ferien mit Fritz

Wie Fritz "nach" Corona die vorlesungsfreie Zeit verbringt

eine Karikatur von Jan Bachmann

01.08.2022 - Semesterferien 2022

Jan Bachmann

von Clemens Uhing

07.08.2022 - Semesterferien 2022


Das Wichtigste in Kürze

Laufen eure BAföG-Zahlungen noch, sollte das Geld automatisch bis spätestens Ende September auf eurem Konto eingehen. Falls ihr im genannten Zeitraum BAföG bezogen habt, inzwischen aber aus dem BAföG ausgeschieden seid, solltet ihr euch mit dem BAföG-Amt in Verbindung setzen, um sicherzustellen, dass dort eure aktuellen Adress- und Kontodaten vorliegen.

Bis Ende August Deutschland erkunden und für das Wintersemester 2022/23 weniger Beitrag überweisen. Wie viel genau könnt ihr unter folgendem beim Studierendenservice der Uni Bonn einsehen. Falls ihr nicht weiterstudiert, gibt es Sonderregelungen, Details findet ihr auf der Website des AStAs.

Sprecht euren Arbeitgeber unverzüglich auf die Pauschale an. Als Minijobber kann euch der Arbeitgeber die Pauschale nicht automatisch auszahlen. Zuerst müsst ihr ihm gegenüber bestätigten, dass es sich um euer erstes Dienstverhältnis handelt. Ein Musterschreiben findet ihr hier bei Chip.de. Stichtag ist der 01. September. Lasst ihr diesen verstreichen, könnt ihr euch die 300 Euro über die Steuererklärung sichern.
Achtung! Prüft vor der Auszahlung nochmal, ob ihr trotz der 300 Euro in einer Minijob-Anstellung bleibt und nicht aus der Familienversicherung fallt. Das könnte vor allem dann passieren, wenn ihr dieses Jahr schon mehr als zwei Monate über 450 Euro verdient habt.
Achtung! Wenn ihr über das BAföG den Heizkostenzuschuss bekommt, könnt ihr die Energiepreispauschale zusätzlich von eurem Arbeitgeber ausgezahlt bekommen.

Bittet eure Eltern euch die 100 Euro zusätzlich zum Unterhalt weiterzugeben, falls sie euch nicht ohnehin schon über den gesetzlichen Unterhaltsanspruch hinaus unterstützen.

Heizkostenzuschuss, Energiepreispauschale, 9-Euro-Ticket und Kindergeld – von welchen Entlastungen Studierende profitieren können

Von den beiden von der Bundesregierung beschlossenen „Entlastungspaketen“ profitieren auch Studierende, wenngleich vielseits die zu geringe Höhe und die Beschränkung von Direktzahlungen auf BAföG-Empfänger:innen kritisiert wird. Studierende, die kein BAföG beziehen, wurden nicht unmittelbar mitgedacht. Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die bisher beschlossenen Entlastungen, von denen auch Studierende profitieren können.

Wie schon erwähnt, werden immerhin BAföG-Empfänger:innen durch eine Direktzahlung unterstützt. Alle Studierenden, die zwischen Oktober 2021 und März 2022 mindestens einen Monat BAföG bezogen haben und nicht mehr bei ihren Eltern wohnen, bekommen zwischen Juni und September einen einmaligen Heizkostenzuschuss von 230 Euro (bzw. 270 Euro bei gleichzeitigem Wohngeldbezug) automatisch überwiesen.

Zusätzlich gilt noch bis Ende des Monats das Semesterticket bundesweit. Dafür gibt es immerhin eine Rückerstattung der Differenz zwischen den Kosten des Semestertickets und den Kosten des 9-Euro-Tickets über eine Gutschrift auf euer Beitragskonto beim Studierendensekretariat. Die Rückmeldung für das nächste Wintersemester sollte euch an der Universität Bonn also in der Regel nur 246,96 Euro kosten. Eure persönlichen Zahlungsdetails könnt ihr beim Studierendenservice der Uni Bonn einsehen.

Zuerst schien es, als würden Studierende, die von ihren Eltern unterhalten werden oder sich durch Minijobs selbst finanzieren – abgesehen von dem 9-Euro-Ticket – leer ausgehen. Schließlich hieß es ursprünglich die Energiepreispauschale für Erwerbstätige in Höhe von 300 Euro würde nur an einkommensteuerpflichtige Beschäftigte ausgezahlt. Nach übereinstimmenden Berichten ist nun aber klar, dass auch Minijobber – darunter studentische Beschäftigte – Anspruch auf die 300 Euro haben. Wer am 01. September in einem Anstellungsverhältnis ist sollte das Geld mit seinem Septembergehalt ausgezahlt bekommen (abgesehen weniger Ausnahmen bspw. bei Anstellungen in Privathaushalten oder Kleinstunternehmen). Weil Minijobber:innen aber grundsätzlich in mehreren gleichwertigen Anstellungen beschäftigt sein können, müssen sie vorher gegenüber dem einen oder einem der Arbeitgeber schriftlich bestätigen, dass es sich um ihr erstes Dienstverhältnis handelt. Damit soll eine Auszahlung durch mehrere Arbeitgeber ausgeschlossen werden. Einen Mustertext findet ihr auf der Website von Chip.

Minijobber, und dazu gehören Studentische und Wissenschaftliche Hilfskräfte an der Universität, haben also Anspruch auf die 300 Euro, müssen dafür allerdings durch die oben erwähnte schriftliche Bestätigung selbst aktiv werden. Wenn ihr bis jetzt noch nichts von eurem Arbeitgeber gehört habt, solltet ihr diesen zügig darauf ansprechen, damit der Stichtag des 01. Septembers nicht verstreicht. Falls ihr den Stichtag verpasst oder ihr vor September, aber nicht mehr im September gearbeitet habt, könnt ihr euch das Geld über eure Steuererklärung zurückholen.

Die zusätzlichen 300 Euro sollten in der Regel keine Auswirkung auf eure Lohnsteuerpflichtigkeit haben. Zwar könntet ihr dadurch die steuerfreie Einkommensgrenze von 5400 Euro jährlich überschreiten – das ist aber in Ordnung, wenn dies „unregelmäßig und nicht vorhersehbar“, also maximal in drei Monaten eines Jahres passiert. Selbiges gilt für die Familienkrankenversicherung. Die monatliche Einkommensgrenze liegt dabei aktuell bei 470 Euro, ab Oktober bei 520 Euro. Auf die Grenze werden vertraglich vereinbarte Sonderzahlungen wie Weihnachtsgeld zwar angerechnet, aber eben nur, wenn sie regelmäßig und vorhersehbar sind. Darunter fallen die 300 Euro Energiekostenpauschale nicht. Auch euer Kindergeldanspruch bleibt von der Pauschale unberührt.

Wenn ihr weder BAföG bekommt, noch in einem Minijob arbeitet, also etwa allein Unterhalt von euren Eltern bezieht, werdet ihr nur über das 9-Euro-Ticket und die damit verbundene Semesterbeitragsrückerstattung direkt entlastet. Allerdings sollten eure Eltern im Rahmen des zweiten Entlastungspaketes 100 Euro zusätzliches Kindergeld ausgezahlt bekommen haben, die sie an euch weitergeben könnten.

Selbst nachlesen:

Arbeitsagentur: Kindergeld ab 18 Jahren. URL: https://www.arbeitsagentur.de/familie-und-kinder/kindergeld-ab-18-jahren, zuletzt abgerufen am 07.08.2022.

Bundesfinanzminsterium: Schnelle und spürbare Entlastungen. URL: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Entlastungen/schnelle-spuerbare-entlastungen.html, 14.07.2022, zuletzt abgerufen am 07.08.2022.

Haufe Online: Steuertipps für Nebenjob und Minijob. URL: https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/top-thema-nebenbeschaeftigung/nebenjob-und-lohnsteuer_76_418724.html, 25.03.2021, zuletzt abgerufen am 07.08.2022.

Haufe Online: Einmalige Energiepreispauschale. Was Arbeitgeber wissen müssen. URL: https://www.haufe.de/personal/entgelt/einmalige-energiepauschale-vom-arbeitgeber_78_567508.html, 04.08.2022, zuletzt abgerufen am 07.08.2022.

Haufe Online: Ermittlung des Gesamteinkommens im Rahmen der Familienversicherung. URL: https://www.haufe.de/sozialwesen/versicherungen-beitraege/familienversicherung/gesamteinkommen-berechnung-bei-der-familienversicherung_240_497596.html, 30.12.2021, zuletzt abgerufen am 07.08.2022.

Clemens Uhing

Lamelleeeee! (Bild: cocoparisienne via Pixabay)

Essay

Von den Großen

Wie eine Wanderratte in meinem Badezimmer mich zum Nachdenken über H. P. Lovecraft und die Kultur animierte.

von Samuel F. Johanns

20.09.2022 - Semesterferien 22

Vor einigen Tagen stürzte eine Wanderratte durch das Fenster meiner Souterrain-Wohnung ins Badezimmer. In den folgenden zwei Tagen ihres Besuchs wurde das Tier zur Reflexionsfläche meiner geistigen Auseinandersetzung mit einem Genre der Horror-Literatur, welches mich seit meiner Teenagerzeit immer fasziniert hatte, setzt der kosmische Horror eines H. P. Lovecraft doch alles daran, uns emotional immer wieder in die Perspektive eines solchen Tieres zu versetzen.

Nachdem sie in eine für sie völlig lebensferne, kalt geflieste Umgebung stürzte, musste binnen der ersten Stunden unseres Aufeinandertreffens das Nagetier denn ein volles Repertoire hochgradig surreal anmutender Verhaltensweisen meinerseits, des Großen, erdulden. Vom initialen Angstschrei und der Flucht aus dem Raum über eine baldige resolute Rückkehr und der Wegnahme sämtlicher Versteckmöglichkeiten zum Zwecke ihrer genaueren Beobachtung, dem Heranschaffen eines Apparates zum Zielen und mit plötzlichem Klackgeräusch bis hin zum aggressiven Versuch, sie mittels eines Stabs in eine dunkle Kiste zu schieben. Schließlich nach einer Pause dann das Heranschaffen von Wasser und Brot unter dem für das Tier wohl äußerst tieffrequenten Einreden mit Lauten des gigantischen zweibeinigen Wesens, die sich jeder Verständlichkeit entziehen. Letztlich dann das Platzieren einer suspekten stählernen Konstruktion, in der sich Essbares befindet.

Kaum wie ein anderes ist Lovecrafts literarisches Werk also davon geprägt, uns analog diese grauenvolle Lebenserfahrung schauerlich aufdringlich machen zu wollen. Ich möchte sie folgend als Extrapolation der Herausforderungen unseres hiesigen, heute oft als postmodern bezeichneten, Zeitalters argumentieren.

Die Institution der Religion sowie ihre gedachte Genealogie wirken angesichts dessen beinahe wie ein verzweifeltes narratives Überschreiben jener schrecklichen Eventualität der Konfrontation mit dem unergründlichen Größeren. Von den personifizierten Naturgewalten in den ersten, chaotischen, gigantischen, titanischen Gottheiten über deren kriegerische Überwindung durch ein jüngeres, in Gestalt und Charakter sehr anthropomorphes Göttergeschlecht, erscheint die Funktion des Religiösen wie eine verstandesmäßige und emotionale Zugänglich- und Zurechnungsfähigmachung eines potentiell personal Größeren. Was unter anderem in Europa schließlich im Monotheismus kulminieren sollte, der geprägt war von der Vereinzelung einer dem Menschen zutiefst zugewandten Vatergottheit, die sich, so der Kern jüdisch-christlicher Theologie, mit dem Menschen sogar in einem Zustand des vertraglichen Bundes wiederfinden sollte. Und die Weltgeschichte insgesamt radikal auf explizit dessen Erlösung ausgerichtet hat. Die Praxis der Religion selbst, das Ritual, wird nicht müde, ganz gleich was die Propaganda zu tun pflegt, einer empirisch noch so unwahrscheinlichen Erzählung durch kontinuierliche Wiederholung und Liturgie zu versuchen, Bedeutung zu verleihen.

Das Genre des kosmischen Horrors aber zeichnet sich fulminant durch eine Verweigerung dieser beruhigenden Emotionsarbeit aus. Ja sie entzieht der Welt das letzte Vertrauen auf die vage Möglichkeit zur Kommunikation mit einer größeren, mächtigeren, intelligenteren Entität. Aber sie verneint nicht per se ihre Existenz! Die primordialen, für die Menschen gottartigen Wesenheiten im Universum eines H. P. Lovecrafts bleiben in ihren Beweggründen bewusst ebenso vollkommen rätselhaft und unfassbar wie das Verhalten eines Menschen einem plötzlich eingesperrten kleinen Tier erscheinen muss.

Die literarische Gattung sieht sich zudem als diametraler Gegenpol zu einer Denkfigur und Kulturphilosophie, die ihren Anfang mit zunehmender Naturbeherrschung des Menschen als das darstellen sollte, was wir historisch als Humanismus und Aufklärung bezeichnen. Eine vielleicht nie dagewesene Phase des menschlichen Selbstbewusstseins, wie sie für viele ihren geistigen Höhepunkt letztlich im Denken eines Immanuel Kants finden sollte, welcher ein geistiges Fundament hochgradig anthropozentrischer Philosophie errichtet hat. Eine Welt „an sich“, außerhalb unseres ureigenen Denkens und Ansehens hinter einem Schleier des Unmöglichen eingehegt und gezähmt, erscheint jede Wirklichkeit folglich als das, was der Mensch Kraft seines Denkens erst in sie hineinlegt und letztlich durch Sinn und Verstand seinem Dünken nach zugänglich und berechenbar zu machen im Stande sein kann. Ein Triumphzug, der die Metaphysik überhaupt als zermalmte, Trugbilder und die Religion als einfache Postulate der Vernunft vor sich her tragen sollte.
Doch der freudige Zug kam in der Philosophie des Kontinents doch bald zum Erliegen. Wo schon ein Arthur Schopenhauer sehr bald die „Welt an sich“ nun als Wille nicht nur wieder in das Denken aktiv hereinholte, sondern auch die Vernunft, den Verstand und die Vorstellung des Menschen beinahe zum epiphänomenalen Beiwerk und Instrument dieser der Natur innewohnenden Urgewalt aus sich selbst verdauenden und zerreißenden Körperbildern degradierte. Weitere Kränkungen sollten alsbald durch seine Epigonen folgen. Sigmund Freud, der auch den Begriff der Kränkungen des Menschen prägte, klassifizierte das Bewusstsein des Menschen als ein kleines Element eines viel tiefenwirksameren Maschinenraums der dunklen Elemente unserer psychischen Apparate. Und ein Darwin sollte die Krönung der Schöpfung schließlich zum Produkt einer Mutation affenartiger, baumbewohnender Säugetiere erklären. Der Cosmicism atmet diesen Geist des Anti-Anthropozentrismus aus voller Lunge. Totgeglaubte Dämonen des Okkulten und Obskuren halten feierliche Wiederkunft in Denken und Fühlen, selbst wenn ihr Türöffner eine Weiterentwicklung des konsequent wissenschaftlichen Denkens war.


Und wenn sie kommen?

Totschlagen, einfangen und zum Haustier machen, auswildern, vergiften, ignorieren, mit Beruhigungsmitteln sedieren, streicheln, an die Behörden melden, verbrennen, gemütlich füttern.

Die Ratschläge zum Umgang mit der Ratte in meinem Bad waren ebenso vielfältig wie die Menschen, die ich befragte. Und unweigerlich bildet diese Vielfalt der Ideen die generell heterogene und widersprüchliche Verhaltensform ab, welche wir Menschen mit den weniger verstandesmäßig ausgestatteten anderen Tieren tagtäglich praktizieren. Von tiefer Zuneigung und akribischem Schutz über harmlose Beobachtung zur gnadenlosen Bejagung, mitunter in die Ausrottung, Ausbeutung, Massen-Folterung reicht die Bandbreite des Verhältnisses – zu weit, um ein konsistentes bioethisches Profil zu ergeben. Was die gelegentliche konkrete Besorgnis evoziert, wie sich eine aus den Tiefen des Alls herannahende biologisch, sozial und kulturell „übergeordnete“ Spezies uns gegenüber verhalten würde (neben der ebenfalls sehr interessanten Frage, warum das noch nicht passiert ist). Die Vertreter:innen des Ancien Régime des notorischen Humanismus und Kulturoptimismus werden von der Hoffnung getragen, dass die technische Entwicklung mit der Erfindung der notwendigen Antriebstechnologie von weitreichenden Fortschritten in der Bioethik flankiert sein müsste. Wir also vielleicht nur gutmütig beäugt und bis zum Moment eines gewissen technischen Niveaus unbehelligt belassen werden.
Der ernüchternde Vorbehalt konstatiert hier, dass Industrialisierung und Atomzeitalter bislang uns nicht zum Anlass gereicht haben, davon Abstand zu nehmen andere Tiere millionenfach zum Zwecke der Verwertung in eben solche industriellen Komplexe einzubinden.
Was also werden die Großen tun, wenn sie uns sehen? Werden sie ihren Planeten bei der Rückkehr einfach von uns desinfizieren, wie wir Ratten als Schädlinge abends aus unseren Bädern entfernen? Werden sie sich dabei von ethischen Erwägungen leiten lassen, uns umzusiedeln? Werden sie uns kolonialisieren, verwerten, als Haustiere halten?
Der Cosmicism lässt all diese Fragen ganz bewusst unbeantwortet, weil er sie für absurd hält im Angesicht der doch eher unwahrscheinlichen Möglichkeit, dass eine Wanderratte urplötzlich verstehen könnte, dass der Mensch im Raum gegenüber gerne ungestört seine Dusche benutzen, dabei über sie als Projektionsfläche für seine existenziellen philosophischen Fragen nachdenken und dann gemütlich einen Cosmic Horror Film schauen möchte.


Das Monströse in direkter Nachbarschaft

Im Kontext der Psychoanalyse insbesondere J. Lacans kommt dem rätselhaften Charakter der Welt und dem unauflöslichen Mangel der notwendigen Fehlerhaftigkeit verzweifelter Welterkenntnis des in sie geworfenen Individuums sogar eine Art transzendentaler Charakter zu. Das notwendige Scheitern der Welterklärung wird zur Bedingung von Erkenntnis und letztlich der Kulturgenese selbst. Führt doch die Problematik enigmatischer Signifikanten selbst zur Kettenreaktion ihrer wilden Multiplikation. Der dunkle Urgrund der Seele, aus der sich die eigentlichen Trieb- und Bewegungsmotive jeder individuellen, aber auch kollektiven Personalität speisen, wurde das Leitmotiv medialer Verarbeitung bis in die Pore jeder narrativen Struktur, sei sie auch noch so trivial und popkulturell. Und Autor:innen wie Slavoj Žižek haben eine unerschöpfliche Freude daran, diese Muster in Film und Fernsehen laufend offenzulegen.

Aber diese radikal vom Subjekt und dem Anthropozentrismus abgewandte Weltsicht macht auch klar, dass falsches Denken nicht auflösbar ist. Ja Ideologie eine unausweichliche Konstante menschlichen Denkens und der Widerspruch der Welt sogar inhärent ist.
Folgerichtig schreiten die politischen progressiven Bewegungen den Weg von Marx zurück zu Hegel (oder gar Nietzsche) bis hin zum (Post)strukturalismus. Das Potential der Revolution muss folgerichtig zur bloßen Revolte werden. Der utopische Umsturz sich im Programm postautonomer Politikaktion zur temporären Störung des Systems bescheiden. Und somit auch das Zeitverständnis eschatologischer Linearität christlicher Kulturprägung quasi zum zyklischen oder statischen Weltverständnis paganer Vorzeit zurückkehren.

»Denn so sehr wir es versuchen rational zu erfassen, was es ist, dass uns an „denen“ so irritiert und ängstigt, so unweigerlich wird man selbst zur düstersten aller Erscheinungen.«

Doch die eigentliche Schreckensstruktur kosmischen Horrors ist nicht die potentielle Konfrontation mit dem extraterrestrischen Anderen. Sondern die Ungewissheit, ob es nicht längst unter uns weilt. Das Unbehagen in der Kultur und ob des tiefen Abgrunds im vertraut geglaubten Mitmenschen.
Denn schauen wir genau hin, so ist das Verhalten des Menschen gegenüber dem Mitmenschen nicht weniger widersprüchlich als das zu anderen Tieren. Sei es in der Kontinuität wie wir Konsumentscheidungen treffen, von deren ethischer Falschheit wir zugleich zutiefst überzeugt sind. Oder wie Menschen Kinder in die Welt setzen, ohne ihnen aber zeitgleich die ökologischen Bedingungen zu ermöglichen, ihre Zukunft gut und in vergleichbarem Wohlstand verleben zu können.
So kulminiert schließlich auch der Film Annihilation im Momentum des Verlustes der Gewissheit über die Authentizität der Protagonist:innen selbst. Und der Film Arrival löst den Menschen aus der Verankerung seines Selbstverständnisses als Wesen und Phänomen in einer linearen Zeit. Das radikal Andere, das unerschütterliche Ding an sich, bleibt nicht friedlich hinter dem Schleier des Unmöglichen. Es bricht viel mehr mit aller Gewalt in die Lebenswelt ein.

Doch das vielleicht Verstörendste ist das Moment des Versagens jenes üblichen Instrumentariums menschlicher Souveränität und des Kernstückes jeden Humanismus. Der symbolischen rationalistischen Ausdeutung und der Versuch des Erkennens dieses Anderen im Gegenüber. Denn so sehr wir versuchen rational zu erfassen was es ist, das uns an “denen” so irritiert und ängstigt, so wird man unweigerlich selbst zur düstersten aller Erscheinungen. Wie der Held der griechischen Tragödie, der sein Schicksal erst durch den Versuch ihm zu entgehen hervorbringt. Je mehr man die kleinen Differenzen im Mitmenschen rational offenlegen möchte, desto mehr steuert man darauf zu, sich weiter vom Gegenüber zu entfremden und dem nekrophilsten Akt der menschenmöglichen Destruktivität anheim zu fallen: Dem antisemitischen Ressentiment. Schaut man sich die Leute an, welche glauben die geheimen Beweggründe und Strukturen der Welt als Verschwörungen entlarvt zu haben, zeigt sich die niedrigste Stufe, auf die der Mensch von seinem politischen Bewusstsein absinken kann. Lovecraft selbst war nicht stark genug, sich dem Ruf dieser Ressentiments zu entziehen und erging sich im fremdenfeindlichen Ressentiment.

Die größte Herausforderung des Menschen ist es somit vielleicht nicht irre zu werden vor der Angst dessen, was wir tatsächlich niemals begreifen können werden. Mit Besonnenheit und vielleicht auch Demut auf die eigene Beschränkung zu blicken und darauf zu hoffen, dass sich etwaige Große aus dem All vielleicht bei ihrem Umgang mit uns doch auch von einem Empfinden des Mitgefühls leiten lassen werden.

Samuel F. Johanns