Editorial

Hallo liebe Leser:innenschaft,

 

Willkommen zurück! Willkommen zurück zur Uni, in der Mensa, der Bib (es sei denn natürlich, ihr habt euren ganzen Sommer in selbiger verbracht). Und auch ganz grundsätzlich willkommen! In der Uni, der Mensa, der Bib und in Bonn falls ihr neu hier seid. In den Händen haltet ihr die Nummer 85 Des Friedrichs Wilhelm – des Stadt- und Studierenden Magazins des AStA der Uni
Bonn. Wir erscheinen einmal im Monat und wir berichten über alles, was uns so interessiert und was also hoffentlich auch euch interessiert. Falls ihr mitmachen wollt schreibt uns eine Mail an fw@asta.uni-bonn.de (wir geben unser bestes, zeitnah zu antworten :)). Ansonsten viel Spaß beim Lesen, wir freuen uns wie immer über Feedback (an die gleiche Adresse) und wünschen euch ein erfolgreiches, tolles, fröhliches, gemütliches, erstes oder letztes oder einfach irgendeines mittendrin, jedenfalls ein gutes Semester!

Liebe Grüße,

Die Redaktion des FW

Helene Fuchshuber und Lily Husmann, Chefredakteurinnen

Inhalts-verzeichnis

Reisen/Lifestyle

Ein deep-dive in die Mittelmeer-Mentalität

Reisen/Lifestyle

A rant about the infamous Bologna

Politik/Frauenrechte

Was passiert gerade in Iran? Und warum?

Stadt

Neubau Mensa Nassestraße kann nach Spatentisch beginnen

Gesellschaft

Macht uns Mitleid zu besseren oder schlechteren Menschen?

Karikatur

Gesellschaft

Ein Streifzug durch das Mietrecht

Kolumne

Ein Text über Zufall und Sinn

IMG_5242
Foto: Selbstporträt der Autorin

Reisen/Lifestyle

Wieso es sich im Süden leichter leben lässt

von Dorit Selting

11.10.2022 - Ausgabe 85

Der Sommer ist vorbei und mehr oder weniger sonnengetankt geht es wieder in den blasseren Alltag. Es ist ein bisschen so, als wäre man gerade aufgewacht und vermischt im Dämmerschlaf noch Urlaubsnuancen mit den gewöhnten Farben der eigenen vier Wände.

Für mich hat Süden immer Urlaub bedeutet- die deutsche Bürgerpflicht, mindestens einmal die Italien-Pilgerung zu unternehmen, ist für mich so verbindlich, dass ich schon fast nicht mehr von “Ausflug“, sondern von “Expedition“ sprechen würde.

Italien ist nicht ohne Grund das Ziel dieser Art von Forschungsreisen. Wir Deutsche sind fasziniert vom stiefelförmigen Land im Süden, das hinter den Alpen wie eine Versprechung auf eine kleine Durstpause gemütlich wartet.

Alle Wege führten für mich nicht nach Rom, sondern als Abkürzung nach Florenz. La città più bella, wie sie die fiorentinǝ mit ihrem stilvollen Stolz nennen. Wo die prunkvolle Domkuppel über den schmalen ockerfarbenen Gassen thront und Marmorfassaden als Kulisse für dramatisch echt wirkende Statuen dienen, wird jeder Spaziergang zu einem Rundgang in einem museo al cielo aperto, so ästethisch ist die Renaissance-Metropole.

Eine Kunst für sich ist es also, den Touri-Modus abzuschalten. Ich war nicht hier, um mit einem gelato von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten zu straucheln, sondern um zu studieren. Ja, tatsächlich. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich im Erasmus-Semester motivierter und ernsthafter denn je die Uni besucht. Was ich dabei nicht nur in den Kursen, sondern auf dem Platz vor der Bibliothek, am Kaffeeautomaten (Espresso nur 35ct, da kann sich die Uni Bonn mal was abgucken), am Ende der Mensa-Schlange und in der Tram auf dem Nachhauseweg gelernt habe, hat meine Sicht durch die urlaubshafte Sonnenbrille unleugbar aufgehellt.

Fangen wir direkt mit dem ersten Vorurteil an- “in Italien wird nicht gearbeitet”.

Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich in der ersten Vorlesung die italienische Verfassung vorgelegt bekommen habe. Dort steht schwarz auf weiß “la democrazia, fondata sul lavoro”. Erster Artikel, zweiter Halbsatz: das Staatssystem gründet auf der Arbeit.

Ein Scherz, dachte ich, die immer noch auf ihre Steuernummer von der Einwanderungsbehörde wartete. Aber nach und nach muss ich zugeben – in Italien arbeitet man. Intensiver, identitätsschöpfender und intentionaler als anderswo. Vielleicht, weil es in Deutschland so selbstverständlich ist, dass jeder rund um die Uhr schuftet, während in Italien Kaffeepausen viel gelungener zelebriert werden.

Es ist nämlich eben das vorgesehene Nicht-Arbeiten, was das eigentliche Arbeiten so viel zielgerichteter macht. Die ganze Republik hat eine Struktur – la mattina und il pomeriggio sind feste Arbeitszeiten. Auch die Bibliothek funktioniert nach diesem System. Entweder du kommst schon um 9 oder erst um 15 Uhr, oder du kommst gar nicht. Als ich einmal versucht habe, gegen 11 hinzugehen und eben ein bisschen länger zu bleiben, wurde ich schräg angeschaut. Ma quando pranzi?, Was ist mit Mittagessen?; fragt der kritische Blick der Bibliothekarin.

 

»“Aber Achtung- genauso wie die Pasta vor jedem Kochen mit der Waage portioniert wird, muss auch der Arbeitsaufwand sorgfältig abgewogen werden.”«

Ab 12 Uhr befindet sich ganz Italien in der pausa pomeridiana, es wird ausgiebig Spaghetti (kein Vorurteil, sondern tatsächlich Wahrheit) gegabelt und Vino (ist immer Teil des Gerichts) geschlürft. Danach, meistens noch a tavola, am Tisch ein kleines Nickerchen, la pennichella. Ohne sich zu viel anzustrengen und sich für eine richtige siesta hinzulegen, wird hinter geschlossenen Augen in Ruhe reflektiert oder auch einfach ans blanke Nichts gedacht.

Der Luxus dieses kurzen Schlummers zahlt sich sofort aus: Wie ausgewechselt konzentrieren sich die Italiener:innen kurz darauf auf nichts anderes, als auf die Arbeit. Man grüßt mit “Buon lavoro”, und jede:r erinnert sich gegenseitig, das jetzt die Zeit ist, was zu schaffen.

Anders als hier, ist die Zeit zu arbeiten nämlich begrenzt. Am Wochenende kleine study sessions oder uns altbekannte allnighter sind hier Fremdwörter.

Der Arbeitstag endet mit dem Aperitivo – ein Aperol Spritz als Feierabendgetränk. Der Geruch von Büchern wird vom Duft der Pizzaöfen überdunstet und beim Abendessen die serata geplant. Auch in der Klausurenphase stolzieren meine Kommiliton:innen brav in die discoteca und feiern geschaffte Arbeit. Ob Italiener:innen gern arbeiten oder nicht, sie erledigen es jedenfalls. Auch ich, die sich sonst gerne mal an einem Dienstag freinimmt oder bis nach 20 Uhr mit dem Lernen gewartet hat, hab vor geschlossenen Bibliotheken gelernt, dass es sinnvoller ist, gleichzeitig mit Anderen zu lernen. Aus Respekt vor dem heilig nichtstuerischen Sonntag, wo es eben wirklich impossibile ist, etwas zu schaffen, muss eben per forza gearbeitet werden, wenn die Uhr le dieci dalla mattina zeigt.

Aber Achtung – genauso wie die Pasta vor jedem Kochen mit der Waage portioniert wird, muss auch der Arbeitsaufwand sorgfältig abgewogen werden.

Mai troppo, nie zu viel: die Italiener:innen können ihre Bedürfnisse optimal einschätzen. Man arbeitet und isst ausgezeichnet, aber nie übermäßig. (Vielleicht ein Grund, wieso sie so widersprüchlich schlank sind). Das Notwendige wird perfektioniert, aber jedes Bisschen über dem Limit wird als überflüssig und damit unproduktiv eingestuft. Wenn man eben weniger arbeitet, arbeitet man besser. Und man lässt es natürlich die anderen wissen. Mio lavoro ist so essenziell, dass es Gesprächsstoff in jeder chiacchierata ist und man gar nicht anders kann, als selbst voll und ganz zufrieden zu sein.

Außerdem: Stolz gehört zur Routine.

Aus einer Form von Selbstrespekt verlässt man morgens das Haus geduscht und zurechtgemacht in Klamotten, die ebenso für den Vorlesungssaal wie auch zum Ausgehen danach geeignet sind. Strukturierte Tage, in denen man ununterbrochen unterwegs ist, funktionieren wie eine Garantie für Disziplin und Motivation.

Nicht nur die Damen kontrollieren ihren Lippenstift im Vespa-Rückspiegel, auch die Männer legen viel Wert darauf, sich bewusst zu kleiden, um auf alles gefasst zu sein. Denn abermals, Geschafftes zelebrieren ist eine Pflicht und wirklich jede:r plant den Abend als feste Zeit für spontanen Spaß. Wenn ich hier für einen Cocktailabend mindestens zwei Wochen vorher schriftliche Einladungen verschicken muss, ist es in Italien selbstverständlich, täglich einen kleinen giro durch die Stadt zu drehen.

Die Stadt leert sich jedoch sobald die Sommermonate kommen. Wie Gespenster in den Gassen wird von l’estate geflüstert, ein Versprechen auf endlose Tage am Meer, das meist nur eine Autostunde entfernt und zweite Heimat ist.

Denn nicht nur wir machen Urlaub in Italien, auch die Italiener:innen machen Urlaub in ihrem Land.

Der Sommer wird zum Inbegriff der vita lenta, dem sinnstiftenden Grundkonzept der Gesellschaft.

Das langsame Leben macht die schwere Hitze so viel luftiger und das Lachen so viel leichter. Provozierte Langeweile und intentionale Gelassenheit sind die magischen Zutaten des Zaubertranks. Niemand rast von einem Halt zu nächsten, wie ein Höchstgeschwindigkeitszug in seinen Schienen. Vielmehr wird von einer schattigen Gasse zur nächsten getapst, auch wenn es vielleicht ein kleiner Umweg ist. Man nimmt sich nicht vor, eine Menge von Orten zu besuchen, sondern mit calma e consapevolezza, Ruhe und Bewusstsein, an den einzig nötigen anzukommen. Der Blick ist dabei immer hoch an die malerischen Fassaden gerichtet, denn die belezza ist nicht nur Zusatz, sondern Essenz für Zufriedenheit.

Ich glaube am Ende waren die hilfreichsten Professorinen der italienischen Philosophie die zwei nonnas, die jeden Tag unter meinem Fenster auf dem Weg zum Morgen-Cappuccino mit sündhaft süßem Croissant entlangflanieren und alle drei Meter anhalten, die verschränkten Arme lösen um ein bisschen zu gestikulieren und hochgucken. Mit einer Stimme, die von genossenem Leben geprägt ist, zwitschern sie dann “buongiorno bella, buon lavoro”.

Wenn ich mich an ihre Regeln halte, werde ich vielleicht genauso alt.

Dorit Selting

Reisen/Lifestyle

Bologna - un bordello unico

Gastartikel von Thomas Kortsalis

11.10.2022 - Ausgabe 85

It is like going to Disneyland but then finding out Micky Mouse is smelling sweaty and the palace is full of rats.

Since that hot august day I arrived there I was feeling the same thing; that something must be wrong with me.

Why was I not loving this city? Why can I not appreciate the many possibilities to go out and have fun that I was provided with?

Do not get me wrong! I like Bologna. I think it does have more beautiful and sociable coffee places, bars, clubs etc. to offer than the same size city I come from. But that is not the point. I am not blindly in love with this side of Bologna. She is fun, pretentious and got a stubborn attitude.

My critique is a fundamental one. It is about everyone’s needs and desires.

Housing, air quality, mobility, receiving help if you need, and participating in society.

So honestly the people owning this city are mosquitos and I speak of the rude landladies and landlords as well as agencies and whoever else.

They profit off from every single one who rents in Bologna.

Internationals are fucked on another level.

And then I think to myself „Well it’s an old medieval city, they do not have space blabla.“

Sis, no. Stop that narrative.

You literally got the whole ass area around you with farm and grass land.

Make it interesting to live in the periphery and build like a decent public transport and stop making us think we need to live within the city walls. I speak to all of you. Our generation is focused on the center, on the big cities. Who wants to stay in a small town or a village? Well, I guess there are people but the majority is running to get a place in Berlin, Hamburg and Köln. So do young people in Italy. The problem is we are not having enough affordable spaces within old Italian city walls. Venezia is sinking, Roma is huge but needs fundamental policy changes regarding public transport and waste disposal; and in Milano you hustle or drown.

Lucky for everyone above mentioned who benefits from us: We are young and reckless so we romanticize the pollution in our lungs when we enter the city walls. It is our caffein and daily bread. The main streets feel like moshpits full of tourists, locals and millions of dogs.

I’m not kidding when I say there are more dogs than children in this city. Take care where you step. It might be slippery and you will regret looking onto the stunning portici. I do not wanna judge people but dog owners ask for judgement in a city clearly made when pigs and donkeys as well as people were shitting on the streets and they called it vita metropolitana in 1640.

So you do not get fresh air whatsoever nor space to walk on main streets so you push yourself through German and Chinese tourists like a sausage.

Bologna, we need to talk.

Why do you need more people to see your beauty? Have you not been the one place in Italy fighting fascism and capitalism? You are selling yourself. I mean, for a really good price if you ask investors and politicians but the people there… are they really happy with what you are becoming?

Can we also talk about the fact that there are more property agencies than…  bookstores, zero-waste shops or trees.

No, trust me. Take a close look. Vai in giro and you will see I am right. Those agencies are EVERYWHERE. Like, how many properties are there in Bologna to sell or rent?

Bologna: YES

Another point is that the University of Bologna is a chicken farm equivalent to a university so internationals are kind of lost and get not even the bare minimum of help via mail or in person. I had so many questions and I had to ask the international office but soon I realized they will not help me with accomodation or provide legal help. They rented me a bike that was stolen within a month because the lock was not Bologna resistant oops. It is a project to push for more bike accidents and better air quality. Well. Change was tried.

Lost myself, my bike, my patience, money and sanity as I was trying to enjoy myself in Bologna. But, luckily I did. Kind of. I cannot separate my negative experiences from my positive ones. It is like someone put too much salt or rat poison in my soup I prepared all day long and got sick after all. I enjoyed it while eating but it hurts in the aftertaste. I hope you can visualize my points here.

Anyway, what I am trying to say is that we have a problem and it is not only a Bolognese one but it is an urban one.

Cities who attract students or youths are getting competitive and expensive. We have to fight for space and we are being exploited by owners and agencies. I cannot accept that. It was a wake-up call and I hold the responsible politicians accountable.

The socialdemocrats and leftists govern Bologna since forever. I see who betrayed us. Bologna might be still a haven for queers, immigrants and whoever is being targeted by Meloni and her fascist call boys but times change. It changed revolutionaries and it changes the famous red history of resistance in Bologna as well; thus I am disappointed but not surprised.

 

Frau in Teheran, Iran. Foto: von Milad Fakurian

Politik/Fraeunrechte

Verstehe die Frauenproteste anhand 4 Persönlichkeiten

Die Geschichten eines Monarchen, eines Obersten Führers, eines Präsidenten und einer Märtyrerin

von Gabriella Ramus

11.10.2022 - Ausgabe 85

Ein Hijab ist mehr als nur ein Kopftuch. Für einige ist er ein Symbol der Bescheidenheit und der Hingabe an die muslimische Tradition. Für andere ist er ein willkürliches und sexistisches Mittel, um Frauen auszugrenzen. In einigen Ländern sind die Frauen gesetzlich verpflichtet, das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu tragen. In anderen sind sie gesetzlich verpflichtet, sie nicht zu tragen. Noch wichtiger ist, dass die Frauen nie selbst entscheiden können, was der Hijab bedeutet oder ob sie ihn tragen sollen oder nicht.

Um zu verstehen, warum iranische Frauen ihre Kopftücher aus Protest verbrennen und wie es zu diesem Punkt gekommen ist, muss man zunächst vier wichtige Persönlichkeiten aus der jüngeren Geschichte des Iran kennen.

Mohammad Reza Shah, der Monarch

Die iranische Pahlavi-Dynastie währte 54 Jahre (1925-1979) und Mohammad Reza Shah war ihr letzter Herrscher. Das Hauptanliegen des Autokraten bestand darin, eine rasche Modernisierung, Urbanisierung und Verwestlichung zu fördern, insbesondere durch die Pflege enger Beziehungen zu den USA und Israel. Obwohl diese neue Ausrichtung für einige reiche Iraner:innen und ausländische Investor:innen ein relatives Wirtschaftswachstum mit sich brachte, bedeutete sie für die durchschnittliche Mittelschicht zunehmende soziale Ungleichheit und exorbitante Arbeitslosigkeit. Als die Opposition gegen diese Veränderungen immer stärker wurde, entließ der Shah das Parlament und verbot die Oppositionsparteien, was die Wut und Ablehnung der Bürger:innen natürlich nur noch verstärkte. 

Anfang der 1970er Jahre bedrohten die Währungsinstabilität und die Schwankungen des westlichen Ölverbrauchs ernsthaft die iranische Wirtschaft, die immer noch zu einem großen Teil auf kostspielige Projekte ausgerichtet war. Infolgedessen gingen die Menschen auf die Straße, um gegen noch schlechtere Lebensbedingungen zu protestieren. Auch hier stießen sie nicht auf Verständnis und Hoffnung auf Veränderung, sondern auf extreme Zensur (hauptsächlich durch die Geheimpolizei SAVAK), Überwachung, Schikanen, illegale Inhaftierung, Folter und Mord.

Am Ende des Jahrzehnts hatten die Menschen schließlich genug. Es war der Beginn der iranischen Revolution.

Ayatollah Ruhollah Khomeini, der oberste Führer

Ayatollah Ruhollah Khomeini ist die wichtigste Figur der iranischen Revolution von 1979. Er war ein ehemaliger Philosophieprofessor in Qom, dem wichtigsten intellektuellen und religiösen Zentrum des Irans, der seit 1964 im Exil lebte, weil er sich gegen den Shah ausgesprochen hatte. Khomeini hatte die Regierung stets für die Manipulation von Wahlen und andere Verstöße gegen die Verfassung, die Vernachlässigung der Armen, die Gewährung von Rechten für Frauen und den Verkauf von Öl an Israel kritisiert. Er argumentierte vor allem, dass die Macht des Monarchen unislamisch sei und er selbst im Gegenzug für einen sehr konservativen fundamentalistischen islamischen Staat stehe. In den 1970er Jahren wurden Tausende von Tonbändern und gedruckten Exemplaren von Khomeinis Reden in den Iran geschmuggelt, und die Studierenden wurden sehr vertraut mit seinen Ideen. 

Im Januar 1978 machte eine Tehrāner Zeitung namens Eṭṭelāʿāt herabsetzende Bemerkungen gegen den Intellektuellen. Daraufhin gingen erneut Tausende von wütenden jungen Madrasa-Studierenden (“Religionsschulen”) auf die Straße. Die Demonstrationen waren zunächst klein, wuchsen aber ins Unermessliche, nachdem die Polizei hart gegen die Demonstrant:innen vorging und einige tötete. 

Die Unzufriedenheit mit der plötzlichen Verwestlichung der Gesellschaft, der akuten wirtschaftlichen Instabilität und Ungleichheit, der Korruption und dem repressiven Staat veranlasste Mitglieder der Oppositionsparteien, der Ulama (Klerus) und der Arbeiterklasse, sich den Theologiestudent:innen gegen das Regime des Shah anzuschließen. 

Im Januar 1979 flohen der Shah und seine Familie aus dem Iran, um “Urlaub” zu machen, und eine neue Islamische Republik kam an die Macht. Die neue “Demokratie” basiert auf Khomeinis Prinzip des velayat-e faqih, d.h. ein religiöser Oberster Führer hat die absolute Macht über den Staat, seine Bürger:innen und die Verfassung, weil er ein kundiger Korrespondent Gottes ist. Mit anderen Worten: Es gibt eine Legislative, einen Premierminister/Präsidenten und ein Parlament, aber deren Entscheidungen können vom obersten Führer, der bis zu seinem Tod Khomeini war und jetzt Ali Khamenei ist, umgestoßen werden.

Es ist wichtig zu wissen, dass Frauen im neuen iranischen Staat wenig bis gar keine Macht haben. Das Gesetz zum Schutz der Familie (1967), das den Frauen weitere Garantien und Rechte in der Ehe einräumte, wurde aufgehoben. Darüber hinaus begannen in Moscheen stationierte revolutionäre Gruppen, die als komītehs (persisch: “Komitees”) bekannt sind, auf den Straßen zu patrouillieren und islamische Kleidungs- und Verhaltensregeln durchzusetzen, um die Feinde der Revolution zu besiegen. Das bedeutet, dass Frauen nun den Hijab und locker sitzende Kleidungsstücke tragen müssen.

»“So wie die Menschen in 1979 ‘Tod dem Shah!’ riefen, rufen sie jetzt ‘Tod dem Obersten Führer!’.”«

Ebrahim Raisi, der Präsident

Um den derzeitigen iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi kurz zu beschreiben, könnte man sagen, dass seine Regierung stark von radikalen religiösen Einflüssen geprägt ist, dass er ein Anhänger der Lehren Khomeinis ist und dass er ein ultrakonservativer Führer ist. 

Raisi wuchs in einer klerikalen Familie auf und erhielt eine religiöse Erziehung. Seine politische Laufbahn begann er als Staatsanwalt der Islamischen Republik, nachdem er von Khomeini selbst ernannt wurde. Der Politiker gehörte einem Ausschuss an, der feststellen sollte, ob Gefangene illoyal gegenüber dem Staat waren. Nach Angaben von Amnesty International und Human Rights Watch beging Raisi in dieser Funktion Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem er 5.000 politische Gefangene hinrichten ließ. 

Die Präsidentschaftswahlen von 2021 hatten die niedrigste Wahlbeteiligung in der iranischen Geschichte (unter 50%) – was Zweifel aufkommen ließ, ob es sich überhaupt um faire Wahlen handelte -, aber sie sicherten Raisi den Titel des Präsidenten. 

Was seine politischen Standpunkte betrifft, so unterstützt Raisi die Geschlechtertrennung nachdrücklich. In einem Interview von 2014 sagte er über eine geplante Geschlechtertrennung in Tehrān: “Das ist ein guter Schritt, weil die Mehrheit der Frauen in einer völlig entspannten Atmosphäre bessere Arbeit leistet, und das muss passen”. Darüber hinaus ist er ein Befürworter der Islamisierung der Universitäten, der Kontrolle des Internets und der Zensur der westlichen Kultur.

Mahsa Amini, die Märtyrerin

Nun wurde Mahsa Amini (22 Jahre alt) am 16. September von der iranischen Sittenpolizei getötet, weil sie ihren Hijab “falsch”, d.h. zu locker, trug. Die Behörden behaupten, sie habe einen Herzinfarkt erlitten. Die in den sozialen Medien verbreiteten Fotos der jungen Frau, die mit blutverschmiertem Gesicht in einem Krankenhausbett liegt, erzählen eine andere Geschichte.

Was als Proteste von Frauen gegen die Hijab-Pflicht begann, vereinte nach Aminis Tod alle gegen das gesamte Regime. Reiche Iraner:innen verließen ihre teuren Wohnungen und schlossen sich den Straßenverkäufern an; Kurden, Türken und andere ethnische Minderheiten schlossen sich den Angehörigen der Fars-Mehrheit an; Männer schlossen sich den Frauen an. 

Die Wut in den Städten des Irans ist groß. Die Menschen zünden ihre Hijabs an, greifen die Polizei an, zerstören Regierungsgebäude, skandieren “Tod dem Diktator!” und “Tod dem Unterdrücker, sei es der Shah oder der Oberste Führer!” und verbreiten dies im Internet, um andere zu inspirieren, dasselbe zu tun. Als Reaktion darauf sperrte das Regime das Internet und ging mit aller Härte gegen die Demonstrationen vor. Das hat sie nicht aufgehalten.

So wie die Menschen 1979 “Tod dem Shah!” riefen, rufen sie jetzt “Tod dem Obersten Führer!”. Es scheint, als ob eine neue Revolution im Gange ist. Zum ersten Mal wird sie von Frauen angeführt, die für ihre Rechte, ihre Stimme und ihre Entscheidung, den Hijab zu tragen oder nicht, kämpfen.

Gabriella Ramus

Gabriella überwand drei existenzielle Krisen, als sie dieses Semester drei Hausarbeiten schrieb, um dann eine vierte zu erleiden, als sie für diesen Artikel schrieb und recherchierte.

Neubau ahoi!

Spatenstich für den Studierendenwerks-Neubau in der Nassestraße

von Ronny Bittner

11.10.2022 - Ausgabe 85

Das Gelände der ehemaligen Mensa Nassestraße mit angebauten Wohnheimen und Verwaltungstrakt gleicht einer Mondlandschaft. Wo sich bis zum Herbst 2020 auch der AStA befand, sind in den letzten Jahren die alten Gebäude abgerissen BBBRRRMMM worden – eine Herausforderung für Projektplanung und Anwohner:innen. Am 20. September ist nun mit einem symbolischen Spatenstich der Baubeginn für die neuen Gebäude zwischen Nasse-, BOMM Kaiser- und Lennéstraße erklärt worden.

Nun soll es losgehen

Einen »Hafen« wolle man vor Ort für die Studierenden schaffen, erklärt Studierendenwerks-Geschäftsführer Jürgen Huber in seiner Rede vor den geladenen Gästen und Pressevertreter:innen. Ihm ist BBBRRRMMMM anzumerken, mit BBBRRRRMMM wie viel Aufwand Planung und Kommunikation des Bauprojekts verbunden waren und sind. Aktuell BBBRRRMMM geht das Studierendenwerk davon aus, die angestrebte Bauzeit mit Eröffnung im 1. Quartal 2025 einhalten TOCK TOCK TOCK zu können. Ob auch die Finanzierung TOCK TOCK im geplanten TOCK Bereich bleiben kann, ist aufgrund aktueller Preissteigerungen und Lieferengpässe zwar fraglich, das Studierendenwerk gibt sich zuversichtlich. Sandra Scheermesser vom NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft hat in ihrem Grußwort hierfür rund 16 Mio. Euro an Fördermitteln des Landes zugesichert, zudem stellte sie weitere 26,4 Mio. Euro aus Mitteln des Hochschulpakts zur Verfügung. Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner sieht einen modernen Neubau als weitere Stärkung für Studium, TOCK TOCK Forschung und TOCK Wissenschaft in TOCK Bonn.

Mehr als eine bloße, funktionelle Mensa zu bauen, scheint auch ein Anliegen von Gerd Jäger zu sein, wie in seinem Grußwort deutlich wurde. Er ist Generalplaner von Baumschlager Eberle Architekten, die vor der Aufgabe DENG DENG eines sich harmonisch einfügenden Ensembles zwischen denkmalgeschützten Altbauten standen. Zwei Altbauten neben dem alten Mensa-Haupteingang bleiben erhalten DENG DENG und IIIEEEEEEK sollen denkmalgerecht und barrierefrei saniert werden.

Das ist geplant

Neben vier Gebäudeteilen und drei Terrassen sind auch ein Innenhof, ein TOCK TOCK Küchenhof und ein größerer »Campusgarten« geplant, sodass nicht alle Geländeteile BAMM vollständig bebaut und Grünflächen geschaffen werden.

Aus Studierendensicht wird »Gebäude D« an der Lennéstraße wohl das wichtigste Gebäude werden, für das die »klassische« Mensa, ein »kulinarischer Marktplatz« (für Gerichte wie Pizza, Pasta, Veganes und Aktionsgerichte), eine Lounge und ein ganztägig ZAPP ZARAPP ZAPP bis 20 Uhr geöffnetes Café geplant sind. Im 2. Obergeschoss wird zudem ein Festsaal mit Bühne eingerichtet. Platz genug also für BZZZZZT Lerngruppen, Freizeittreffen und studentische Kultur. der aktuell leider eher Mangelware ist. Für den AStA ist in den bisherigen Planungen das »Gebäude C« in der Nassestraße geplant, sodass AStA- und BZZZZZT Mensa-Zugang nicht mehr direkt miteinander verknüpft sind. Außerdem sollen eine Tiefgarage, ein Wohnheim mit 106 Plätzen sowie ein Bürogebäude für die Verwaltung des Studierendenwerks entstehen.

Viele weitere TOCK TOCK DING Informationen, Pläne und Baustellenbilder findet ihr auf der Website des Studierendenwerks BBBRRRMMM Bonn, das eine Art Blog für den Neubau erstellt und direkt auf der Startseite oben verlinkt hat. Bis Studierende im neuen »Hafen« vor Anker gehen können, wird sich noch viel TOCK TOCK BBBRRRMMM in der Südstadt ereignen.

 

Ronny Bittner

Zeichnung: Maryam El Ouadhane

Gesellschaft

Du tust mir Leid

Eine Reflexion des Mitleids

von Maryam El Ouadhane

11.10.2022 - Ausgabe 85

Als ich nach dem Abitur für das Studium nach Bonn gezogen bin, war ich weit von einem Kulturschock entfernt. Als Kind des Rheinlands und aus einer Stadt, die in Größe und Einwohnerzahl mit Bonn zu vergleichen ist, kam mir alles ziemlich heimelig vor. Doch eine sprachliche Besonderheit hatte ich unbemerkt in meinem Umzugsgepäck aus Aachen mitgeschleppt: das Wort „Och härm“ schien hier niemand zu verstehen. Ich war verblüfft, denn dieser Ausdruck war seit meiner Kindheit die universelle Sprachformel gewesen, um Mitleid zu bekunden. Eine kleine Kommunikationskrise entstand, Synonyme wie „Ach du Arme!“ oder „Das tut mir echt leid für dich“ klangen für mich oberflächlich, fast schon sarkastisch. Doch was ist das für ein Gefühl, dessen Ausdruck mir so am Herzen lag?

August von Kotzebue, ein deutscher Lyriker, Schriftsteller und Librettist, soll gesagt haben: „Es gibt kein grausameres Tier als einen Menschen ohne Mitleid.“ Hier wird die moralische Aufladung des Begriffs deutlich. Mitleid mit anderen Menschen zu empfinden wird in unserer Gesellschaft als Tugend angesehen – wer keines fühlt, scheint von Kaltherzigkeit vergiftet. Die Definition des Dudens, die im Mitleid eine „starke (sich in einem Impuls zum Helfen, Trösten o. Ä. äußernde) innere Anteilnahme am Leid, an der Not o. Ä. anderer“ sieht, zeigt, dass mit der Gefühlsregung zusätzlich ein Tatendrang zu prosozialem Verhalten verbunden wird.

Psychologische Studien haben herausgefunden, dass es sich um ein „Mitleiden“ im wörtlichen Sinne handelt. In einem Experiment konnten die Forscher Morelli, Rameson und Liebermann durch ein bildgebendes Verfahren erkennen: Bei dem Ansehen von Bildern, die Schmerz anderer zeigten, wurden in den Gehirnen der Zuschauer*innen neuronale Strukturen aktiviert, die eigentlich für die Wahrnehmung eigener negativer Affekte zuständig sind. Mitleid ist also keine theoretische Repräsentation des Schmerzes anderer – man fühlt tatsächlich so, als sei es dem eigenen Körper passiert.

Morelli und Lieberman haben sich auch mit der Frage beschäftigt, inwiefern diese Empfindung Einfluss auf unser Verhalten hat. Dabei haben sie nicht nur eine erhöhte Aktivität in den Regionen des Gehirns, die mit prosozialen Gefühlen und Kümmern assoziiert werden, festgestellt. Die Probanden mussten außerdem täglich berichten, ob sie anderen geholfen haben, z.B. in dem sie jemandem den Weg erklärten oder eine Person in einer Schlange vorließen. Durch die Auswertung der Antworten wurde bestätigt, dass die neuronale Aktivierung Einfluss auf das tatsächliche Verhalten von Menschen hat – das helfende Handeln im Alltag erhöhte sich (Morelli et al. 2012). Mitleid zu empfinden fördert also prosoziales und helfendes Verhalten. Dieses Phänomen zeigt sich besonders, wenn es darum geht, für Hilfsprojekte zu spenden.

Was soll man am Mitleid, ohne das unsere Welt, Kotzebue zu Folge gar der Mensch selbst, grausam wäre, auszusetzen haben?

»"Die Forscher gaben der Beobachtung den Namen ›compassion fade‹ - ›Mitleidsschwund."«

 

Es lohnt sich, einen zweiten Blick auf die psychologische Forschung zu richten. Ein Experiment des Psychologieprofessors Paul Slovic u.a. hat deutlich gemacht, dass es sich beim Mitleid um eine begrenzte Ressource handelt. Die Spendenbereitschaft der Versuchspersonen hat nämlich mit steigender Anzahl der Hilfsbedürftigen abgenommen. Sie waren also signifikant großzügiger, wenn ihnen ein Fall von einem Kind in Not geschildert wurde, als wenn ihnen von zwei Kindern berichtet wurde, bei acht Kindern sank die Spendenbereitschaft noch weiter. Die Forscher gaben der Beobachtung den Namen “compession fade” – “Mitleidsschwund” (Slovic et al. 2014). Das Phänomen müsste den meisten von uns bekannt vorkommen – denken wir an den ausgiebigen Konsum medialer Berichterstattung. Ein extremes Ausmaß an unterschiedlichem Leid und Unrecht führt zu einem Gefühl von Überforderung, das unsere sozialen Hilfswerkzeuge scheinbar blockiert und schließlich einrosten lässt. Das, was uns an Hilfsbereitschaft noch übrig ist, wird intuitiv vergeben – meist anhand von Merkmalen wie räumlicher oder gefühlter Nähe bzw. Ähnlichkeit zu uns selbst.

Das ist allerdings nicht das einzige Problem mit dem Mitleid. Vergegenwärtigen wir uns die Definition des Dudens, die von “Anteilnahme am Leid, an der Not o. Ä. anderer” spricht, lässt sich eine Voraussetzung für Mitleid herauslesen, nämlich, dass die Situation des anderen als Leid wahrgenommen wird. Löst das bloße Ansehen eines Menschen mit Behinderung Mitleid in einem aus, lautet die Prämisse, die sich dahinter verbirgt: ein Leben mit Behinderung stellt per se einen Zustand des Leidens dar. Dadurch entsteht ein Machtgefälle, in dem die Person, die ein solches Mitleid äußert, die Deutungshoheit besitzt. Genau das ist der Grund, warum viele Menschen sich dagegen wehren, bemitleidet zu werden: Das Mitleid suggeriert, ihr Dasein sei durch Not und Leid charakterisiert. Die reduzierende Darstellung Afrikas als Kontinent der Armut und des Leidens zeigt, welche Gefahr sich in einem Mitleid bergen kann, das nicht auch mit Respekt und Anerkennung verschwistert ist.

Heißt das, wir müssen dem Mitleid abschwören? – Auf keinen Fall!

Die Fähigkeit zum Mitleid macht uns zu besseren Menschen, sie ist der Motor, der uns antreibt, unser Verhalten zu reflektieren und anderen zu helfen. Sie sollte jedoch auch selbst Gegenstand der Reflexion sein. So ist es wichtig, dass sie nie zum Selbstzweck wird und ihrer positiven Wirkung, dem Handeln und Helfen, davonrennt.

In Bezug auf die Personen, denen wir unser Mitleid schenken, sollten wir uns fragen, welche Folgen dieses “Geschenk” für sie haben wird. Werden sie sich dadurch gesehen fühlen oder wird ihnen nur vermittelt, wie schlecht sie es hätten. Der wichtigste Anhaltspunkt für die Beantwortung liegt darin, dass vermieden werden sollte, das Gefühl des Mitleids zu generalisieren und die Person als solche zu bemitleiden. Abhilfe dagegen kann etwas schaffen, das dem Mitleid sehr nah ist und oft als Synonym verwendet wird: das Mitgefühl. Denn das beinhaltet, entgegen der geläufigen Verwendung, nicht nur die Ergriffenheit am Leid anderer, sondern an verschiedenen Affekten, also auch der Freude. Die Erhöhung von täglichem Hilfsverhalten, die Morelli, Rameson und Lieberman bei dem Empfinden von Mitleid beobachtetet haben, traf genauso auf das Nachfühlen von Glück eines anderen zu. Mitgefühl lässt sich allerdings nicht mit Empathie gleichsetzen. Wer sich empathisch in andere hineinversetzt, empfindet die vermutete Gefühlsregung des Gegenübers nach. Genau dieses Nachempfinden löst dann Mitgefühl aus, dass sich als Ergriffenheit zeigt und fürsorgliche Emotionen – die Grundlage für den Impuls zu helfen – hervorbringt (Strobl 2017).

Ein reflektierter Umgang mit Mitleid und seine Erweiterung zum Mitgefühl hilft uns, nicht nur nicht grausam zu sein, sondern auch wirklich einen Beitrag zu leisten.

Maryam El Ouadhane

Karikatur

Wo bleibt das Energiegeld?

eine Karikatur von Jan Bachmann

11.10.2022 - Ausgabe 85

Jan Bachmann

Foto: Jan Bachmann

Gesellschaft

Mietrechtsfragen

von Jan Bachmann

11.10.2022 - Ausgabe 85

Dem Mietrecht liegen hierzulande zwei grundsätzliche Gedanken zugrunde. Zum einen die Bedeutung, die eine Wohnung für das Leben jedes Menschen hat. Sie ist nicht nur die Voraussetzung für das Führen eines menschenwürdigen Lebens, sie ist auch Mittelpunkt der persönlichen Lebensgestaltung. Zum anderen soll das Machtgefälle, das zwischen Vermieter:innen und Mieter:innen besteht und das zurzeit besonders krass ausfällt, ausgeglichen werden: Wer etwa verzweifelt eine neue Wohnung sucht, ist wohl nicht selten bereit, nicht nur eine hohe Miete, sondern auch eine ungünstige Vertragsklausel in Kauf zu nehmen, um endlich eine Wohnung zu bekommen. Diejenigen, die eine Wohnung haben, lassen aus Sorge, die Wohnung wieder zu verlieren, einiges über sich ergehen — oft zu Unrecht. 

Nebenkosten

Günstiger Wohnraum ist selten geworden: Neben den rapide gestiegenen und weiter steigenden Mieten spielen auch die Nebenkosten — gerade in der aktuellen Energiekrise — eine immer größere Rolle. Grundsätzlich können die Kosten für die Heizung an die Mieter:innen weitergegeben werden. Alle anderen Nebenkosten, etwa die Reinigung der Treppe oder den Strom im Hausflur, haben die Vermieter:innen zu tragen. Sie können aber auch diese Kosten an ihre Mieter:innen weitergeben, Voraussetzung hierfür ist eine entsprechende Regelung im Mietvertrag. Die Höhe eurer Heizkosten hängt in der Regel nicht nur von eurem persönlichen Verbrauch ab. Je nach Beschaffenheit des Gebäudes können bis zu 50% der Kosten aufgrund der Wohnungsgröße auf alle Bewohner:innen umgelegt werden. Die Nebenkostenabrechnung erfolgt jährlich, ihr habt das Recht alle Rechnungen und Unterlagen einzusehen. Wenn ihr ein Jahr lang nach dem Ende des Abrechnungszeitraums noch immer keine Abrechnung erhalten habt, könnt ihr die monatlichen Nebenkostenabschläge einbehalten, müsst sie allerdings, wenn dann endlich abgerechnet wurde, nachzahlen.

Was Vermieter:innen nicht dürfen

Vermieter:innen haben nicht das Recht, „für Notfälle“ einen Schlüssel zu eurer Wohnung zu behalten. Als Mieter:innen könnt ihr natürlich ein neues Schloss an eurer Wohnungstüre anbringen (lassen). Weigert sich der:die Vermieter:in, alle Schlüssel zur Wohnung herauszugeben, hat er:sie sogar die Kosten hierfür zu tragen.

Eure Wohnung betreten dürfen Vermieter:innen nur nach vorheriger Ankündigung und aus wichtigem Grund, etwa für eine Besichtigung, wenn das Haus verkauft wird oder für Reparaturen. Vermieter:innen haben nicht das Recht, eure Wohnung zu betreten, um mal nach dem Rechten zu sehen, entsprechende Klauseln in Mietverträgen sind unwirksam.

Unwirksam sind übrigens auch Klauseln, die das Rauchen in der Wohnung verbieten, wenn sie von Vermieter:innen in den Vertrag gesetzt wurden. Ihr dürft sogar, wenn ihr beim Besichtigungstermin gefragt werdet, ob ihr raucht, die Unwahrheit sagen.

Mieterhöhungen

Auch die Mieten dürfen nicht einfach willkürlich erhöht werden. Die sog. Kappungsgrenze bestimmt, wie hoch Mieten maximal erhöht werden dürfen. In Bonn sind das 20% auf drei Jahre. Wenn Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt wurden, können die entstandenen Kosten allerdings auch auf die Mieter:innen umgelegt werden: 8% der Kosten dürfen auf die Jahresmiete umgelegt werden, die Mieterhöhung darf jedoch maximal 3 Euro je Quadratmeter betragen. Von Modernisierungsmaßnahmen zu unterscheiden sind Sanierungsmaßnahmen, deren Kosten nicht an die Mieter:innen weitergegeben werden können. Sanierungen dienen dem Erhalt des Ist-Zustandes (Reparaturen, Streichen des Treppenhauses etc.), während Modernisierungen den Wert der Mietsache erhöhen (Wärmedämmung, neue Heizanlage, neue Badezimmer etc.).

Fristlose Kündigungen…

Eine Kündigung für die eigene Wohnung zu bekommen kann einen — insbesondere, wenn man nicht damit rechnet — schon ganz schön aufregen. Wichtig ist aber: Zunächst einmal Ruhe bewahren.

Selbst eine fristlose Kündigung bedeutet nicht, dass ihr unmittelbar aus eurer Wohnung fliegt. In jedem Fall sollte man sich umgehend beraten lassen. Hilfe bieten etwa die Rechtsberatung des AStA oder auch der Mieterbund. Wenn ihr einmal eure Miete nicht rechtzeitig zahlen könnt, braucht ihr übrigens keine Angst zu haben, direkt fristlos gekündigt zu werden. Kritisch wird es hingegen, wenn ihr zwei Monate in Folge keine Miete oder nur einen kleinen Teil der Miete zahlt, oder wenn ihr mehr als zwei Monatsmieten im Rückstand seid. Wenn absehbar ist, dass ihr eure Miete nicht werdet zahlen können, kann es hilfreich sein, möglichst früh das Gespräch mit euren Vermieter:innen zu suchen. Vielleicht kann man sich ja mit dem:der Vermieter:in darauf einigen, die Mietschulden mit dem Energiegeld zu begleichen, welches Studierende dereinst erhalten sollen.

… und ordentliche

Neben der fristlosen gibt es noch die ordentliche Kündigung. Ordentliche Kündigungen werden anders als fristlose nicht durch ein (vermeintliches) Fehlverhalten der Mieter:innen begründet, sondern durch ein Interesse des:der Vermieter:in. Besonders verbreitet ist hier die Eigenbedarfskündigung. Vermieter:in oder Angehörige möchten die Wohnung selbst nutzen. Oft wird auch ein Eigenbedarf vorgeschoben, um die Wohnung neu zu vermieten und einen höheren Mietzins verlangen zu können.

Daneben können Vermieter:innen aber auch kündigen, wenn sie ein anderes sog. Berechtigtes Interesse nachweisen können. Dies ist etwa bei geplanten Umbauten oder Grundsanierungen der Fall. Die Hürden für derartige Kündigungen sind jedoch recht hoch und zahlreiche Faktoren spielen eine Rolle, sodass es sich in jedem Fall empfiehlt, fachkundigen Rat einzuholen.

Die Kündigungsfrist bei ordentlichen Kündigungen hängt von eurer Mietdauer ab: Bis fünf Jahre Mietdauer beträgt die Frist drei, bis acht Jahre sechs und ab acht Jahren neun Monate.

Selbst dann, wenn eine ordentliche Kündigung an sich wirksam ist, haben Mieter:innen trotzdem das Recht, Widerspruch gegen eine Kündigung einzulegen. Beispielsweise dann, wenn sie darlegen können, dass sie noch keine neue Wohnung gefunden haben. Ein anderer anerkannter Widerspruchsgrund ist übrigens, wenn ihr wegen der Vorbereitung eures Examens aktuell keine Zeit für die Wohnungssuche und den Umzug habt.

Nicht selten bieten Vermieter:innen den Mieter:innen statt einer Kündigung einen Aufhebungsvertrag an: Die Mieter:innen erklären sich damit einverstanden, das Mietverhältnis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu beenden und erhalten dafür eine Abfindung. Gleichzeitig verzichtet man hier aber auch auf die Schutzvorschriften, die das Kündigungsrecht Mieter:innen bietet. Wurde ein Aufhebungsvertrag geschlossen, so können Vermieter:innen die Mieter:innen sehr schnell mit einer Räumungsklage auf die Straße setzen.

Einer Räumungsklage bedarf es stets — ganz gleich ob nun bei Aufhebungsverträgen oder Kündigungen — wenn Mieter:innen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt oder nach Ablauf der Kündigungsfrist ausziehen. Keinesfalls dürfen Vermieter:innen Mieter:innen selbst rauswerfen, die Schlösser tauschen oder Strom, Heizung oder Wasser abstellen, um ihre Mieter:innen aus der Wohnung zu bekommen. Hiermit machen sie sich sogar strafbar. Selbst die Androhung derartiger Maßnahmen ist schon eine Straftat.

Regelmäßig klagen Vermieter:innen ihr Leid, wie schwer es sei, Mieter:innen wirksam zu kündigen und sie aus der Wohnung zu bekommen. Dem sollte man jedoch keine allzu große Bedeutung beimessen. Geht es für Vermieter:innen bei einer Kündigung meist lediglich nur um Geld, geht es für die Mieter:innen um ihr Zuhause.

Jan Bachmann

Über die Zufälligkeit von Dingen

und was die Fibonacci-Folge damit zu tun hat

von Helene Fuchshuber

11.10.2022 - Ausgabe 85

Im Grunde: Gar nichts. 
Was ich vorweg – Achtung spoiler alert – nur sagen will: Dinge, die uns random erscheinen und es vielleicht auch sind, haben trotzdem ihre Berechtigung und am Ende einen Sinn. Oder jedenfalls manche dieser Dinge.

Seit ich in Bonn wohne und studiere werde ich ständig gefragt, warum. Insbesondere wenn Menschen hören, dass ich aus Leipzig komme und mal in Berlin gewohnt habe. Voll cool. Beide Städte sind, ganz objektiv betrachtet natürlich, deutlich cooler als Bonn. Aber aus Leipzig komm ich nun mal und in Berlin war ich so unfassbar klein und zwischendrin unglücklich und lost wie man es nur sein kann. 

Warum also Bonn. 

Im Grunde: Ist das eine Liebesgeschichte. 

Es waren einmal zwei Mädchen. Sie lernten sich mit elf Jahren an einer Schule für außergewöhnlich gut singen könnende Jungs kennen. Sie waren Jahre lang in der gleichen Klasse. Sie waren Jahre lang in unterschiedlichen Freund:innenkreisen. Sie fanden sich jahrelang aus unterschiedlichen Ecken eines sozialen Gefüges und Klassenzimmers heraus toll. Die zwei Mädchen entschieden nach einem Jahr des Suchens beide, dass es eine großartige Idee wäre, in Berlin zu studieren. Und so packte die eine einen großen blauen Rucksack und zog in den Wedding und die andere kaufte ein Ikea Bett und richtete sich in Wilmersdorf in der Nähe eines 24/6 Edekas ein. Beide gingen in Berlin verloren. Fanden sich gegenseitig und eine Wohnung, tranken einen Winter lang viel zu viel Glühwein und schafften es am Ende nicht, ihre Küche wirklich einzurichten. Studieren taten sie wenig. 

Eines Tages kam ich nach Hause und Phili saß an unserem Küchentisch. Einer Holzplatte, die ich im elterlichen Keller gefunden hatte, auf zwei Malerböcken. Sie saß da und bewarb sich auf alle möglichen Studiengänge überall in Deutschland. In diesem Moment erschien mir der Gedanke, im nächsten Winter allein an diesem Küchentisch zu sitzen und Glühwein zu trinken, so unmöglich, dass ich mich kurzerhand auch entschied, mein Studium zu schmeißen. Ehrlich gesagt kam der Gedanke nicht aus dem Nichts. Aber im damaligen Hier und Jetzt setzte ich mich Phili gegenüber, schaute ein paar Löcher in die Luft, und bewarb mich spontan neu und woanders. 

In diesem Sommer vermieteten wir unsere Wohnung in Berlin unter und fuhren über Bonn nach Italien. In Bonn kannten wir Menschen, betranken uns fürchterlich, schliefen in der 16 auf dem Weg nach Bad Godesberg ein und stellten fest, dass es sich in Bonn also leben lässt. Wir fuhren weiter, wollten nach Neapel und kamen nur bis Verona. Dann mussten wir umkehren, da man sich in Bonn damals nur in Persona immatrikulieren konnte. Und irgendwie so, landete ich in Bonn.

Diesen Sommer, drei Jahre später, waren wir endlich in Neapel.

Darum also ausgerechnet Bonn. Weil es sich in dem Moment, in dem ich mich entscheiden musste, genau richtig angefühlt hat. Oder wenigstens viel weniger falsch als alles andere. Und letztlich reicht das. 

Im Grunde: Hätte ich vermutlich auch in jeder anderen potentiellen Stadt ungefähr genauso schlecht und recht studiert wie hier in Bonn. Ich hätte Menschen kennengelernt, es wäre mir gut gegangen und es wäre mir schlecht gegangen. Ich hätte Entscheidungen infrage gestellt und mir selbst für andere auf die Schulter geklopft. Ich hätte gehadert und gelacht und geweint und wäre froh gewesen und wäre nach Hause, nach Leipzig oder in die Welt abgehauen, wenn mir an diesem potentiellen Ort die Decke auf den Kopf gefallen wäre. Ich hätte einfach mein Leben gelebt und es wäre vielleicht ganz anders, aber doch ziemlich sicher ziemlich ähnlich geworden. 

Und auch wieder nicht.

Denn im Grunde: Ist die Stadt, in der du lebst, egal. Es geht um die Menschen. Ich muss sagen, ich glaube nur ein Stück weit dran, weil ich ohne Köln die letzten Jahre nicht in Bonn geblieben wäre, aber da bin ich auch ich, mir ist es zu klein hier. Aber es stimmt schon, dass der Monster-Teil meines Lebens von den Menschen im selbigen ausgemacht wurde. Und nicht von Bonn. Und doch gehört auch das irgendwie zusammen.

»"In diesem Moment erschien mir der Gedanke, im nächsten Winter allein an diesem Küchentisch zu sitzen und Glühwein zu trinken so unmöglich, dass ich mich kurzerhand auch entschied, mein Studium zu schmeißen."«

 

Ich habe nämlich genau hier, in Bonn und nicht irgendwo anders, Karina kennengelernt. Es war Zufall, dass sie in der Ersti-Gruppe Psychologie war, in die ich klammheimlich wechselte, weil sie cooler aussah, als die, in der ich eigentlich war. Es war Zufall, dass wir uns aufgefallen sind, es war Zufall, dass wir uns mochten, es war Zufall, dass ich überhaupt da war. Und doch denke ich mir ein bisschen mit der Nase in den Sternen, es sollte so sein. Ich hab schon oft genug darüber geschrieben, wie großartig unser Zusammenwohnen ist. Und es wäre ziemlich sicher nicht dazu gekommen, wenn ich nicht einmal irgendwie zufällig, irgendwie ein bisschen verpeilt durch die Ersti-Wochen in Bonn geschlittert wäre. 

Ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht für den ein oder die andere beängstigend oder wenigstens ein ungemütlicher Gedanke ist, sich selbst so der Zufälligkeit von Dingen auszusetzen. Es ist auch ganz oke, alles genau zu planen, sich seine Freund:innen nach lustigen Kriterien auszusuchen, Studienstadt und Studiengang nach mehr als vagen Gefühlen auszuwählen. Es ist alles oke, egal wie du es machst, solange du halbwegs zufrieden damit bist. Und wenn du es nicht bist und es im Bereich deiner Möglichkeiten ist, dann ändere es. 

Aber für mich hat diese Kombination aus alles passiert zufällig und hat trotzdem eine Art von Sinn etwas sehr Befreiendes. Egal wie beschissen einige Sachen in den letzten Jahren gelaufen sind, so wöllte ich doch nicht zu dem Moment in meiner Berliner Küche zurück und mich umentscheiden. Vielleicht würde ich auf dem Weg bis nach heute ein paar Sachen anders machen. Aber ich mag die Sachen, die passiert sind. Ich mag die Menschen, die ich getroffen habe. Ich mag das große Ganze. Ich mag die Randomigkeit davon, dass sich die erste Person, in die ich mich in Bonn verliebt habe, halt zufällig in dieser dummen Ersti-Veranstaltung in die gleiche Reihe gesetzt hat, wie ich. Ich mag den langen Weg aus unterschiedlichsten WG’s, in denen ich gewohnt habe, bis ich hier angekommen bin. Ich mag, dass ich jetzt endlich weiß, wie das Poppelsdorfer Schloss ohne Gerüst aussieht. Und ich mag, dass Dinge passieren, ohne dass ich es plane, und andere obwohl und wieder andere auch nicht.

Im Grunde: Würde ich mich nicht einfrieren lassen. Nicht für Geld und gute Worte. Diese Frage wurde ich nämlich mal gefragt und konnte sie ganz klar beantworten. Ich will nicht geplant in 21 Jahren aufgeweckt werden, oder in 89, sofern das überhaupt eines Tages möglich ist. Ich will die ganze Zeit bis in 21 oder 89 (wenn auch eher unwahrscheinlich) Jahren erleben. Alle kleinen Zufälle, alle Entscheidungen, die ich treffe. Jeden Tag. 

 

Und übrigens: Bei der Fibonacci-Folge handelt es sich um eine Zahlenreihe, bei der die nächste Zahl immer die Summer der zwei vorherigen ist. Sie sieht auf den ersten Blick ganz unsinnig aus, aber am Ende baut alles aufeinander auf.

Helene Fuchshuber

Hat erst neulich einen Artikel über die Fibonacci-Folge gelesen (genauer gesagt nur angefangen). Seitdem ist sie Fan. Und musste deshalb ausnahmsweise ein bisschen Mathe hier einbauen. Naja, hat sie am Ende irgendwie doch nicht so richtig. Also jetzt: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, ………