0

Editorial

Liebe Leser:innen,

ihr, oder besser gesagt, wir haben gewählt oder besser gesagt, haben nicht gewählt: Das 45. Studierendenparlament, mit einer grandiosen Wahlbeteiligung von 9,55 %. Daneben gibt es immerhin über 90 % Nicht-Wähler:innen. Auf eine Weise kann ich das niemandem verübeln – ehrlich gesagt geht Hochschulpolitik an einem Großteil aller Studierenden einfach vorbei. Und wenn man gerade für gefühlte 15 Testate und Klausuren gleichzeitig lernt und währenddessen noch drei Hausarbeiten schreibt, quasi in die ULB oder MNL oder ins Juridicum oder irgendeine andere Bib gezogen ist, finde ich es um so naheliegender. Und trotzdem schade. Denn Politik und Demokratie sind im Kleinen wie im Großen wichtig und das SP ist immerhin die Vertretung aller Studierenden. Das Fass der Repräsentation will ich an dieser Stelle gar nicht aufmachen. Aber daran appellieren, dass sich alle, die jetzt beim Lesen denken „Hä? Das hab ich irgendwie verpasst…“ merken, dass wir einmal im Jahr, immer im Januar, wählen dürfen, können, sollen. Keine Sorge, wir erinnern euch nächstes Jahr nochmal dran.


In der Zwischenzeit gibt es ganz viele FWs zur Überbrückung, die sich möglicherweise, wie diese hier, mit anderen politischen Themen beschäftigen. Falls ihr das Gefühl habt, dass wir Themen vergessen, euch und eure Perspektiven nicht repräsentieren, schreibt uns einfach eine Mail an fw@asta.uni-bonn.de. Wir freuen uns von euch zu lesen und wünschen unsererseits viel Spaß dabei!

Helene Fuchshuber und Lily Hußmann, Chefredakteurinnen

Inhalts-verzeichnis

Politik/Gesellschaft

Ziviler Ungehorsam während der Großdemonstration in Lützerath – Worum es dabei wirklich ging

Politik/Hochschulpolitik

Wenn Denken in die Tat umgesetzt wird: Hörsaal-besetzung an der Uni Bonn

Politik

Ich spekulier mir die Welt, wie sie mir gefällt

Geschichte

Wie vor 100 Jahren Separatisten die Rheinische Republik ausriefen

Gesellschaft

Zwischen Kaffeetrinken und
schlechtem Gewissen

Polizei auf einem Hügel vor Lützerath; Quelle: Katja Spigiel

Politik/Gesellschaft

Irrtümer über Lützerath, Gewalt und Ungehorsam

von David Winterhagen

07.02.2023 - Ausgabe 89

In meinem Artikel aus der letzten Ausgabe mit dem Titel Dürfen die das? habe ich dafür argumentiert, dass ziviler Ungehorsam mit einer Demokratie nicht bloß vereinbar ist, sondern einen essentiellen Bestandteil demokratischer Kultur darstellt. Ich denke, dass viele Kritiker:innen der Protestformen der Klimaaktivist:innen ein verengtes und verfehltes Demokratieverständnis voraussetzen, um den Protest anschließend als undemokratisch zu brandmarken. Mein Kernargument lautet wie folgt: Wenn man rechtlich verengt, was demokratisch möglich ist, übersieht man, dass das Recht auf fundamentaler Ebene Ergebnis eines demokratischen Selbstgesetzgebungsprozesses ist und als solches auch an diesen Prozess gebunden bleibt. Daher muss es unter bestimmten Bedingungen möglich sein, das Recht oder eine spezifische Auslegung von Recht durch außerrechtliche politische Initiative infrage zu stellen. Ist diese Möglichkeit nicht gegeben, schließt man also den politischen Streit unter Gleichen durch Verweis auf bereits geltende Rechtssprüche, droht die Politik auf Dauer zu einer Sache von Expert:innen, Eliten und Repräsentant:innen zu werden, auf deren Urteilskraft man sich durchaus nicht in jedem Fall verlassen kann. Das Ergebnis ist eine wachsende Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten, die das demokratische Prinzip der gleichen Teilhabe am politischen Streit und der kollektiven Selbstgesetzgebung auflöst. Diskreditiert man außerrechtliche Protestformen nun durch den Verweis auf einen vermeintlichen politischen Konsens oder schwammige Mehrheitsverhältnisse, verkennt man die Natur dieses Protests selbst, die gerade darin besteht, dass sich eine aktive, öffentlich handelnde Minderheit im Namen eines existentiellen Anliegens einer passiven Mehrheit widersetzt. 

Warum lohnt es sich, diese Argumentation abermals zu wiederholen? Es lohnt sich, da das Thema seit dem letzten Monat aktueller denn je geworden ist. Am Samstag, dem 14.01.2023, kam es bei der Demonstration gegen den Abbau der unter dem nordrheinwestfälischen Dorf Lützerath lagernden Kohle durch den Energiekonzern RWE erneut zu Akten des zivilen Ungehorsams. Diesmal nicht ausgehend von einer kleinen Gruppe, die sich auf die Straße klebt, um den Autoverkehr zu blockieren, sondern von einer breiten Masse an Menschen, die sich vom offiziellen Demonstrationszug abwandte, um widerrechtlich das Gelände um Lützerath herum zu betreten. Die Folge waren heftige Auseinandersetzungen zwischen den Aktivist:innen und der Polizei, die zahlreiche Verletzte und eine schiefe Debattenlage zum Ergebnis hatten. Im medialen Diskurs kochte die Empörung über den Klimaaktivismus hoch. Vorwürfe der Gewalteskalation wurden laut. Bevor ich mich diesem Diskurs und der Frage der Gewalt darin widme, ist es sinnvoll, den Fall Lützerath kurz faktisch aufzurollen. Denn neben dem Umstand, dass die mediale Empörung eine Reihe politiktheoretischer Unklarheiten produzierte, wurde viel Verwirrung auf rein faktischer Ebene gestiftet, die sich zu entwirren lohnt.

»„Gerade diese Uneindeutigkeit legt nahe, den unter großem Zeitdruck entstandenen ‚Kompromiss‘ zwischen RWE und der Regierung zu revidieren, die Abbaggerung vorerst zu stoppen und den Verhandlungstisch neu zu eröffnen.”«

Irrtümer über Lützerath

Eine erste Verwirrung, die sich hartnäckig gehalten hat, ist die Annahme, es ginge in Lützerath um eine Ansammlung von Häusern, die es zu bewahren lohne. Zwar ist die grundsätzliche Frage nach der Legitimität von Enteignungen von Bürger:innen zum Zwecke des Profits nicht-demokratisch kontrollierter Großkonzerne von hoher Bedeutung, doch es geht in der Debatte um Lützerath nicht primär um den Erhalt dieses längst verlassenen Eigentums, sondern um die Millionen von Tonnen von Kohle und damit die Millionen von Tonnen an CO2, die unter Lützerath lagern. Das leitet direkt in die zweite Verwirrung über: Die Frage, ob die Kohle überhaupt benötigt wird. Eine von RWE selbst in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass im Falle eines Erhalts von Lützerath mindestens 17 Millionen Tonnen Kohle fehlen würden – insbesondere angesichts der durch Russlands Angriffskrieg ausgelösten Energiekrise. Wissenschaftler:innen der Europa-Universität Flensburg, der TU Berlin und des DIW kommen zu einem gänzlich anderen Ergebnis: Die Kohle unter Lützerath würde nicht benötigt. Schließlich lagerten im Tagebaukomplex Hambach und Garzweiler noch ca. 301 Millionen Tonnen Kohle. Dem stehe ein geschätzter Verbrauch von ca. 271 Millionen Tonnen gegenüber. Blieben also noch 30 Millionen Tonnen übrig. Den verschiedenen Studien liegen verschiedene Annahmen über die Entwicklungen am Energiemarkt, über den Strombedarf und den Ausbau erneuerbarer Energien zugrunde. Diese weit in die ungewisse Zukunft ragenden Annahmen sind sicherlich allesamt hinterfragbar und ein völlig gewisses Ergebnis liegt definitiv nicht vor. Doch gerade diese Uneindeutigkeit legt nahe, den unter großem Zeitdruck entstandenen ‚Kompromiss‘ zwischen RWE und der Regierung zu revidieren, die Abbaggerung vorerst zu stoppen und den Verhandlungstisch neu zu eröffnen.

Eine dritte Verwirrung betrifft eben diesen ‚Kompromiss‘, der allzu häufig als großes Klimazugeständnis seitens RWE verkauft wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Gewiss, der Kohleausstieg wird auf 2030 vorgezogen – wie es im Übrigen bereits im Koalitionsvertrag der Bundesregierung angedacht ist – und einige Dörfer bleiben erhalten sowie einige Millionen Tonnen Kohle im Boden. Doch das ist kein altruistischer Akt einer Aktiengesellschaft, sondern bloß der Tatsache geschuldet, dass Kohleverstromung nach 2030 ohnehin kein profitables Geschäft mehr sein wird. Im Gegenzug darf RWE zwei Kraftwerkblöcke 15 Monate länger als geplant betreiben (bis Ende 2024) und so schneller mehr Kohle zu guten Preisen verstromen – wodurch der Konzern horrende Mehrgewinne einfährt. Darüber hinaus trägt der ‚Kompromiss‘ nicht wirklich etwas zum Klimaschutz bei, im Gegenteil: Der Kohleabbau unter Lützerath sprengt das CO2-Budget, das Deutschland langfristig zusteht, um realistischerweise seinen Beitrag zur verfassungsrechtlich verankerten Einhaltung des 1,5 Grad Ziels zu leisten – so lautet zumindest das Ergebnis einer neuen Kurzstudie der Europa Universität Flensburg.

Wenn man sich all das vor Augen führt, wird klar: Den politischen Streit um Lützerath mit Verweis auf vermeintliche Notwendigkeiten zu unterbinden, ist Sophistik par excellence. Um diesen Streit wieder anzustoßen, ist radikaler Einspruch angebracht; radikaler Einspruch, wie er sich mit der Besetzung von Lützerath, der Großdemonstration und dem massenhaften zivilen Ungehorsam auch ereignet hat. Die offene Frage ist nur, wie radikal der radikale Einspruch wirklich sein sollte – womit das Thema der Gewalt zurück in den Fokus rückt.

»„Das übergeordnete Ziel so gut wie aller Aktivist:innen war kein Angriff auf die Polizei, sondern lediglich die widerrechtliche Inbesitznahme von Grund und Boden, der RWE gehört.”«

Irrtümer über Gewalt

In meinem letzten Artikel habe ich im Anschluss an Hannah Arendt Gewaltlosigkeit als eine der Grundbedingungen für zivilen Ungehorsam benannt. Wenn man sich die historischen Vorbilder wie auch die theoretischen Klassiker  vornimmt, scheint Gewaltlosigkeit in der Tat einer der Kernbestandteile zivilen Ungehorsams zu sein. Doch es gibt durchaus andere Positionen. Der US-amerikanische Historiker und Politologe Howard Zinn etwa versteht zivilen Ungehorsam in seinem 1968 erschienen Aufsatz Ungehorsam und Demokratie als „wohlüberlegte, gezielte Rechtsverletzung um eines zentralen gesellschaftlichen Zweckes wegen“. Die Wahl der Mittel zur Erreichung des Zwecks solle sich dabei an dem Gedanken orientieren, dass der zivile Ungehorsam zwar so gewaltlos wie möglich sein sollte – denn Gewalt sei an sich selbst problematisch und laufe Gefahr, andere gegen den eigenen Zweck aufzubringen – dass jedoch zum anderen die plumpe Unterscheidung von Gewaltlosigkeit und Gewalt angesichts der Komplexität der Situationen nicht ausreiche. Eine theoretische Beschränkung in Form einer apodiktischen Gewaltlosigkeit sei nicht angebracht, da die Mittel praktisch an den jeweiligen Anwendungskontext und den verfolgten Zweck angeglichen werden müssen. Das ist intuitiv plausibel, wenn man bedenkt, dass man auch im Alltag in manchen Situationen Gewalt als legitimes Mittel betrachtet – etwa im Fall der Selbstverteidigung oder der Verhinderung weiterer Gewalt. Zinn zufolge ist auch eine Differenzierung des Gewaltbegriffs erforderlich; Gewalt gegen Personen sei nicht mit der Gewalt gegen Sachen gleichzusetzen. Sie sei auch nicht auf nationale Grenzen beschränkt, sondern wirke überall gleich. Das bedeutet, dass die Gewalt, die momentan in anderen Teilen der Welt ausgeübt wird, rein prinzipiell nicht weniger schlimm sei, als die Gewalt, die hier vor Ort geschehe.

Bezieht man Zinns Argumente nun auf die Klimakrise, die jetzt wie zukünftig Abermillionen von Menschen überall in der Welt Gewalt antut, stellt sich berechtigterweise die Frage: Ist angesichts dieses globalen Leidens, das wesentlich durch die Industrienationen verursacht ist, das Zerschlagen von Scheiben und das Ramponieren von Autos innerhalb eben einer dieser Industrienationen per se illegitim? Nun lässt sich der globale Klimakrisenkomplex natürlich nicht auf den Einzelfall Lützerath derartig reduzieren, dass eine Gewaltanwendung von Aktivist:innen notwendigerweise in jedem Fall angebracht ist. Ein voreiliger Ausschluss jedweder Form von Gewalt scheint mit den angeführten Differenzierungen allerdings ebenso unangebracht. Deshalb ist es interessant, sich die Geschehnisse vom 14.01.2023 nochmal genauer anzuschauen und zu fragen, von wem in welcher Weise überhaupt Gewalt ausgeübt wurde – und ob das vonnöten war.

Illegitimes Gewaltmonopol

Polizeikräfte und Aktivist:innen machen sich gegenseitig Vorwürfe. Die Aktivist:innen sollen Steine und Feuerwerkskörper geworfen, Polizist:innen angegriffen und Polizeiautos beschädigt haben. Seitens der Polizei habe es schwere Tritte und Schläge sowie gezielte Abschreckungsangriffe gegeben. Aber halt: Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich bereits diese Gegenüberstellung als problematisch, denn sie setzt ein Begegnen auf Augenhöhe voraus. Das ist im Fall von 3700 hochgerüsteten Polizist:innen mit Schutzkleidung, Schlagstöcken, Hunden, Pferden, Wasserwerfern und Autos jedoch schlichtweg nicht gegeben. Die ‚Gewalt‘ der Demonstrant:innen ist mit der Gewalt der Polizist:innen nicht gleichzusetzen; das Werfen von Matsch gegen kugelsichere Helme ist nicht das gleiche wie der Schlagstock gegen den bemützten Kopf. Dazu kommt, dass die Polizei auf der Grundlage des legitimen Gewaltmonopols des Staates agiert – in diesem Fall einer Demokratie. Das heißt, dass sie zumindest dem Ideal nach im Namen der Bürger:innen bzw. der von ihnen gewählten Repräsentant:innen handelt. Wendet sich die Polizei nun legal-gewaltvoll gegen eben diese, ihren politischen Willen artikulierenden Bürger:innen, wendet sie sich immer auch gegen ihre eigenen Voraussetzungen. Ein solcher Gewalteinsatz muss daher strengstens und unter allerstärkster Rücksichtnahme abgewogen werden. Im Zentrum dieser Abwägung sollte das Ziel der Deeskalation stehen.

Die im Internet kursierenden Aufnahmen weisen jedoch auf das genaue Gegenteil hin: Mit martialischem Kampfschrei stürzt sich eine ganze Horde von Polizist:innen in das Getümmel; brutale Schlagstockschläge und Tritte werden verteilt; Aktivist:innen werden achtlos umgerannt und umgeschubst.  Immerhin, die einzelnen Fälle würden allesamt akribisch aufgearbeitet und auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft, versprach NRW-Innenminister Herbert Reul bei Anne Will noch am Abend nach den Ausschreitungen. Allein, wie ist die Überprüfung eines abstrakten chaotischen Gewaltexzesses auf konkrete Fälle hin möglich, insbesondere dann, wenn die Anzeige eines Polizeibeamten einer Selbstanzeige des Opfers gleichkommt? Und wie ist eine solche Anzeige überhaupt umzusetzen, wenn der Täter vermummt und nicht gekennzeichnet ist? Die Landesregierung hatte die Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamte 2017 noch unter demselben Innenminister abgeschafft. Doch wer wie Herbert Reul einen für tausende Menschen sichtbaren Polizeihubschrauber übersieht, übersieht womöglich auch solcherlei offene Fragen.

Bedeuten diese grundlegenden Differenzierungen zwischen der Gewalt der Polizist:innen und der Gewalt der Aktivist:innen, dass letztere unberücksichtigt bleiben kann? Nicht zwangsläufig, doch um welche Gewalt seitens der Aktivist:innen geht es genau? Hier greift Zinns Unterscheidung: Sachbeschädigung ist nicht mit der Gewalt gegen Personen gleichzusetzen. Auch dann nicht, wenn es sich um das Fetischobjekt der Bundesrepublik schlechthin handelt, das Auto. Diese so offensichtliche Wahrheit bleibt erschreckend häufig unberücksichtigt, etwa wenn bei Markus Lanz derjenige Videoschnipsel, der exemplarisch für die Gewalt der Aktivist:innen stehen soll, eine solche Sachbeschädigung zeigt. Ob dagegen das Werfen von Matsch und Böllern gegen gepanzerte Polizeibeamte gerechtfertigt ist, bleibt mit Blick auf die obigen Überlegungen zur Wahl der Mittel des Ungehorsams offen. Fakt ist, dass solche Aktionen nur vereinzelt passiert sind. Der überwiegende Teil der Aktivist:innen, die zivilen Ungehorsam ausgeübt haben, ist friedlich, wenn auch widerrechtlich über die Felder Richtung Lützerath spaziert. Die Polizei hat sich ihnen in den Weg gestellt, um eine erneute Besetzung des Dorfes zu verhindern. Daraufhin haben die Aktivist:innen lange Ketten gebildet und sind Slogans trällernd einige Schritte auf die Beamt:innen zugelaufen. Das hat die Polizei unter Gewaltanwendung gestoppt; Gewaltanwendung, die noch massiv zugenommen hat, nachdem die erste Polizeilinie erfolgreich überschritten wurde. Es mag auf Seiten der Aktivist:innen einzelne Menschen gegeben haben, die gezielt Polizei attackieren wollten. Genau wie eine Talkshow mit fünf Gästen und Moderator ist auch eine Demonstration mit 35.000 Teilnehmer:innen keineswegs vor eigensinnigen Chaoten gefeit. Doch das übergeordnete Ziel so gut wie aller Aktivist:innen war kein Angriff auf die Polizei, sondern lediglich die widerrechtliche Inbesitznahme von Grund und Boden, der RWE gehört. Seitens der Polizei und der Verantwortlichen wurde mithin der Schutz von Eigentum gegen den Schutz von Menschen abgewogen und aktiv zugunsten des ersteren entschieden – was die mangelhafte Unterscheidung zwischen der Gewalt gegen Sachen und der Gewalt gegen Menschen auf moralisch perfide Weise widerspiegelt.

Polizist:innen, Aktivist:innen und Windräder; Quelle: Katja Spigiel

Irrtümer über Ungehorsam

Damit lässt sich die entscheidende Frage formulieren: Warum werden in solchen Fällen breiter zivilpolitischer Inbesitznahme die Aktvist:innen nicht einfach durchgelassen, anstatt sie gewaltvoll abzuwehren? Muss eine demokratische Kultur, die zivilen Ungehorsam als eine ihrer historischen wie prinzipiellen Kernbestandteile anerkennt, nicht genau das leisten? Doch man hört schon im Vorhinein die Einwände: Wenn man das in Fällen des linken Protestes zulässt, was ist dann mit Fällen des rechten Protestes? So verglich kürzlich einer der Prorektoren der Universität Bonn die Methodik der Hörsaalbesetzung durch Klimaaktivist:innen mit dem Sturm aufs Kapitol durch Trumpanhänger:innen (mehr zu der Besetzung von Hörsaal 17 des Hauptgebäudes der Universität erfahrt ihr im Podcast von Nicole auf unserer Webseite). Einen solchen Vergleich anstellen, kann nur, wer normativ taub und intellektuell blind ist. Als würde das Besetzen von Hörsälen, Ackerland und Dörfern zum Zwecke des Klimaschutzes und damit der Sicherung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen nicht von dem Angriff auf ein Parlament zum Zwecke der Errichtung einer weißen Vorherrschaft und damit der Installierung von Unfreiheit und Ungleichheit verschieden sein. Als könne man die zivile Initiierung des demokratischen Streits unter Gleichen über ein faktenbasiertes Anliegen nicht von der ewigen Schließung dieses Streits auf der Grundlage von fake news und Verschwörungsmythen abgrenzen. Wer das nicht vermag, kann nur moralischer Relativist vom allerschlimmsten Schlage sein, also mit der Behauptung hausieren gehen, das Gute und Gerechte liege allein im Auge des Betrachters. Überraschung, in einem Gespräch während der Demonstration in Lützerath verteidigt ein Polizist genau diese Behauptung: Es gelte, was der Rechtsstaat sage und alle über das Recht hinausgehenden Normen – wie Freiheit, Gleichheit, Würde und Leben – seien bloß subjektiv. Damit stellt sich natürlich die Frage: Auf welchen Normen gründet sich eigentlich unser Rechtsstaat?

David Winterhagen

Foto: Caroline Jüngermann

Politik/Hochschulpolitik

Was tun?

An der Uni Bonn werden neue Protest- und Einflussmöglichkeiten erprobt

von Nicole Marczyk im Gespräch mit Jakob Höfting

07.02.2023 - Ausgabe 89

Die neue Welle des Klimaprotests erreichte Anfang des Jahres auch die Uni Bonn. Eine Woche lang besetzten Aktivist:innen der Gruppe End Fossil Occupy Hörsaal 17 und nutzten die Zeit, mit Studierenden und Dozierenden neue Formen des Protests und der Selbstorganisation zu diskutieren und gegen fossile Energien zu protestieren. Über die Ziele und Forderungen der Besetzer:innen habe ich mit Jakob von End Fossil Occupy gesprochen und einen Teils des Gesprächs hier abgetippt. Das gesamte Gespräch gibt es hier auch als Podcast zu hören.

 

Nicole: Hallo Jakob, schön, dass du hier bist! Du warst ja letztens Teil der Hörsaalbesetzung von der Gruppe End Fossil Occupy, und es ist toll, dass wir dich für ein Gespräch mit der FW gewinnen konnten, um ein bisschen darüber zu sprechen, was ihr da überhaupt gemacht habt, was eure Ziele waren und ob du das Gefühl hast, dass das ganze irgendetwas „gebracht“ hat. Deswegen vielleicht zunächst an dich die Frage: Was war die Besetzung für eine Aktion?

Jakob: Hi Nicole, vielen lieben Dank für die Einladung. Wir freuen uns riesig, die Möglichkeit zu bekommen, noch mal drüber zu reden. Für den Anfang vielleicht ein paar kurze Fakten: Die Besetzung war vom 9. bis zum 14. Januar im Hörsaal 17 des Hauptgebäudes mit so 10 bis 25 aktiven Personen, aber natürlich auch vielen Personen, die drumherum mit eingebunden wurden oder vorbeigeschaut haben oder uns unterstützt haben. Unsere Ziele kann man in vier Bereiche aufteilen. Zum einen ging es um Lützerath, weil die Räumung unmittelbar bevorstand, beziehungsweise dann auch schon lief, also entsprechend darüber zu informieren, aber auch Leute zu mobilisieren. Und dann geht es natürlich um die Klimakrise mit dem besonderen Fokus auf die fossilen Energien, in Bezug auf die Deutschland einer der größten Produzenten ist. Und da jetzt mit Lützerath auch absehbar ist, dass der Kohleausstieg nicht in der Form gelingt, in der er eigentlich vorgeschrieben ist, war der Plan, an der Universität danach zu fragen, welche Rolle sie spielt, welche Potentiale sie hat. Wir haben Lehrveranstaltungen aufgegriffen, sind dann in die Diskussion gegangen, wir haben Vorträge organisiert, Filme geschaut. Und sind dann auch direkt in ein Gespräch mit dem Rektorat getreten, was jetzt auch noch läuft, wir sind im Kontakt, das heißt, das war auch ein Ziel. Wir haben Forderungen formuliert, auf die wurde noch nicht eingegangen. Und ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt, der vielleicht schnell übersehen wird, ist die Selbstorganisation. Das heißt, Formen zu finden oder wahrzunehmen oder zu gestalten, politischen Einfluss zu generieren und selber Räume zu schaffen, die einen gewissen Autonomiegrad haben […].

N: Wahrscheinlich ist das sogar einer der wichtigsten Aspekte, oder? Nehmen wir beispielsweise das Ziel des Kohleausstiegs oder auch das Ziel, Lützerath zu retten – es wird wahrscheinlich sehr schwer für eine Gruppe innerhalb der Uni dafür zu sorgen, dass solche großen Ziele erreicht werden. Und Selbstorganisation, ist wahrscheinlich ein sehr relevanter Schritt auf dem Weg zu den großen Zielen oder wie würdest du das sehen?

J: Ja, das hat sich mir dann auch gezeigt, dass das eigentlich der Weg ist, wie man weg von der individuellen Ebene kommt und nicht mehr nur auf die bestehenden institutionellen Strukturen angewiesen ist, die im Grunde darauf ausgelegt sind, alles an politischen Willen, die eigentlich in der Bevölkerung liegen, aufzufressen oder zu teilen. Damit [mit dem alleinigen Vertrauen auf die bestehenden Strukturen] wird nämlich unsichtbar gemacht, dass es letztendlich an den Menschen selber liegt, sich die Räume so zu gestalten, wie sie sie für richtig halten.

N: Das klingt natürlich erst einmal so ein bisschen nach leichter gesagt als getan, aber eigentlich ist ja genau das der Punkt, an dem man überhaupt anfangen kann, sich aktivistisch zu betätigen – dazu später mehr. Wie sah denn eure Aktion genau aus?

J: Es war natürlich im Vorhinein schwer abzusehen, was dann im Detail passiert. Aber wir hatten alles – vor allem für die ersten beiden Tage – sehr minutiös durchgeplant: Was passieren wird, welche Lehrveranstaltungen stattfinden werden, wie wir die gut aufgreifen können, was wir mit den Studierenden vor Ort gut machen können und dann auch eben direkt den Austausch zu suchen, und nicht einfach etwas vorzugeben. Zwar in der Form, dass wir den Hörsaal besetzen, aber wir wollten das direkt als Grundlage nehmen, um sich gemeinsam mit den Leuten vor Ort zu überlegen, was wir hier eigentlich machen und dann aber natürlich über die Woche zu verschiedenen Vorträgen einzuladen. Wir haben drei Filme gezeigt, wir haben eine Lehrveranstaltung mit einer Lehrperson zusammen gestaltet. Wir haben es außerdem geschafft, dass Vertreter:innen des Rektorats da waren, die eigentlich nicht mit uns diskutieren wollten, aber wir haben trotzdem eine Diskussion geführt, die dann auch gezeigt hat, dass die Universität der Überzeugung ist, schon genug zu machen, auch genug Partizipationsmöglichkeiten zu bieten. Wo wir dann aber gegengehalten haben. Und wir hatten viele Pressegespräche, es war der WDR vor Ort, es war der Generalanzeiger vor Ort und auch verschiedene studentische Formate.

Foto: Caroline Jüngermann

N: Dann konntet ihr ja doch schon ganz schön für Trubel sorgen. Und das Gespräch mit dem Rektorat, das ihr dann erwirken konntet, wie sieht es aktuell damit aus?

J: Die sind all den konkreten Forderungen, die wir gestellt haben, ausgewichen. Sie sind auf keine einzige eingegangen, sondern haben immer nur gesagt, dass eigentlich schon genug gemacht wird und die Universität Bonn gewissermaßen die Spitze von Nachhaltigkeit sei. Wobei da, glaube ich, eine wichtige Unterscheidung gemacht werden muss zwischen dem Nachhaltigkeitsnarrativ und einem Narrativ von sozialökologischem Wandel. Denn Nachhaltigkeit zielt darauf ab, innerhalb der bestehenden Strukturen, die auf Wachstum ausgelegt sind […] irgendwie zu erwirken, dass der Klimawandel gedämpft wird, wobei das das Problem ist, dass die bestehenden Strukturen überhaupt dafür sorgen und auch weiterhin dafür sorgen werden, dass der Klimawandel weiter voranschreiten wird. Und vor allem eine Wachstumslogik im Widerspruch zu Nachhaltigkeit steht, weil dadurch alle Ressourcen aufgebraucht werden. […].

N: Das ist ja mittlerweile bei vielen Klimabewegungen Konsens, dass Klimaschutz und zumindest die Art von Kapitalismus, die heute vorherrscht, nicht zusammenzudenken sind. Hattest du denn auch den Eindruck, irgendwelche Sachen sind nicht so gut gelaufen, wie du dir das gewünscht hättest?

J: Also insgesamt war ich sehr überrascht, wie gut es gelaufen ist. Was ein sehr wichtiger Punkt war, der eingebracht wurde, ist, dass sowohl in Klimagerechtigkeitsbewegungen selber als auch überhaupt in Deutschland oder im globalen Norden nicht die Perspektive von sogenannten MAPA – most affected people and areas – berücksichtigt wird. Diese Perspektive versucht direkt sichtbar zu machen, dass seit Jahrzehnten schon Zahlen dazu vorliegen, wie direkte Auswirkungen des Klimawandels zu Millionen von Toten auf der Welt führen, aber eben nicht in den Breitengraden, in denen wir uns hier bewegen, für die wir aber mitverursachend sind. Diese kolonialen Kontinuitäten, die sich da zeigen, hängen mit riesigen Machtungleichgewichten und dem sogenannten Wohlstand zusammen, der zum Beispiel hier in Deutschland vorherrscht, der aber massiv von vergangener und laufender Unterdrückung und Ungleichverteilung von Ressourcen abhängt. Das mussten wir dann in Bezug auf unsere Gruppe feststellen, dass man sich in Deutschland, durch unsere Lebensform hier, nicht davon zurückziehen kann, direkter Verursacher von Leid auf der ganzen Welt zu sein. […].

N: Genau, man sieht die Folgen häufig nicht direkt und das ist auch oft ein Punkt, auf den sich Menschen beziehen, die sagen, dass Kapitalismus und Klimaschutz nicht zusammenzudenken sind. Kapitalismusbefürworter argumentieren ja häufig, dass der Wohlstand in der ganzen Welt gestiegen ist und viel weniger Menschen in Armut leben, seitdem es Kapitalismus gibt – aber dafür ist die Ungleichheit natürlich enorm. Aber noch eine Sache, an die ich mich erinnere: Ich war nämlich auch in einer Vorlesung, die dann auf einmal auf diesen besetzten Hörsaal gestoßen ist und ich meine, ihr hättet da auch die Forderung formuliert, dass die Uni viel transparenter werden muss in Bezug darauf, woher sie Energie bezieht und welche finanziellen Verstrickungen seitens der Uni bestehen, kannst du das vielleicht noch ein bisschen ausführen?

»“Die ganze Entscheidungsmacht liegt bei den Professor:innen, die aber eine krasse Minderheit derjenigen darstellen, die überhaupt an der Universität tätig sind.”«

J: Also wenn man sich zum Beispiel Veröffentlichungen der Universität anschaut, Jahresberichte usw., dann sind da ein paar Zahlen angegeben, aber die sind sehr reduziert, es gibt überhaupt keine Grundlage auf der man Einsicht in entsprechende Energieverbräuche, in entsprechende Gebäudestrukturen, entsprechende Finanzierungen, woher kommen die Gelder insgesamt, bekommt. […] Müsste das nicht eigentlich für alle einsehbar sein, weil es sich um eine öffentliche demokratische Institution handelt, die Transparenz als Leitmotiv haben müsste? […] Da laufen also eigentlich auch wieder Punkte zusammen: Einmal in Bezug auf Klima und die verursachenden Faktoren dafür, dann aber auch in Bezug auf den Mikrokosmos Universität, in dem wir uns bewegen, und an diesem Mikrokosmos lässt sich eben beobachten, dass Wettbewerbsstrukturen eine Rolle spielen, dass Marktlogiken eine immer größere Rolle spielen, eine gewisse Form von Wirtschaftlichkeit und dass das Studium oder die Forschung daran rückgekoppelt werden. Damit haben wir uns auseinandergesetzt als von der Uni der Vorwurf kam, wir seien undemokratisch. Wir haben uns dann nochmal mit den Demokratiestrukturen der Universität auseinandergesetzt und da ist eine Sache für mich besonders schlagend, nämlich dass Professor:innen nicht einmal 600 Personen an der Universität Bonn ausmachen im Verhältnis zu fast 2000 wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen oder 30.000 Studierenden, aber letztendlich der allergrößte Teil aller relevanten politischen Entscheidungsstellen von Professor:innen besetzt ist. Das heißt, die ganze Entscheidungsmacht liegt bei den Professor:innen, die aber eine krasse Minderheit derjenigen darstellen, die überhaupt an der Universität tätig sind und auch die Mitarbeiter:innen und Technik und Verwaltung müssen berücksichtigt werden. Das war sehr schlagend, dass die Universität glaubt, sich als demokratisch präsentieren zu können, sich dort aber die Macht in sowieso schon privilegierten Positionen konzentriert und auch dafür sorgt, dass alle anderen, die an der Universität leben und arbeiten, gar nicht dahin kommen, Einfluss zu erhalten.

N:  Zum Abschluss würde es mich noch interessieren, ob du das Gefühl hast, dass ihr etwas erreicht habt mit der Aktion. Wie ist dein abschließendes Gefühl, dein Rückblick? Bist du zufrieden damit, wie es gelaufen ist?

J: Ich bin super zufrieden. Ich würde sagen, in einem gewissen Sinne hätte es jetzt für den ersten Anstoß nicht besser laufen können. Denn das ist vielleicht noch wichtig zu sagen: Das war jetzt nicht die einzige Aktion, die wir machen, sondern das war der Start von einem langfristigen Prozess, der damit angestoßen ist! […] Wir konnten zeigen, wie universitäre Räume selber gestaltet werden und dass sie dann auch besser genutzt werden, als wenn da einfach nur die Leute durchgehen und Lehrveranstaltungen besuchen und sich nur mit ihrem Studium und Klausuren und dem Abschluss beschäftigen und das nicht irgendwie als Gestaltungsraum wahrnehmen, auf den man selber Einfluss haben kann. […].

N: Dieser Punkt, dass man nicht vergessen darf, dass das ein Raum ist, auf den man Einfluss nehmen kann: Ich weiß erst seit dieser Besetzung so richtig, was damit gemeint ist, denn ihr habt ja auch viel Werbung dafür gemacht, dass nach Lützerath gefahren werden soll, für den Tag der Großdemo. Ich bin dann auch nach Lützerath gefahren und diese Demo hat mich wirklich überwältigt, aus dem Grund, dass sich dort auf einmal die Zivilgesellschaft zusammengefunden hat und sich selbst als mächtig begriffen hat. So etwas habe ich noch nie erlebt. Weil es so viele waren, die sich auf einmal dort zusammengefunden haben, und weil man das Gefühl hatte, dass es wirklich möglich wäre, dafür zu sorgen, dass dieses Dorf nicht abgeräumt wird. Das ist zwar nicht gelungen, aber die ganze Medienaufmerksamkeit, die diese Demo im Nachhinein bekommen hat, zeigt auf jeden Fall, dass sich etwas bewegt hat und dass man ein richtiges Signal damit senden konnte. Aber über Lützerath sprechen wir gleich noch ein bisschen…

Foto: Caroline Jüngermann

Und das war auch erst der Start von unserem Gespräch! Möchtest du es zu Ende hören? In dem Rest des Podcasts sprechen Jakob und ich noch über Lützerath, über den aktuellen Zustand der Klimabewegung und darüber, warum jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um sich zu politisieren. Oder möchtest du noch mehr über die Legitimität verschiedener Protestformen erfahren? Dann lies doch mal bei Davids Artikel rein!

Nicole Marczyk

Politik

Es wird Walter Riester!

Der Innenministerposten post-Hessenwahl

Gastartikel von Marlon Zewen

07.02.2023 - Ausgabe 89

Olaf Scholz gehen die Leute aus. Schuld daran sind vor allem zwei Männer, denen Scholz das Kanzleramt überhaupt erst zu verdanken hat: CDU-Grande und Meisterstratege Volker Bouffier — und der Kanzler selbst. Der greise Hesse mit dem Charaktergrinsen war es, der als Ministerpräsident in Wiesbaden im Sommer 2021 die Entscheidung der Kanzlerkandidatur auf Armin Laschet lenkte, und damit indirekt Scholz in die Hände spielte. Die im Oktober 2023 anstehende Wahl in Hessen jedoch bereitet dem Kanzler mehr Probleme als die Nominierung von Laschet. Bouffier tritt nicht mehr an. Und weil er das schon wusste, legte er sein Amt bereits am 1. April 2022 nach fast 12 Jahren im Amt nieder — sodass sein Nachfolger, Boris Rhein, die Wahl mit Amtsinhaberbonus bestreiten kann. Bouffier bleibt Taktiker bis zum bitteren Ende. Dementsprechend schlecht sieht es für die Hessen-SPD aus, die in aktuellen Umfragen mehrere Prozentpunkte hinter der CDU liegt. Offiziell steht der:die Kandidat:in der Sozialdemokraten noch nicht fest, und mit einer guten Kandidatin oder einem guten Kandidaten lässt sich der Vorsprung noch einholen. Das ist nicht das Problem des Kanzlers. Das wird aber in dem Moment zum Problem des Kanzlers, in dem man auf dem Hessengipfel beschließt, Innenministerin Nancy Faeser zur Spitzenkandidatin zu machen, und ihm somit die dritte Ministerin in Folge abhandenkommt. Faeser ist die ideale Kandidatin und wird bereits in den Wahl-Umfragen als Herausforderin Rheins genannt; ihre Erfolge im Bund könnten Rheins Zeit in Wiesbaden ausgleichen.

Der Kanzler hat kein Ass im Ärmel

Noch Mitte Dezember waren sich viele seriöse Journalist:innen und Markus Lanz einig: Faeser würde in den Landtagswahlkampf Hessen ziehen, und das Ministerchamäleon Christine Lambrecht nach Justiz-, Familie- und Verteidigung- nun das Innenministerium übernehmen. Gewollt hatte sie den Job auf der Hardthöhe ja ohnehin nicht. Leider hat sich das Chamäleon in der Zwischenzeit als Frosch entpuppt, und die ehemalige Ministerin wird wohl nicht mal mehr ein Amt in der EU bekommen. Ein Artikel im Tagesspiegel vom 02.12.2022 nennt neben Frau Lambrecht auch Boris Pistorius als möglichen neuen Innenminister, „ihm werden aber als Mann wegen der Quotierung wenig Chancen eingeräumt.“ — Doppelt falsch, muss man nun sagen: Die hochgelobte Parität hat der Kanzler ganz nach hinten in die verstaubteste Ecke gelegt, wo er auch jegliche Erinnerungen an seine Zeit in Hamburg aufbewahrt; aber Innenminister wird Pistorius auch nicht. Ebenso war die Wehrbeauftragte Eva Högl im Gespräch, doch ein solcher Chiasmus aus dem Innenexperten im Verteidigungsministerium und im Innenministerium die Verteidigungsexpertin wäre zu absurd — Scholz hält Högl offenbar für nicht ministrabel und das wird sich seit Lambrechts Rücktritt wohl kaum geändert haben. Der Kanzler hat kein Ass im Ärmel. Für keines der beiden Ministerien wartete eine ideale Kandidatin.

Faeser auf Betäubung?

Zunächst einmal könnte man natürlich den Fachkräftemangel in der Bundesregierung abwenden, indem Nancy Faeser einfach im Amt bliebe. Rein rechtlich ginge das natürlich. Aber gleichzeitig die Waffengesetzgebung zu reformieren, gegen Rechtsterrorismus vorzugehen, Konsequenzen aus den sogenannten Silvesterrandalen zu ziehen und Wahlkampf in Hessen zu führen ist im besten Falle schwierig. Nicht nur sehen es die Hess:innen ungern, wenn man ihnen nur die halbe Aufmerksamkeit widmet und trotz einer Niederlage verspricht, in die Landespolitik zu gehen; auch die Grünen, die mit Tarek Al-Wazir einen Spitzenkandidaten haben, der in den Umfragen mit Faeser bislang gleichauf liegt, würden eine wahlkämpfende Innenministerin für einen unfairen Schachzug des Koalitionspartners halten. Man sollte Nancy Faeser nicht mit halber Energie auf zwei Aufgaben ansetzen. Und dem Kanzler selbst brächte es auch nur einige Monate, denn sollte die SPD trotzdem gewinnen, müsste Faeser das Innenministerium spätestens im Winter räumen. Und dass der Kanzler sie nach einer Wahlniederlage im Kabinett ließe, gilt ebenfalls als unwahrscheinlich. Schon Norbert Röttgen, der die Wahlen in NRW 2012 als Umweltminister bestritt, verlor am Ende nicht nur die Wahl in Düsseldorf, sondern auch den Posten in Berlin. Und das, obwohl das Umweltministerium (zumindest unter Merkel) als eher unwichtiges Ministerium galt. Scholz muss also einen geeigneten Nachfolger:in finden, und das eher früher als später. Wer also wird der neue Mensch im Innenministerium?

»“Die hochgelobte Parität hat der Kanzler ganz nach hinten in die verstaubteste Ecke gelegt, wo er auch jegliche Erinnerungen an seine Zeit in Hamburg aufbewahrt...”«

Auftritt Walter Riester!

Die älteren Leser:innen erinnern sich vielleicht an die Zeit, als der Zigarren rauchende Basta-Politiker mit den natürlich dunklen Haaren noch der Bundeskanzler war, und nicht der peinliche Onkel der Nation, der etwas zu nah an den russischen Nachbarn gerückt ist. Aus dieser SPD-Epoche stammt der Mann, der anonymen Quellen zufolge Scholzens neuer Mann im Innenministerium wird. Walter Riester, geboren 1943 im bayerischen Kaufbeuren, war von 1998 bis 2002 Schröders Arbeitsminister. Die von ihm eingeführte Riester-Rente ist heute wohl noch vielen ein Begriff. Der gelernte Fliesenleger vertrat den Landkreis Göppingen in Baden-Württemberg noch bis 2009. Riester führte sein Amt so gut aus, dass sein Ministerium nach seiner Amtszeit aufgelöst wurde, da es keine Aufgaben mehr zu erledigen gab, die ein Fortbestehen rechtfertigen würden. Stattdessen übergab Schröder seine wenigen übrig gebliebenen Aufgaben an NRW-Ex-Ministerpräsidenten und Hobby-FDPler Wolfgang Clement im Wirtschaftsministerium. Der pragmatische Verwalter Riester ist für den Posten eine logische Wahl. Nicht nur, dass er offensichtlich das Zeug zum Minister hat, er hat auch die Erfahrung. Bei informierten Greisen gilt Riester zudem als kooperativ und würde Scholz Kabinett hervorragend ergänzen. Dass der fast 80-Jährige dem Kanzler wegen eigener Ambitionen Probleme bereitet, ist ausgeschlossen.

Riesters Zeit ist genau jetzt. 20% der Deutschen sind über 67 Jahre alt. Was wie die Schreckensnachricht zum Einstieg einer Renten-Ausgabe von „hart aber fair“ klingt, ist natürlich für das von Riester reformierte Rentensystem ein gewisses Problem, für Riester selbst aber eine Chance. Denn diese 20% sind im jetzigen Kabinett gar nicht repräsentiert. Ältestes Regierungsmitglied ist Scholz selbst mit 64 Jahren. Wenn also die Geschlechter-Parität und die regionale Gleichverteilung der Minister nicht eingehalten wird, so würde Scholz mit Riester doch einen Schritt gegen Altersdiskriminierung gehen — einen Schritt, den die Demokratische Partei in Amerika mit ihrem 80-jährigen Präsidenten bereits gegangen ist. Auch gegen die Altersdiskriminierung würde Scholz also wie gewohnt von hinten führen. Stellungnahmen aus der Parteiführung fehlen bis dato, auch Riester selbst hält sich bezüglich seines Postens bedeckt: Bei seinem letzten Auftritt auf dem YouTube Kanal Rentenfernsehen (104 Abonnenten) am 7. Februar 2012 wurde der Kabinettsumbau nicht thematisiert.

Die sich selbst befeuernde Maschine der Postenspekulation

Am 11. April (zwei Wochen nach Herrn Bouffier) tritt Anne Spiegel als erste Ampelministerin zurück. Am 13.04. stellt der Spiegel für die Spiegel mehr als zehn mögliche Nachfolgerinnen vor. Die Parität wollen die Grünen auf jeden Fall einhalten. Vielleicht ist ihnen das wichtig, vielleicht haben sie sowieso mehr gute Frauen als Herrn Scholz’ Partei, vielleicht kann man ins Familienministerium auch einfach irgendwen setzen, weil es nicht so wichtig ist. Neben Katrin Göring-Eckardt wird auch Claudia Roth genannt. Nur einen Namen sucht man im Rückblick vergeblich: Lisa Paus, die dann tatsächlich Familienministerin wurde. Dasselbe gilt auch für die anderen großen Zeitungen. Nach Lambrechts Rücktritt wiederholte sich das Spektakel. Wieder warf man mit Namen um sich (Klingbeil, Högl, Möller, Schmidt), wieder wurde es mit dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius jemand, der auf keinem Schirm gehabt wurde. Besonders absurd war die Spekulation, Arbeitsminister Heil könnte das Ministerium übernehmen. Als einer der wenigen Fachpolitiker ist Heil im Arbeitsministerium gut aufgehoben, und könnte sicher nicht davon profitieren, die besonders garstige Stelle auf der Hardthöhe zu übernehmen, von der es heißt, die eigenen Generäle würden gegen den:die Minister:in arbeiten. Als er am 16.01. in der ARD von Louis Klamroth zu dieser Theorie befragt wurde, ließ er sich zwar auf die für ihn besonders typische Art und Weise zu keiner absoluten Aussage hinreißen (man denke an seinen Unwillen, den Norbert Blüm-Satz „Die Rente ist sicher“ zu wiederholen), machte aber dennoch klar, dass er bleibt, wo er ist und wo er hingehört: im Arbeitsministerium.

Auf die Fieberträume des politischen Journalismus während der Koalitionsgespräche im Winter 2021 möchte ich gar nicht eingehen. Die meisten Postenspekulationen sind also großer Blödsinn. Alle anonymen Quellen und informierten Kreise sind also nicht besonders informiert und bleiben eben aus gutem Grund anonym. Und wer diese nicht hat, beruft sich auf die Spekulationen der Anderen. Jede einmal in die Welt gesetzte Mutmaßung wird von da an in allen Medien wiederholt, wohl nicht zuletzt, weil es für eine deutsche Qualitätszeitschrift eher peinlich wäre, wenn es den anderen gelungen wäre, eine Neubesetzung korrekt vorherzusagen, nur einem selbst nicht. Es gilt die Devise: Lieber einmal öfter wiederholen, denn am Ende liegen vermutlich eh alle falsch. So schaukelt man sich im Personalienspiel gegenseitig in ungeahnte Höhen. Doch spekulieren muss man, denn das ist nun einmal bei den Leser:innen beliebt, die glauben aus Politikerkenntnis Politikverständnis ableiten zu können, und außerdem auch wissen wollen, wer am nächsten Sonntag nach dem Tatort bei Anne Will sitzt. Aber auf die Suche nach einer korrekten Prognose muss man leider mit den geflügelten Worten Robert Habecks antworten: Die kriegste nicht, Alter!

Zukunft ist Vergangenheit

Wer diesen Artikel liest, ist längst schlauer als ich. Der Hessengipfel der SPD liegt zwischen Verfassen und Erscheinen dieses Artikels. Während er für mich noch einige Tage in der Zukunft liegt, liegt er bereits in Ihrer Vergangenheit. Sie wissen also, ob (und wann) die Innenministerin Berlin verlässt. Und vielleicht wissen Sie sogar bereits, wer ihr ins Ministerium nachfolgt. Zu wünschen wäre es, denn überraschend kommt die Lücke im Kabinett ja nicht, und Scholz hatte genug Zeit einen Ersatz zu suchen. Auf jeden Fall sind Sie mir eine ganze Reihe an spekulativen Artikeln voraus, nur dass einer recht gehabt haben wird, wage ich zu bezweifeln. Einen Mehrwert zur politischen Diskussion werden die Artikel jedenfalls nicht beitragen. Der Koalitionsvertrag steht fest, der Handlungsspielraum ist gering. Ob im Innenministerium nun Nancy Faeser sitzt, oder Hubertus Heil, oder Eva Högl, oder Saskia Esken – oder am Ende doch Walter Riester.

 

Karikatur zur Vorherrschaft Preußens aus dem Kikeriki, 1870. Quelle: Wikimedia Commons

Die Rheinische Republik

Karikatur zur Vorherrschaft Preußens aus dem Kikeriki, 1870

von Jan Bachmann

07.02.2023 - Ausgabe 89

Unweit Bonns — im Siebengebirge — fand vor 100 Jahren jenes Ereignis statt, das als „Schlacht bei Aegidienberg“ in die Geschichte einging und das Ende des Versuchs der Gründung eines unabhängigen rheinischen Staates einläutete. Zuvor waren eine unabhängige rheinische Republik ausgerufen und in zahlreichen Städten und Gemeinden des Rheinlandes Rathäuser und andere Verwaltungs- oder Regierungsgebäude von den Mitgliedern der separatistischen Bewegungen besetzt worden.

Beutepreußen

Dabei galt die Integration des Rheinlandes in den preußischen und auch den deutschen Staat eigentlich als abgeschlossen: Das Rheinland war infolge des Wiener Kongresses, auf dem die Neugestaltung Europas nach den sog. Befreiungskriegen ausgehandelt wurde, dem preußischen Staat zugeschlagen worden. Die Bevölkerung wurde an dieser Entscheidung freilich nicht beteiligt, weshalb man sie, ebenso wie die Opfer der preußischen Annexionen, die noch folgen sollten, augenzwinkernd als „Muss“- oder „Beutepreußen“ bezeichnete.

Aus der zwangsweisen Zugehörigkeit zum preußischen Staat ergaben sich in der Folgezeit zahlreiche Konflikte. So hatte man etwa wenig Interesse daran, viele der Freiheiten, die man infolge der französischen Besetzung unter Napoleon erhalten hatte, wieder aufzugeben und sich dem rigiden preußischen Recht zu unterwerfen. Daher galt im Rheinland — auch nach der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1871 — weiterhin das französische Recht, der Code Civil. Als sich im Jahre 1843 der Provinziallandtag der preußischen Rheinprovinz in Düsseldorf weigerte, sich mit dem Entwurf eines preußischen Strafgesetzbuches auch nur zu befassen, wurde dies durch die Bevölkerung in einer großen Demonstration, dem Köln-Düsseldorfer Verbrüderungsfest gefeiert.

Weitere Auseinandersetzungen entzündeten sich an der Frage nach dem Verhältnis zwischen katholischer Kirche und preußischem Staat. Für Empörung sorgte etwa die preußische Regelung, dass Kinder, deren Eltern verschiedener Konfession waren, stets in der Konfession des Vaters erzogen werden sollten. Der Umgang mit den Kindern aus den sog. Mischehen (Anm.: der Begriff bekam im Rahmen der Nürnberger Gesetzte eine andere Bedeutung) war vor allem deswegen problematisch, weil es sich bei den Vätern in der Regel um protestantische, preußische Beamte handelte, bei den Müttern um katholische Rheinländerinnen.

Im Rahmen dieser Auseinandersetzung wurden schon viele der Konfliktlinien berührt, die nach der Reichsgründung im Kulturkampf — also der Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem Deutschen Reich — geführt wurden, aber inzwischen als befriedet galten.

»“Andere Staaten besitzen eine Armee. Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.”« - Graf Mirabeau

Nach dem Ende des Weltkrieges

Mit dem Ende des ersten Weltkriegs änderte sich die politische Situation in Deutschland radikal. Und so war es — angesichts der revolutionären Veränderungen sowohl in Preußen als auch auch dem Rest des Reiches — wieder die Sorge vor einer Einschränkung der Rechte der katholischen Kirche, die einige Politiker aus dem katholischen Lager, insbesondere der Zentrumspartei, mit der Idee der Schaffung eines unabhängigen, rheinischen Staates sympathisieren ließ:

So gründete der ehemalige Düsseldorfer Staatsanwalt und Rennstallbesitzer Hans Adam Dorten im Jahre 1920 die Rheinische Volksvereinigung.

Bereits am 9. November 1918, also dem ersten Tag der Revolution in Berlin, hatten einige seiner Parteifreunde die Idee auch an den damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer herangetragen. Zunächst skeptisch, konnte sich Adenauer schließlich doch für den Vorschlag begeistern und lud zum 1. Februar 1919 die Oberbürgermeister aller linksrheinischen Städte nach Köln ein, um über die Gründung einer rheinischen Republik zu beraten.

Zuspruch fand der separatistische Gedanke jedoch nicht nur im Milieu der katholischen Zentrumspartei: Ziel der Rheinisch-republikanischen Volkspartei (RRVP) etwa war die Errichtung einer autonomen rheinischen Republik als Arbeiterstaat. Gegründet wurde die Partei 1919 als Rheinlandbund von Franz Josef Smeets, nachdem dieser zuvor vergeblich versucht hatte, die Kölner USPD, deren Mitglied Smeets war, auf eine separatistische Linie zu bringen. Die RRVP vertrat einen konsequent antipreußischen Kurs. Heute teilweise verklärt, war Preußen, das ohne Zweifel eine absolute Vormachtstellung im Deutschen Reich besaß, der Inbegriff der Reaktion und eines ins Groteske übersteigerten Militarismus.  Der französische Staatsmann Graf Mirabeau soll — bereits mehr als ein Jahrhundert zuvor — Preußen charakterisiert haben mit den Worten: „Andere Staaten besitzen eine Armee. Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.“

Auf Smeets wurde noch im März 1923 ein Attentat verübt, an dessen Folgen er 1925 starb. Der Attentäter floh nach München, wo er mithilfe der Organisation Consul, die auch für die Ermordung des ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger und des Reichsaußenministers Walther Rathenau verantwortlich war, untertauchen konnte.

Auch darüber, ob eine rheinische Republik Teil des Deutschen Reiches sein sollte, gab es unterschiedliche Vorstellungen. Die Alliierten, die aufgrund der Waffenstillstandsvereinbarung bzw. des Versailler Vertrages das Rheinland militärisch besetzt hatten, standen den separatistischen Bestrebungen wohlwollend gegenüber und förderten sie. Die große Mehrheit der Bevölkerung stand den separatistischen Ideen jedoch zunächst skeptisch gegenüber.

 

Neuer Zulauf im Krisenjahr 1923

Als jedoch das Deutsche Reich mit den Reparationsleistungen, die es infolge des Versailler Vertrages für die enormen Kriegsschäden in Frankreich und Belgien in Verzug geriet, besetzten französische Truppen zu Beginn des Jahres 1923 das Ruhrgebiet. Die Reichsregierung rief die ansässige Bevölkerung zum passiven Widerstand, etwa durch Generalstreiks, auf und zahlte die Löhne der streikenden Arbeiter:innen fort. Das hierzu notwendige Geld ließ man einfach drucken, was die ohnehin schon enorme Inflationsrate in geradezu astronomische Höhen steigen ließ. Infolge des massiven wirtschaftlichen Chaos im ganzen Reich erhielt auch die separatistische Bewegung im Rheinland neuen Zulauf. Gleichzeitig gingen aber bereits etablierte Politiker, insbesondere aus den Reihen der Zentrumspartei auf Distanz, als sich abzeichnete, dass die Gründung einer Rheinischen Republik nicht auf legalem Wege — also im Rahmen der Verfassung — erreichbar war.  

Im August kamen in Koblenz Vertreter verschiedener separatistischer Vereinigungen zusammen und gründeten die Vereinigte Rheinische Bewegung.

Am 22. Oktober 1923 wurde im Kaisersaal des von den Separatisten erstürmten Aachener Rathauses die „Freie und unabhängige Republik Rheinland“ ausgerufen.

In der Folge wurden in zahlreichen rheinischen Städten Verwaltungs- und Regierungsgebäude besetzt. Auch in der Pfalz, die damals noch bayerisches Staatsgebiet war, kam es wenig später mit der Ausrufung der „Autonomen Pfalz im Verband der Rheinischen Republik“ zu einer ähnlichen Entwicklung. In Bonn gab es lediglich eine kurzzeitige Besetzung. Da das besetzte und durch den Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland nicht von deutschen Truppen betreten werden durfte, konnte die Reichsregierung in Berlin kein deutsches Militär zur Niederschlagung des Putsches entsenden, wie sie es im Rahmen einer — in der Weimarer Verfassung vorgesehenen — Reichsexekution zur sehr blutigen Niederschlagung der Münchener Räterepublik im Jahre 1919 bereits getan hatte und zum damaligen Zeitpunkt zur Absetzung der Regierungen in Sachsen und Thüringen gerade tat.

Die Besatzungsmächte standen auch dem separatistischen Putschversuch zunächst aufgeschlossen gegenüber: Der französische Hochkommissar erkannte die Separatisten am 26. Oktober als legitime Regierung des Rheinlandes an. Es bildete sich ein Kabinett unter dem Vorsitz des Journalisten Josef Friedrich Matthes. Dem Kabinett gehörte auch der Gründer der Rheinischen Volksvereinigung, Hans Adam Dorten an. Infolge zunehmender Rivalitäten zwischen Matthes und Dorten war das Kabinett oft zerstritten. Auch waren die erlassenen Verordnungen oft recht konfus.

»“Das Rheinland stand damals, geschlossen wie ein Mann, zu dem, der besser zahlte.” - Kurt Tucholsky«

Die Schlacht bei Aegidienberg

Unterdessen zogen separatistische Gruppen, die sich eines großen Zulaufs erfreuten, durch das Rheinland und beschlagnahmten bei der Bevölkerung Lebensmittel, Fahrzeuge und alles weitere, was ihnen irgendwie nützlich erschien. Vielerorts organisierte die Bevölkerung einen Selbstschutz gegen die plündernden separatistischen Gruppen. Trotz Verbotes waren beide Seiten reichlich mit Schusswaffen ausgestattet. Am Nachmittag des 15. Novembers wurden zwei Fahrzeuge mit Separatisten in Aegidienberg von den Mitgliedern eines Selbstschutzes bestehend aus Steinbrucharbeitern unter Beschuss genommen worden. Daraufhin nahmen die Separatisten fünf Geiseln aus der Zivilbevölkerung, die sie — an Pfähle gebunden — zur eigenen Deckung benutzten. Beim Schusswechsel mit den Verteidigern des Ortes wurde eine der Geiseln und 14 Separatisten getötet. Das Kabinett der Rheinischen Regierung spaltete sich aufgrund dieser Geschehnisse, nach und nach wurden alle separatistischen Amtsräger abgelöst, einige konnten sich jedoch noch bis in das Jahr 1924 hinein halten. Nach dem Putsch wurden Wohnungen und Geschäfte, die Separatist:innen gehörten, demoliert.

 

Nach dem Putschversuch

Josef Friedrich Matthes floh nach dem gescheiterten Putsch über die Schweiz nach Paris. Trotz einer Amnestie infolge internationaler Abkommen wurde ihm — unter Beugung des geltenden Rechts — eine Rückkehr in das Deutsche Reich verweigert. Er arbeitete als Journalist in Paris, 1941 wurde er von den Deutschen verhaftet, er starb im Jahre 1943 im Konzentrationslager Dachau.

In Ermangelung anderer nationaler Feiertage und als Zeichen der Verbundenheit des Rheinlands mit dem Reich wurde 1925 die „Jahrtausendfeier der Rheinlande“ gefeiert. Reichlich konstruierter Hintergrund dieser Feier der tausendjährigen Zugehörigkeit des Rheinlandes zu Deutschland war die Unterwerfung des Lothringischen Herzogs unter den ostfränkischen König Heinrich I. im Jahre 925, infolge des Vertrages von Bonn, den Heinrich I. mit Karl III. dem Einfältigen geschlossen hatte. Dass der Begriff „deutsch“ erst Jahrhunderte später gebräuchlich wurde und das Heilige Römische Reich, das sich aus dem ostfränkischen Reich entwickelte, zu keinem Zeitpunkt der Geschichte ein Nationalstaat gewesen ist, störte dabei kaum — das Jahrtausend ist ja bekanntermaßen mehr als jede andere Zeitspanne geeignet, deutschnationale Herzen in Wallung zu bringen.

Während des Nationalsozialismus wurde der Widerstand der Einwohner:innen gegen die Separatisten als ein Fanal treudeutscher Gesinnung gefeiert.

 

Das deutsche Ende

 Kurt Tucholsky erklärte im Jahre 1929 in einem Essay in Der Weltbühne den enormen Zulauf der separatistischen Bewegung im Spätsommer 1923 mit den Zeitumständen: „Das Rheinland stand damals, geschlossen wie ein Mann, zu dem, der besser zahlte. (…) Was sie wollten und wozu sie damals auch ein Recht hatten, war Befreiung aus der Hölle der Inflation und Schaffung einer eignen Währung, einer eignen autonomen Republik.“ Dem ist — im Großen und Ganzen — sicherlich nicht zu widersprechen.

Richtig ist aber ebenfalls, dass in den Ideen und Konzepten zu Schaffung einer rheinischen Republik Gedanken auftauchen, die aus historischer Sicht nicht nur berechtigt, sondern teils geradezu visionär sind. So wurde etwa erstmals anerkannt, dass Frankreich ein legitimes Sicherheitsbedürfnis hat und versucht, demselben durch die Schaffung eines Pufferstaates gegen die deutsche Aggression Rechnung zu tragen. Die Auflösung des Staates Preußen erfolgte erst nach dem nächsten Weltkrieg. In der Bundesrepublik sind die einzelnen Länder zwar — ob bezogen auf Fläche oder Einwohner:innenzahl — bei Weitem nicht gleich groß, doch hat keines der Länder eine Dominanz, die mit der Vormachtstellung vergleichbar wäre, die Preußen zu Zeiten des Reiches innehatte.

Noch einmal, nämlich im März 1933 wurde die Distanz zwischen der rheinischen Bevölkerung und dem deutschen Staat sichtbar: bei der Reichstagswahl waren es von allen 35 Wahlkreisen des Reiches einzig die beiden rheinischen Wahlkreise Aachen-Köln und Koblenz-Trier in denen die NSDAP nicht zur stärksten Partei gewählt wurde.

Als aber drei Jahre später die deutsche Wehrmacht in das aufgrund des Versailler Vertrages entmilitarisierte Rheinland einmarschierte, da stand auch die rheinische Bevölkerung am Straßenrand, jubelte und hob den rechten Arm zum deutschen Gruß. 

Jan Bachmann

Ich trinke Kaffee übrigens mit Hafermilch oder schwarz. Quelle: Foto von Chevanon Photography (Pexels)

Kolumne

Kaffeetrinken

mit meiner Doppelmoral oder auch meiner Mama

von Helene Fuchshuber

07.02.2023 - Ausgabe 89

Dieses Sommergefühl mit 15. Ich hatte gerade angefangen, Kaffee zu trinken und plötzlich war Kaffee trinken gehen das Größte. Ich weiß noch, wie ich mit Mama durch Berlin bummelte, auf der Suche nach gar nichts, immer bereit, eine Kaffeepause einzulegen. Ich jedenfalls. Ich weiß noch, wie sie irgendwann sagte „ich mag grad keinen Kaffee“, und ich weiß noch wie mir auffiel, dass ich nicht mal wusste, ob ich wirklich einen wollte. Ich wollte aber das kaffeetrinkende Bild von mir in Berlin.

Ich sitze immer noch gerne kaffeetrinkend an irgendwelchen Orten, auch wenn die große Euphorie etwas verflogen ist und Mama nicht mehr zahlt. Oder eigentlich doch, aber es ist anders, wenn man selbstständig für die Verwendung des Geldes, das man zur Verfügung hat, verantwortlich ist. Manchmal wünsche ich mir dieses 15-jährige Sommerglücksgefühl zurück.

Dieses Gefühl war fast ganz unabhängig von Sommer und dem 15 sein. Und vielleicht macht es auch erst der Rückblick zu einem besonderen Gefühl. Da(mals) war es einfach so ein Gefühl, ganz normal schön eben. Jetzt bezieht es sich auf das Nicht-Erwachsen-Sein und keine Verantwortung haben. Auf eine unbeschwerte Art unreflektiert. Wobei die Verantwortung, die ich jetzt trage, nur für mich und also ziemlich gar nicht mal so groß ist. Uuund ich in der mega privilegierten Lage stecke, nicht nur einen Studijob zu haben, sondern auch noch Unterstützung von meinen Eltern zu bekommen. Woher kommt dann eigentlich überhaupt dieser Wunsch, wieder 15 oder 12 oder 9 zu sein?

In meinen Notizen auf meinem Handy sammle ich Gedanken, die mir zwischen Tür und Angel kommen, Satzfetzen, von mir und anderen, im Vorbeigehen aufgeschnappt oder bewusst gemerkt.

Ich hatte nie ein Frozen Fahrrad und mit 8 noch nie was von Kalk gehört. Vielleicht mal was von Kalk im Wasserkocher, aber definitiv noch nie vom Kölner Stadtteil. Ist ja aber auch egal. Denn es geht darum, dass dieses Gefühl in random Momenten, an random Orten zutage gefördert wird. Nicht, wenn ich Gerüche meiner Kindheit rieche, in einer nicht-meinigen WG-Küche durch die Senfsoße auf dem Herd an meine Oma und Ferien bei ihr erinnert werde, oder wenn ich meine Grundschullehrerin besuche. Sondern während ich die Kalker Hauptstraße Richtung Kiosk entlang gehe, weil ein Kind auf einem Frozen Fahrrad und mit pink gefärbtem Pony an mir vorbei fährt.

Vielleicht geht es mir um die Begeisterung. Die Begeisterung darüber, ein Frozen Fahrrad zu haben und rosane Haare. Die Begeisterung meines 15-jährigen Ichs über Kaffee. Die Begeisterung über in Berlin Kaffee trinken. Die Begeisterung über in Berlin Kaffee trinken, den ich nicht selber bezahlte und das nächste Mal die noch viel größere Begeisterung über den Kaffee in Berlin, den ich selber bezahlte. Kleine Momente, in denen ich mich unglaublich cool fühlte oder über etwas freute, das mir heute ganz selbstverständlich ist. Fahrradfahren zum Beispiel. Mittlerweile einfach anstrengend manchmal. Und dieser kack Gegenwind, eigentlich immer.

Vielleicht geht es aber auch um was ganz anderes. Stichwort gesellschaftliche Verantwortung. Stichwort Sicht auf die Welt.

Vielleicht geht es darum, dass ich manchmal über die Herstellungsbedingungen von Kaffee nachdenke, während ich irgendwo sitze und Kaffee trinke, und dass mir dann auffällt, dass mir der Kaffee nicht mehr schmeckt. Vielleicht geht es darum, dass ich das Gefühl habe, nichts machen zu können, nichts verändern zu können. Vielleicht geht es darum, dass ich nicht mal weiß, wo ich anfangen würde, selbst wenn ich wüsste wie, oder dass ich etwas verändern könnte. Vielleicht geht es darum, dass ich mich irgendwo zwischen Pessimismus, Realismus, Zynismus, Optimismus und Idealismus bewege, je nach Tagesform. Vielleicht geht es darum, dass ich mich an manchen Tagen dafür schäme, dass ich von meinen Eltern Geld bekomme und zu viel rumsitze und Kaffee trinke und so wenig für mein Studium mache und darüber hinaus noch weniger von den Dingen, von denen ich glaube, dass sie zählen. Vielleicht geht es darum, dass sich Kinder über all das keine Gedanken machen, keine Gedanken machen müssen. Weil Kinder die Welt mit Barbiepuppen verändern können und einfach Mutter Vater Kind spielen, anstatt über tatsächliches Kinder in diese Welt setzen nachzudenken.

Vielleicht geht es aber auch gar nicht um gesellschaftliche Verantwortung an sich, sondern um mein persönliches gesellschaftliches Verantwortungsgefühl und meinen Umgang damit. Denn ziemlich sicher heißt Verantwortung für jede:n etwas anderes – im Großen wie im Kleinen. Meine Sicht auf die Welt ist zwar nicht unbedingt unfassbar individuell, sondern bubble-geprägt, aber ja trotzdem nur die Perspektive aus meiner Seifenblase.

Vielleicht geht es mir, in Momenten, in denen ich wieder 8 sein will, darum, dass sich aus meinem kleinen ein großes, geradezu nicht zu bewältigendes Verantwortungsgefühl entwickelt. Wohlgemerkt, nur ein Gefühl. Weil sich alle einzelnen Gedanken und Themen manchmal zu einem wilden Wust und Wirrwarr vermischen. Mir klar wird, dass alles zusammenhängt und das schon seit ewig. Und dass ich nur ein Tropfen auf dem heißen Stein bin, der im Sand versickert.

»“Vielleicht geht es darum, dass ich mich irgendwo zwischen Pessimismus, Realismus, Zynismus, Optimismus und Idealismus bewege, je nach Tagesform.”«

Das passiert in Momenten, in denen mir auffällt, dass ich es nicht mehr nicht-sehen kann, wenn die Hauptproduzenten und –macher eines studentischen Filmes eben Produzenten und Macher sind und nicht etwa Produzierende oder Macher:innen. Dann merke ich, wie ich mich innerhalb von Sekunden im Woki sitzend zur Pessimistin entwickle. Weil mir wieder klar wird, dass meine Ideale nicht mal von anderen 24-Jährigen geteilt werden. Und dann kommt direkt im Anschluss der eher realistische Gedanke, dass vielleicht einfach grad keine Nicht-Männer da waren, Zeit hatten, mitmachen wollten. Und dann wiederum gleich hinterher, beim Abspann schauen, der Gedanke an festgefahrene Rollenbilder. Denn Kostüm und Maske, ja, die waren von Frauen. Und dann versiegen die Gedanken erstmal wieder und ich mache nix.

Und dann kommen andere Gedanken, am 14.01. im Zug Richtung Köln. Aber eben nur nach Köln und nicht weiter oder woanders hin. An diesem Tag, an dem alle anderen unterwegs nach Lützerath waren, saß ich im Zug von Leipzig nach Köln. Einfach nur, weil ich beim Zugbuchen nicht daran gedacht hatte. Und vielleicht geht es um meinen damit einhergehenden Zwiespalt. Denn da im Zug sitzend, wusste ich, dass es meine Verantwortung wäre, in Lützerath zu sein. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich mich in kaum einer Situation so unwohl fühle, wie auf Demos. Und ich wusste auch, dass ich den Zug hätte umbuchen können, beziehungsweise verfallen lassen, eine andere Karte kaufen. Dann hätte ich aber Zeit mit meinem Bruder gegen Zeit auf einer Demo, meine ganz eigene familiäre Verantwortung gegen gesellschaftlich demokratische, abwägen müssen. Wie soll so was denn gehen?

Und meine Überforderung nimmt zu und mein Wunsch nach pinken Haaren wächst angesichts der Realität, dass eben auch nicht alle anderen nach Lützerath gefahren sind. Nicht mal alle Menschen meiner Bubble (siehe ich), geschweige denn alle Student:innen oder alle Grünen Wähler:innen oder alle Menschen, die gerne Baumhäuser bauen oder gar alle alle. Und ich höre in einem Talk danach, dass es geholfen hätte, wenn es mehr Demonstrierende gewesen wären. Und gleichzeitig aus Gesprächen mit Menschen, die da waren, dass die ganze Stimmung eh von einer Aussichtslosigkeit geprägt war. Und von wieder anderen hype hype hype.

Ich bewege mich also in einem Spannungsfeld aus dem Glauben daran, was richtig wäre, und dem Nichtstun angesichts dessen. Außerdem zwischen Hoffen und Resignation. Zwischen: jede:r Veganer:in zählt und es ist eh alles egal. Aber ich bin noch nicht bereit, zu resignieren. Ich glaube noch, dass ich mich aus meinen Zwiespalten herausbewegen kann, meine Doppelmoral zumindest manchmal austricksen lerne. Und irgendwie glaube ich auch doch ganz dolle an eine andere Form der Verantwortung:

Nämlich, dass wir alle selbst für unser Handeln verantwortlich sind. Dafür, was wir in und aus unserem Leben machen, unter Berücksichtigung ganz vieler individueller Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Dafür, wie wir Prioritäten setzen und mit Verantwortung für uns, andere Menschen und die Welt umgehen. Und dann heißt das trotzdem noch, Ende offen, wer weiß, wer sich wozu entscheidet, aber an idealistischen Tagen habe ich Zuversicht.    

Nur manchmal gibt es eben Tage, da möchte ich den Kopf in den Sand stecken, oder auf einem rosa Fahrrad durch die Welt cruisen, oder dass mich meine Mama auf einen Kaffee einlädt.

Helene Fuchshuber