Editorial

Liebe Leser:innenschaft,

mit der neuesten Ausgabe „Des Friedrichs Wilhelms“ darf ich euch nicht nur die neuen Artikel vorstellen, sondern auch drei neue Gesichter! Dorit, Simeon und Lily recherchieren, schreiben und veröffentlichen ab jetzt mit uns und haben auch gleich damit angefangen und die 71. Ausgabe des FWs jeweils um einen Artikel ergänzt. Gleich auf der nächsten Seite könnt ihr mit Simeons Artikel anfangen, der euch auf der Suche nach Verständnis für den sogenannten Corona-Ausschuss mitnimmt und ein paar Artikel danach hat Lily einen Kommentar über die Abschaffung des SoWi-Schulfaches beigesteuert. Aufmerksame Leser:innen kennen übrigens unseren dritten Neuling bereits: Dorit hat schon in der letzten Ausgabe einen Gastartikel vorstellen können und liefert in ihrer Art, die einen poetry slams vermissen lässt, gleich den nächsten Beitrag. Was euch vielleicht auch schon aufgefallen sein könnte, ist übrigens das neue Layout der FW! Unsere Layouter Sam und Ronny haben die Semesterferien gut genutzt und allem einen neuen Schliff verliehen. Ebenfalls neu ist Helenes Kolumne „Zwischenruf“. Nach ihrem Debut in der letzten Ausgabe dreht sich der aktuelle Artikel um die K-Frage in Kombination mit griechischer Mythologie. Zusätzlich rät euch Tom, öfters nach oben zu blicken und Clemens legt die Entscheidung der Bonner Polizei dar, Überwachungsstationen an unterschiedlichen Stellen der Bonner Innenstadt aufzubauen. Und schlussendlich sind mir in letzter Zeit ein Statement zu viel aufgefallen, das sich auf das deutsche Fernsehen bezog, sodass ich mir die Situation(en) mal etwas genauer angeschaut habe.

Wir hoffen, unsere Ausgabe gefällt euch und freuen uns natürlich wie immer über euer Feedback.

Viel Spaß beim Lesen!

 

Melina Duncklenberg, Chefredakteurin

Inhalts-verzeichnis

Politik

Ein Einblick in die Arbeit des “Corona-Ausschusses”

Gesellschaft

Warum sich ein Blick in den Himmel lohnen kann

Stadt

Polizei greift ein

Kultur

Was die letzten TV-Eklats über die Verantwortlichen dahinter aussagen

Gesellschaft

Vom Bedürfnis, einen Schlussstrich hinter die sich im Kreis drehende Zeit zu setzen

Studium

ein neues Schulfach wurde eingeführt

Kolumne

Sind die Würfel wirklich gefallen?

Ein Blick auf die Straße zeigt: Das Feindbild der "Impfindustrie" kommt an. Quelle: Simeon Gerlinger

Politik

Corona-Ausschuss.de

Was steckt dahinter?

Ein Bericht von Simeon Gerlinger

04.05.2021 - Ausgabe 71

Dienstagmorgen, zehn vor sieben. Es ist kalt, der Wind zieht und ich reibe mir nochmal die Augen vor der Frühschicht, während ich die Einfahrt zum Eingang des Krankenhauses hochgehe. Aus dem Augenwinkel fällt mir ein Transparent mit der Aufschrift ‚Corona-Ausschuss.de’ auf, das an der Häuserwand direkt gegenüber des Haupteingangs hängt. „Wird wohl irgendwas von Querdenken sein“, denke ich mir, kümmere mich aber erstmal nicht weiter darum.

Zwei Tage später: Eine Bekannte schickt das Bild eines ähnlichen Transparentes, das von einem Kleinflugzeug über Köln gezogen wird, in eine gemeinsame Chat-Gruppe. Diesmal frage ich mich: „Was ist so besonders an diesem ‚Ausschuss’, dass es sogar Luftwerbung dafür gibt?“

Begrüßt werde ich auf der Seite des ‚Corona-Ausschusses‘ mit einer ‚Ausschusssitzung’ aus dem April diesen Jahres. Zu Gast ist Wolfgang Wodarg, Lungenarzt. Im Video erklärt er, dass alle Grippeinfektionen und Atemwegserkrankungen nur noch auf das SarS-CoV-2-Virus zurückgeführt werden würden. Dieses Virus sei jedoch nie nachgewiesen worden und eigentlich nur ein Grippevirus, das die Menschen nicht stärker beeinträchtigt als eine normale Grippe. Die Pandemie sei nur vorhanden, weil die PCR-Tests, insbesondere der ‚Drosten-Test‘, alle Viren dem SarS-CoV-2-Virus zuordnen würden. Die hohen Infektionszahlen im Herbst wären durch Prämien für Covid-19-Diagnosen in Krankenhäusern zustande gekommen. Die Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung seien nicht evidenzbasiert, sondern von reichen Leuten in die Wege geleitet worden. An diesem Punkt – ungefähr der Hälfte des eineinhalbstündigen Videos –  entschließe ich mich erst einmal zu pausieren und mir den Rest der Seite anzuschauen.

Auf der Webseite finden sich einige Informationen zum ‚Ausschuss‘ selbst. Gegründet wurde dieser Mitte 2020 von den vier Rechtsanwält:innen Reiner Füllmich, Viviane Fischer, Justus Hoffmann und Antonia Fischer. Sie fungieren auch als Vorsitzende der ‚Ausschusssitzungen‘. Im Selbstverständnis des ‚Ausschusses‘ ist festgehalten, dass alle Beteiligten sich ohne Interessenkonflikte jeglicher Art und auf Basis wissenschaftlicher Evidenz der Untersuchung des Virus und der Infektionsschutzmaßnahmen annehmen. Ob das tatsächlich so passiert – nach dem ‚Begrüßungsvideo’ habe ich zumindest ernsthafte Zweifel daran.

Ein FAQ folgt dem Tenor des ‚Begrüßungsvideos‘. Die Gefahren der SARS-CoV2-Pandemie werden relativiert, die Maßnahmen zum Infektionsschutz als überflüssig und rechtswidrig dargestellt. Und wenn man nicht aufpasst, würde nach einem Test heimlich die eigene DNA untersucht.

In einem weiteren Bereich finden sich zahlreiche Dokumente, die sich an den in den Sitzungen besprochenen Themen orientieren. Was mich überrascht: Neben kruden ‚Studien‘ und Artikeln finden sich auch die Heinsberg-Studie des Bonner Virologen Streeck oder Beiträge des SWR über die miserable Situation in Pflegeheimen. Der Übergang von teils berechtigt umstrittener Wissenschaft zu Verschwörungsmythen erscheint mir an dieser Stelle fließend. Des Weiteren werden auch Schriftsätze für Lehrer:innen und Eltern zum Download angeboten, die im Jurist:innen-Deutsch Schulleitungen das Testen oder das Durchsetzen der Maskenpflicht bei Kindern unter Androhung weiterer rechtlicher Schritte verbieten.

Nach einer kurzen Pause wende ich mich erneut den namensgebenden ‚Ausschusssitzungen‘ zu. Die zum Teil mehr als fünfstündigen Sitzungen werden live gestreamt und später online zur Verfügung gestellt. Viele der Videos haben mehr als 200.000 Aufrufe.

Der ‚Ausschuss‘ tagt mit eingeladenen ‚Expert:innen‘ aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Neben dem schon erwähnten Arzt Wolfgang Wodarg ist der Jurist Martin Schwab regelmäßig zu Gast. Was mich überrascht: Schwab hat einen Lehrstuhl an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Uni Bielefeld und beschäftigt dort unter anderem ‚Ausschuss‘-Mitgründer Hoffmann. In seinen Inputs gibt er einen Überblick zu aktuellen Urteilen bezüglich der Infektionsschutzmaßnahmen. Für Pandemie-Leugner:innen nachteilige Urteile werden von Schwab als durch „wirkmächtige Akteure“ beeinflusst gesehen. In einer anderen Sitzung ist unter anderem die Pflegeheimbesitzerin Isabell Flaig zu Gast. Sie vergleicht unverhohlen die Impfkampagne für Risikogruppen mit der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘, behauptet Angela Merkel würde wie Adolf Hitler regieren. Widerspruch zu diesen Äußerungen gibt es von keinem der Anwesenden.

Ich muss das Video pausieren, mir ist ein wenig schlecht geworden bei diesem Einblick in die ‚Ausschuss-Sitzungen‘.

Ich stelle mir die Frage, welche Rolle der ‚Corona-Ausschuss‘ bei den regelmäßig stattfindenden Demonstrationen von Querdenken und Co spielt. Darum ein kleiner Szenenwechsel zum Wochenende: Von meinem Schreibtisch aus geht es in die Düsseldorfer Innenstadt. Hier wollen Pandemie-Gegner:innen unter dem Motto ‚Es reicht!‘ auf die Straße gehen. Angemeldet sind mehrere Kundgebungen und eine Demonstration durch die Innenstadt. Die erste Kundgebung wird keine 20 Minuten nach Beginn aufgelöst, da mehr Teilnehmer:innen gekommen sind, als die Auflagen erlauben. In den folgenden Stunden ziehen Hunderte ohne Masken und Abstand durch Düsseldorf. Die Polizeiketten, die versuchen, die spontanen Demonstrationen zu stoppen, werden immer wieder umlaufen oder durchbrochen, beschränken sich schlussendlich auf eine passive Begleitung. Ein Demonstrant klebt im Vorbeigehen einen ‚Corona-Ausschuss.de‘-Aufkleber an ein Polizeiauto, muss sich dafür jedoch kurz darauf den Insass:innen des Wagens gegenüber verantworten. Es ist nicht die einzige Bezugnahme auf den ‚Ausschuss‘ an diesem Tag, zahlreiche Schilder und Transparente werben für und verweisen auf die Webseite.

Auch die Organisator:innen des ‚Ausschusses’ scheuen die Großdemonstrationen nicht. Die Vorsitzenden des ‚Ausschusses‘ treten regelmäßig auf Events der Querdenken-Bewegung auf. So etwa am 20. März dieses Jahres in Kassel, wo Viviane Fischer und Rainer Füllmich auf großer Bühne vor Tausenden, ohne Masken und Abstände, redeten. Ich finde einen Mitschnitt der Rede Füllmichs.

Angefangen beim ‚Drosten-Test‘, über todbringende ‚Genexperimente‘ mit Impfstoffen bis hin zu totalitären Dystopien ist alles enthalten. Auch die Frage aller verschwörungsmythischen Fragen ‚Cui bono?‘ lässt er dabei nicht aus. Seine Antwort: Die Impf- und Tech-Industrie, sowie die Gates Foundation und andere finanzstarke Organisationen würden die Pandemie nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Der ‚Corona-Ausschuss‘ sei gegründet worden, um zusammen mit internationalen ‚Expert:innen‘ diese ‚Kräfte‘ aufzuhalten und Licht ins Dunkel zu bringen.

Die Reaktion des Publikums: „Ihr seid Helden!“ in Richtung der Bühne.

Was bleibt nach dieser Recherche bei mir hängen? Der ‚Corona-Ausschuss‘ klingt, allein vom Namen her, wie eine offizielle Institution. Ich glaube gerade deshalb ist er bei verschwörungsideologischen Pandemie-Leugner:innen so beliebt. Er bestärkt die eigene Sichtweise auf die Pandemie mit der Anhörung von ‚Expert:innen‘, denen durch ihre fachliche ‚Expertise‘ absolutes Vertrauen geschenkt wird. Der ‚Ausschuss‘ scheint mir mehr als eine weitere verquere Telegram-Gruppe zu sein. Die ‚Vorsitzenden‘ und ‚Expert:innen‘ werden auf den Demos gefeiert, die Feindbilder mit offenen Armen angenommen.

Montagmorgen. Wieder Frühschicht. Ich bin spät dran, die Bahn hatte Verspätung. Ich nippe an meinem Kaffee und gehe die Einfahrt hoch zum Eingang des Krankenhauses. Ich blicke kurz nach links, das Transparent hängt immer noch.

Über den Autor

Simeon Gerlinger empfiehlt: 

Ihr habt Freund:innen, Arbeitskolleg:innen oder Familienmitglieder, die sich von Verschwörungsmythen leiten lassen? Argumentationshilfen und Informationen rund um dieses Thema gibt es von der Amadeu Antonio Stiftung.

Das endlose Blau entspannt und hilft abzuschalten.

Gesellschaft

Der Blick nach oben

Warum es sich lohnt, öfter in den Himmel zu schauen

Ein Kommentar von Tom Schmidtgen

04.05.2021 - Ausgabe 71

Wann hast du das letzte Mal einfach so in den Himmel geschaut? Ich habe mich vor einigen Tagen dabei ertappt. Das Problem war, ich saß gerade auf dem Fahrrad, schaute also in den Himmel und steuerte auf meine Wohnung zu. In dem Moment dachte ich: Mensch, wie schön ist bitte der Himmel und wie wenig schauen wir uns ihn an? Zum Glück war ich auf einer der wenigen Fahrradstraßen unterwegs und kann ganz gut Fahrradfahren. Sonst wäre der Text hier zu Ende oder es hätte ihn nie gegeben.

 

Der Himmel ist doch faszinierend: dieses leuchtende, unendliche Blau in allen Nuancen. Mich beruhigt der Blick in den Himmel. Das lässt mich für einen kurzen Moment im Moment sein, losgelöst von Zeit und Raum. Tagsüber lassen sich am Himmel Flugzeuge beobachten, die einen weißen Kondensstreifen hinter sich herziehen. Wenn man lang genug hinschaut, sieht man, wie der Streifen sich auflöst. Wenn die Flugzeuge niedrig fliegen, kann man sich den Spaß machen, versuchen herauszufinden, welche Fluglinie da gerade fliegt. Ich habe einmal in der Einflugschneise des Flughafens gewohnt. Dann konnte ich in den Himmel schauen und herunterzählen, wann die Lufthansa-Maschine aus München kommt. Immer verbunden mit der Hoffnung, gerade selbst im Flugzeug zu sitzen, durch den Himmel zu fliegen und einfach weg in den Urlaub!

Sich den Himmel in der Nacht anzuschauen, ist natürlich besonders schön! Leider sieht man in der Stadt viel zu wenig. Lichtverschmutzung nennt sich das. Bis zu 4.000 mal heller leuchtet die künstliche Beleuchtung durch unsere Straßenbeleuchtung als das natürliche Nachtlicht. (Quelle) Lichtverschmutzung bringt deshalb auch unsere Sinne durcheinander und kann der Gesundheit schaden. Aber wenn man einen Ort findet, an dem sich der klare Sternenhimmel sehen lässt, dann kann man gar nicht anders, als stundenlang auf einer Wiese zu liegen und nach oben zu starren. Ich lag vergangenen Sommer so in der Hasenheide in Berlin, in der Nacht, in der die meisten Sternschnuppen auf die Erde regneten. Sicher eine der schönsten Nächte des vergangenen Jahres. Auf der ganzen Wiese verteilt lagen Leute. Immer wenn ein Schweif am Horizont aufleuchtete, flogen mehrere „Ahhh“- und „Schau, dort“- Rufe über die Wiese. Für solche Ereignisse verabreden sich Menschen, quasi zum Public Viewing. Dabei lohnt es sich viel öfter in den Himmel zu schauen. Es entspannt, lässt die Gedanken fliehen und erdet.

Was uns aktuell fehlt ist doch, dass wir uns geborgen fühlen, nicht allein, irgendwo hinschauen, wohin wir entfliehen und uns verlieren können. Es ist so einfach und strengt viel weniger an, als eine Serie auf dem Computerbildschirm zu schauen. Die Sehnsucht liegt direkt über uns. Es kann schon helfen, an einem wolkenlosen Tag zehn Minuten in den Himmel zu schauen und sich abzulenken, den Gedanken für ein paar Momente freien Lauf zu lassen. In den Himmel schauen ist wie Meditieren.

Mobiler Überwachungsturm auf der Poppelsdorfer Allee (Quelle: Ronny Bittner)

Stadt

Videoüberwachung in der Innenstadt

Evidenzbasierte Kriminalitätsbekämpfung oder Symbolpolitik

Ein Kommentar von Clemens Uhing

04.05.2021 - Ausgabe 71

Die Polizei Bonn hat sich für den Zeitraum von Anfang (09.) April bis Ende Mai die Durchführung von Videoüberwachung gestattet. Dazu kommen mobile Kameratürme (siehe Bild) an der Beueler Rheinpromenade, am linksrheinischen Ufer zwischen Erzberger- und Brassertufer und auf der Poppelsdorfer Allee zum Einsatz. Auch für einen Einsatz auf dem Bertha-von-Suttner-Platz lägen die rechtlichen Voraussetzungen vor. Videoüberwachung meint hier nicht nur die Aufzeichnung des örtlichen Geschehens, sondern dessen Echtzeitbeobachtung durch “speziell geschulte Mitarbeiter:innen” (siehe Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Bonn vom 07.04.2021) des Polizeipräsidiums Bonn. Straftaten sollen so nicht nur besser verfolgbar, sondern auch gänzlich verhindert werden, in dem bei Anzeichen einer bevorstehenden Straftat schon Einsatzkräfte losgeschickt werden können. Nach Angaben der Bonner Polizei werden die Überwachungsgeräte allerdings nicht rund um die Uhr, sondern vor allem ab dem Nachmittag und über das Wochenende laufen. Zum ersten Einsatz kamen die Beobachtungstürme übrigens bereits im September letzten Jahres.

Rechtsgrundlage Polizeigesetz

Zur rechtlichen Begründung führt die Polizei §15a des Landespolizeigesetzes an. Konkret bezieht sie sich auf die Formulierung, nach der an solchen Orten Videoüberwachung eingesetzt werden darf,  an denen „[…] wiederholt Straftaten begangen wurden“ und deren „[…] Beschaffenheit […] Straftaten begünstigt“. Diese Formulierung wurde 2003 unter der rot-grünen Regierung von Peer Steinbrück in das Gesetz aufgenommen. Erhellt wird ihre Vagheit durch die Begründung des Gesetzes. Der erste Teil, nach dem nur besonders kriminalitätsbelastete Orte unter Überwachung gestellt werden dürfen, zielt darauf ab, „eine flächendeckende Videoüberwachung aller belebten Plätze“ zu verhindern, während der zweite Teil über die besondere Beschaffenheit des Ortes ausschließen soll, dass die Überwachungsmaßnahmen lediglich zu „Verdrängungseffekten“ führen (Landtag Nordrhein-Westfalen, Gesetzesdokumentation mit Archivnummer A 0303/13/79, S. 54). Zwar wurde §15a durch eine sehr umstrittene Novelle der schwarz-gelben Regierung im Jahr 2018 durch einen weiteren Satz erweitert, der es ermöglicht die genannten Einschränkungen durch den Verweis auf „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ zu umgehen, doch bezieht sich die Bonner Polizei auf diesen nicht. Es ist also fraglich, inwiefern die Maßnahmen des Polizeipräsidiums Bonn der Formulierung im Gesetz und ihrer Begründung genügen.

Es ist naheliegend, dass in den jetzt von der Videoüberwachung betroffenen Bereichen ein erhöhtes Aufkommen von Kriminalität festzustellen ist. Schließlich treffen sich dort in den Abend- und Nachtstunden bis zu mehrere hundert überwiegend junge Menschen, während sich in die Bereiche rheinauf- oder abwärts vorwiegend vereinzelte Spaziergänger:innen verirren. Ob die von der Polizei angeführte erhöhte Kriminalität nun ob des größeren Personenaufkommens höher ist, oder aus anderen Gründen, ist unklar. Eine Anfrage der Redaktion über ihre Zahlengrundlage ließ die Polizei bis zur Drucklegung dieser Ausgabe offen. Problematisch ist aber allemal, dass die Polizei gemäß §15a Absatz 3 selbst und ohne Gerichtsvorbehalt oder Rücksprache mit der Stadtverwaltung entscheiden kann, was sie für besonders kriminogene Orte hält. Dass es kaum öffentlich einsehbare Zahlen zur räumlichen Verteilung von Straftaten gibt, macht eine unabhängige Bewertung schwierig.

Weniger naheliegend ist, dass die nun beobachteten Bereiche tatsächlich eine besonders kriminalitätsfördernde Beschaffenheit aufweisen, also nicht einfach durch andere Orte austauschbar sind. Insbesondere am Rheinufer scheint dies absurd. Die Strecke etwa, die am linksrheinischen Ufer  unter Beobachtung steht, beträgt circa einen Kilometer. Verdrängungseffekte, durch die Menschenansammlungen und die damit möglicherweise einhergehende verstärkte Kriminalität sich einfach verlagern, gibt es sehr wahrscheinlich. Darum weiß wohl auch die Polizei. Ein kurzer Online-Artikel des WDR gab Ende September 2020 die Beobachtung von Polizeibeamten wieder, denen zufolge viele den Kameras einfach ausweichen würden (o.V.: Videoüberwachung am Bonner Rheinufer endet. WDR online: 30.09.2020, zuletzt abgerufen am 23.04.2021).

Symbolpolitik und Verdrängung

Dass die Überwachungsmaßnahmen zweckhaft sind, also Kriminalität tatsächlich unterbunden und nicht einfach nur verschoben wird, ließe sich nur sinnvoll schließen, wenn die Fälle von Kriminalität im öffentlichen Raum im Zeitraum der Maßnahmen insgesamt und nicht nur in den überwachten Bereichen zurückgingen. Welche Hinweise die Bonner Polizei dafür hat, wurde im Rahmen einer Anfrage der Redaktion erfragt, die aber unbeantwortet blieb. Einen kleinen Anhaltspunkt kann zumindest die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2020 geben. Dieser zufolge kam es im Kreispolizeibezirk Bonn (ohne Röttgen und Ückesdorf), in dem es im September 2020 Videoüberwachung am Rheinufer gab, zu keinem Rückgang, sondern vielmehr zu einer Steigerung der Gesamtkriminalität um 6,7 %. Die Straßenkriminalität hingegen ging um immerhin 1 % zurück. Die geringe zeitliche und räumliche Auflösung der Zahlen lässt allerdings keine Aussage über die Wirksamkeit der Maßnahmen hinsichtlich der Gesamtkriminalität zu. Zumindest aber deutet sich an – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Rückgänge der Gesamt- und Straßenkriminalität womöglich auf die Coronapandemie zurückzuführen sind – dass punktuelle Überwachung kaum über einen symbolischen Charakter hinauskommen kann. Passenderweise findet diese symbolische Überwachung ausgerechnet an innenstadtnahen Orten statt, über deren nächtliche Belebtheit Anwohner:innen sich schon länger beschweren (vgl. Franz, Rüdiger: Anwohner protestieren gegen Lärm auf der Poppelsdorfer Allee. Generalanzeiger online, 26.06.2020, zuletzt abgerufen am 23.04.2021). Es liegt also nahe, dass mögliche Verdrängungseffekte nicht als Argument gegen Videoüberwachung betrachtet werden, sondern vielmehr das Ziel sind. Echtzeitbeobachtung durch die Polizei und der dystopisch anmutende Anblick von Überwachungstürmen machen den schönsten Sonnenuntergang am Rheinufer oder auf der Poppelsdorfer Allee zunichte. Unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung, der zumindest nach den öffentlich einsehbaren Zahlen kaum evidenzbasiert ist, wird der Aufenthalt an innenstadtnahen öffentlichen Orten versauert. Wünschenswert wäre, wenn sich die Polizei Konzepte zur Kriminalitätsbekämpfung überlegen würde, die eindeutiger Wirkung zeigen, nicht aber den gerade in dieser Zeit besonders wertvollen Aufenthalt im Freien unangenehm werden lassen. Zumindest vorläufig wird sich das Problem „dank“ der neuerdings geltenden Ausgangsbeschränkungen von selbst erledigen – so kann die Polizei Ende Mai von einem bedeutenden Rückgang der Straftaten berichten.

Quelle: Pexels

Kultur

Fernseh-Fehltritte

Eine Ansammlung an fragwürdigen Statements sorgt für Kritik

04.05.2021 - Ausgabe 71

In den letzten Wochen hat sich das deutsche Fernsehen nicht nur einen, sondern gleich drei Skandale geleistet. Jeder dieser Skandale wurde von einer überwiegend jungen Stimme stark angeprangert und jeder hat mehr oder weniger starke Konsequenzen für die Kritisierten mit sich gezogen. Einsicht wurde erst in Betracht gezogen, nachdem die Stimme, welche auch der „Cancel Culture“ zugeschrieben werden könnte, laut genug wurde. Zu dem daraus zu schlussfolgernden Verantwortungsbewusstsein der Akteur:innen hinter den betroffenen deutschen Fernsehsendern später mehr. Zuerst eine kurze Übersicht, was sich abgespielt hat.

Sexueller Missbrauchsvorwurf

Eine Podcasterin spricht 2019 in ihrem Podcast von Erfahrungen mit sexueller Gewalt und einer toxischen Beziehungen zu ihrem Ex-Freund, den sie nicht namentlich nennt, da er in der Öffentlichkeit steht. März 2021 offenbart sie erneut, bis heute die durch sexuelle Gewalt entstandenen Schäden zu tragen und damit umgehen zu müssen. Obwohl sie auch in diesem Statement keine Namen nennt, werden Stimmen laut, die vermuten, wer der Verursacher dieser Schäden gewesen sein könnte und fordern Konsequenzen für ihn. Da es nicht der erste Vorwurf in die Richtung zu sein scheint und viele Angaben übereinzustimmen scheinen, wird die Forderung nach Konsequenzen immer lauter. Der Sender hinter dem Comedian: Sat1. Keine der beteiligten Personen hat sich bisher zu den Anschuldigungen geäußert. Das Statement des Senders war jedoch eindeutig: Es wird keine Konsequenzen geben, auch wenn der Sender jede Form von sexueller Gewalt verurteilt. Sogar von Lynchjustiz ist dabei die Rede.

Öffentliche Homophobie

Auch den zweiten Skandal muss sich Sat1 zuschreiben. In dem Trash-TV-Format „Promis unter Palmen“ wurde in der ersten Folge der zweiten Staffel Prinz Markus von Anhalt gezeigt, wie er mit offensichtlich hohem Alkoholspiegel auf ein weiteres Mitglied der Show losging und mit seinen Aussagen ein Level an Schwulenfeindlichkeit erreichte, das es einem schwer machte, auch nur die Berichte darüber zu lesen. Um seine Äußerungen zu beschreiben, reicht das Wort „Feindlichkeit“ nicht mehr aus, man kann nur noch von Hass und Ekel sprechen. Dementsprechend groß ist das Unverständnis, wie man derartige Haltungen unkommentiert und zu Unterhaltungszwecken senden konnte. Sat1 reagiert auch hier mit einem Statement, in dem sich der Sender von den Aussagen distanziert und betont, „dass alle Menschen gleich sind“ (Quelle). Im Internet brandet die Diskussion auf, ob auch Inhalte mit diskriminierenden Aussagen in der Öffentlichkeit präsentiert werden sollten, da diese ja schließlich leider auch im echten Leben stattfinden würden. Nach kurzer Zeit entschließt sich Sat1 dazu, alle Folgen der aktuellen Staffel zu überprüfen und schließlich auch die betroffene erste Folge aus ihrer Mediathek zu löschen. Markus von Anhalt wurde von den restlichen Mitgliedern der Show rausgewählt und wird wohl auch in Zukunft in keiner weiteren Sendung des Senders mehr zu sehen sein.

Sexismus in der Perioden-Branche

Auch der letzte Aufschrei fand während der Prime Time statt. Im Format „Die Höhle der Löwen“ von VOX stellen Kleinunternehmer:innen ja bekanntlich ihre Geschäftsideen vor, in der Hoffnung, von den Investor:innen Unterstützung gegen einen Anteil ihrer Firma tauschen zu können. Zwei junge Männer baten für 10.000€ Unterstützung 30% ihrer „pinky gloves“ an und hofften, gleichzeitig der Frauenwelt auszuhelfen. Ihre Idee: Sie haben 12er Packungen an pinken Einmalhandschuhen entwickelt , um Tampons und Binden geruchsneutral und sicher entsorgen zu können. Die Löw:innen waren begeistert und während der Show wurden beide Männer sowohl als Frauenversteher als auch empathisch und extrem fortschrittlich dargestellt und haben zwei Angebote der Finanzierung erhalten, von denen sie eins dankbar annahmen. Wie der Name schon vermuten lässt, fiel die Produktpräsentation sehr pinklastig, lieb und stereotypisch feminin aus. Die Reaktion im Internet war immens und alles andere als positiv. Besonders das Argument der Macher hinter den „pinky gloves“, dass die Handschuhe auch den unangenehmen Anblick, sowie Geruch von blutigen Periodenprodukten im häuslichen Mülleimer verhindern können, wurde oft wiederholt und die mit der Aussage einhergehende erneute Tabuisierung und Degradierung der Periode kritisiert. Ein weiterer Kritikpunkt fand sich in dem Umweltaspekt des Ganzen, der nicht ganz durchdacht gewesen zu sein schien. Zusätzlich kontrovers wurde die Situation durch den Vergleich mit einem weiblichen Unternehmen, das 2019 nachhaltige Perioden-Unterwäsche in der „Höhle der Löwen“ präsentierte und weder für das Angebot von 30.000€ gegen 10% des bereits länger bestehenden Unternehmens Investment erhielt, noch für ihren Mut hervorgehoben wurden, der Periode mehr Platz auf dem Markt einzuräumen.

Bei den „pinky gloves“-Machern zeigten sich die Folgen der Ablehnung schnell: Das Produkt wurde vom Markt genommen und sowohl die Unternehmer als auch der Investor entschuldigten sich öffentlich für ihre fehlende Umsicht. In demselben Post baten die Unternehmer für Rücksichtnahme und Zurückhaltung, was auf ihre Familien und ihr Umfeld gerichtete Morddrohungen und Hass anging.

Die Parallelen

So viel zu den Fakten. Es wurden drei Fälle dargelegt, die unserer Gesellschaft leider einen Spiegel vorhalten und deren Akteure nicht auf einer Ebene zu bewerten sind. Hierbei sind Vorwürfe der sexuellen Gewalt nicht mit öffentlich gezeigter Homophobie und Sexismus mit fehlgeleiteten, wie fehlinterpretierten Intentionen zu vergleichen und jede einzelne Kontroverse könnte einen Artikel für sich in Anspruch nehmen. Was allerdings alle Ereignisse gemein haben und worum es hier geht, ist der fragliche Umgang der Verantwortlichen hinter den Veröffentlichungen. Eine Aussprache gegen homosexuelle Männer, die als Hasspredigt betitelt werden könnte, ohne jegliche Einordnung vorzunehmen oder wenigstens eine Triggerwarnung zu inkludieren, kann nicht mit dem Anspruch begründet werden, zu zeigen, was in der „realen Welt“ passiere. Man hat mit der Entscheidung in Kauf genommen, Zuschauenden widerzuspiegeln, was für traumatisierende Erfahrungen sie in der „realen Welt“ erwarten können und sie zu erinnern, was sie und andere bereits erlebt haben, zumal all dies für Geld und Einschaltquoten in Kauf genommen wurde. Dasselbe gilt für die klare Haltung des Senders den Missbrauchsvorwürfen gegenüber. Mit der Entscheidung, alle Vorwürfe und Haltungen abzuweisen, wird wiederholt die Seite der Opfer außer Acht gelassen. Während niemand von einem Arbeitgeber erwartet, Angestellte bei Missbrauchsanschuldigungen sofort zu entlassen, ist ein Missachten der Vorwürfe in Kombination mit dem Unterstellen einer Lynchjustiz einfach nur problematisch und spiegelt eine Haltung wider, die es Betroffenen weiterhin erschwert, Missbrauch und Gewalt jeglicher Form zur Sprache zu bringen.

Und auch wenn man VOX und der „Höhle der Löwen“, sowie den Machern der „pinky gloves“ zu Gute halten muss, dass es wichtig ist, dass Männer nicht vor der Periode zurückschrecken und nichts verwerfliches daran finden sollten sich mit ihr auseinanderzusetzen, bringen einen doch einige Szenen aus der Folge zum Kopfschütteln. Sei es einer der Investoren, der sich als Mann nicht fähig sieht, so ein Hygieneprodukt unterstützen zu können oder die ewige Darstellung der Unternehmer als Frauenversteher, die vor dem unfassbar lieblichen Hintergrund und in Kombination mit der ausgeprägt weiblichen Ablehnung des Produkts einfach nicht mehr ernst genommen werden kann. Der Verweis, der der ganzen Kampagne schließlich endgültig das Genick gebrochen hat: Der unangenehme Blick in den Badezimmer-Mülleimer. Durch diesen Satz wird der Frauenversteher leider sofort wieder zu jemandem, der einfach keine Lust auf Blut im Bad hat. Ohne diesen Satz, mit einem besseren Umweltbewusstsein und dem Weitblick, dass nicht alle Frauen pink in ihrem Leben brauchen, um sich sowie ihre Hosen und (Hand-) Taschen vor Blut- und Ausflussflecken zu schützen, sind Produkte, die sich für Verbesserungen und Vereinfachungen der Periodenhygiene einsetzen, durchaus begrüßenswert.

Involviert in allen drei Fällen waren Stimmen aus dem Internet, die Kritik geäußert und Folgen gefordert haben. In Medien werden sie auch gerne unter dem Label Cancel Culture zusammengefasst, die für sich allein schon ein kontroverses Thema darstellt. An der Stelle sehr empfehlenswert: Link für Ronnys CancelCulture-Artikel. So oder so kann es nicht sein, dass sich ein so breit gefächertes Versagen in unserer Fernsehlandschaft widerspiegelt und Reflektion erst stattfindet, wenn Verärgerung laut wird. Die Handlungen zeigen vielleicht Einsicht, aber kein eigenständiges, verantwortungsbewusstes Denken und vor allem eine Haltung der Redaktionen hinter den Veröffentlichungen, die weder ein offenes, noch ein tolerantes Bild zeichnet.

Quelle: Luís Eusébio via unsplash

Gesellschaft

Ende gut, alles gut?

Das Bedürfnis nach einem Schlussstrich in einer sich im Kreis drehenden Zeit

Ein Kommentar von Dorit Selting

04.05.2021 - Ausgabe 71

Wann haben wir eigentlich aufgehört, uns gegenseitig alles zu versprechen, aufzuschieben, auf eine Zeit, wenn das alles wieder vorbei ist?

Genau kann ich das nicht sagen.

Aber vielleicht kam es mit der Erkenntnis, dass diese Zeit eventuell auch gar nicht kommt. Wir sind mittlerweile in der dritten Welle, dem drölften Lockdown und ich fange an, mit dem Mitzählen aufzuhören.

Die Konturen lösen sich auf wie eine Brausetablette, je länger alle möglichen Maßnahmen ineinander verschwimmen.

Langsam ertrinken wir in der in Bedeutungslosigkeit zerfließenden Flut an Forderungen nach neuen Strategien, die aber eigentlich nur old shit reloaded sind.

Alles wird immer nur noch verlängert; langgezogen wie ein zäher Kaugummi, gif-mäßig on repeat.

Wenn alles nie so richtig vorüber geht, erschwert das eine genaue Erforschung.

In diesem Sinn droht allen Studien, die zur Effektivität der Infektionsmaßnahmen laufen, die Gefahr, wissenschaftlich nicht verwertbar zu sein. Im Plural der Anordnungen ist es unvorstellbar, eine einzelne zu isolieren. Man kann nie sagen „Ja, die Ausgangsperre senkt die Inzidenz jetzt um soundsoviel und ist deswegen gerechtfertigt“; man kann nur feststellen „es ließ sich beobachten, dass die Ausgangssperre dazu beitragen kann, die Inzidenz zu senken“.

Ob diese Rechtfertigung aus dem Umkehrschluss (von wegen „geschadet hat es jedenfalls nicht“) als Legitimation ausreicht, ist ein anderes Thema.

Worauf ich hinauswill, ist, dass sich aus der allgemeinen Empörung der Wunsch nach einer Perspektive herauskristallisieren lässt. Ein klarer Standpunkt aus der Distanz, wie ihn ein Schlussstrich bietet.

Auf der verzweifelten Suche nach ebendiesem sehne ich mich so sehr nach einem epischen Finale, dass ich vergesse, dass das so nicht funktioniert.

Wissenschaft ist nicht das Werk eines Hollywood-Regisseur namens (Achtung, Wortspiel!) Trentin Quarantino, der das Drama vielleicht in einer tragischen Triologie präsentieren würde.

Nein. Auf der Bühne der Wissenschaft hat so etwas wie der letztgültige Beweis keinen Platz. Statt theatre and epilogue eben trial and error.

Je näher der Text sich selbst dem Ende neigt, desto mehr muss ich eingestehen, dass das Bedürfnis nach einem solchen also nicht ganz zielführend ist.

Wohl aber kann man für die bundeseinheitliche Notbremse als Abkehr vom föderalistischen Chaos die Erkenntnis schöpfen:

Statt die Utopie der Endgültigkeit eines Schlussstrichs zu fordern, kann man sich auch mit etwas mehr Bleistifthaftigem zufriedengeben:

Einer Zäsur.

Irgendwo markieren, dass es das vielleicht noch nicht komplett gewesen ist, aber wenigstens ein Abschnitt hinter uns liegt.

Und dann vielleicht das Drehbuch für die Fortsetzung ein bisschen umschreiben.

Über die Autorin

Dorit Selting

kommen manche Buchstabenreihenfolgen wie  „Verlängerung“ seltsam fremd und zusammenhangslos vor, je häufiger sie sie hintereinander wiederholt.

So geht es ihr auch konstant mit dem C-Wort. Daher hat sie es aus allgemeiner Rücksichtnahme nicht ein einziges Mal in ihrem Kommentar verwendet. (kann gerne kontrolliert werden)

Studium

Das neue Schulfach Wirtschaft/Politik

Fehler oder Chance?

Ein Kommentar von Lily Hußmann

05.04.2021 - Ausgabe 71

Über die Schulen NRWs wurde wegen der Coronapandemie in letzter Zeit viel und heftig diskutiert. Digitalisierung, Hygienekonzepte, Abschlussprüfungen: all diese Themen haben viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Gerade, weil unsere Schulen in diesen Bereichen chronisch hinterherhinken. Allerdings soll es hier nicht um das schlechte Internet oder die fehlenden Laptops in NRWs Schulen gehen, sondern um ein Thema, das medial weitestgehend untergegangen ist. Denn im Schatten der Coronapandemie wurde das Fach Sozialwissenschaften durch das neue Fach Wirtschaft/Politik ersetzt. Die Begründung des Bildungsministeriums: Man wolle für mehr wirtschaftliche Bildung sorgen. Und damit nicht genug: Auch der entsprechende Lehramtsstudiengang soll angepasst werden. Verständlicherweise fürchteten deshalb viele Studierende und angehende Lehrer:innen der Sozialwissenschaften um ihre berufliche Zukunft. So wurde auch von einer Studentin der Sozialwissenschaften eine sehr erfolgreiche Petition mit dem Namen #SoWibleibt ins Leben gerufen, die bereits über 40.000 Menschen unterschrieben haben. Deren Sorge wurde hingegen scheinbar schnell zerstreut, denn bereits ausgebildete und angehende SoWi-Lehrkräfte werden auch Wirtschaft/Politik unterrichten dürfen. Also alles gut? Nicht unbedingt.

Zwar kombinieren sowohl SoWi als auch WiPo Themenbereiche aus Ökonomie, Politik und Soziologie – man könnte meinen, es handle sich lediglich um ein „Rebranding“ -, doch wird die Gewichtung der Themenbereiche bereits im Namen des neuen Faches sichtbar. Wirtschaft/Politik – dieser Name suggeriert, dass wirtschaftliche Themen den politischen gegenüber priorisiert werden, während die Soziologie es gar nicht erst in den Namen geschafft hat. Die Befürchtung einer einseitigen, primär wirtschaftlichen Bildung der Schüler:innen liegt nahe. Inwiefern dieser erste Eindruck der Wahrheit entspricht, lässt sich mit einem Blick auf die Lehrpläne überprüfen. Bei einem Vergleich der Lehrpläne der gymnasialen Oberstufe fällt sofort auf: WiPo sieht viel mehr Pflichtbereiche vor als SoWi, elf statt wie zuvor sieben, umfasst aber auch zwei Wochenstunden mehr. Die Zahl der Soziologie-Pflichtbereiche ist dabei nicht gesunken. Nichtsdestotrotz dominieren die wirtschaftlichen Themen das Fach: Fünf der elf Pflichtbereiche sind wirtschaftlich ausgerichtet, während Soziologie und Politik jeweils nur drei Bereiche gewidmet werden.

Was bedeutet das also für die Schüler:innen? Zum einen bedeuten mehr Pflichtbereiche, dass die einzelnen Themen möglicherweise schneller und weniger tiefgreifend durchgearbeitet werden müssen. Zum anderen bleibt dadurch auch weniger Zeit für aktuelle Diskussionen und eigene Themen der Schüler:innen. Allerdings waren es immer genau diese Diskussionen, von denen man meiner Erfahrung nach am meisten profitiert hat, weil sie die Möglichkeit boten, kontroverse Standpunkte aus politischer, ökonomischer und soziologischer Perspektive zu beleuchten. Kein anderes Fach erlaubte es, in dieser Form zu diskutieren, und kein anderes Fach hat so viel zu meiner politischen Bildung beigetragen wie SoWi. Ich schaue deshalb mit Schrecken auf das neue Fach WiPo, in dem das interdisziplinäre Kräfteverhältnis aus dem Gleichgewicht geraten zu sein scheint, und zwar nicht zuletzt, weil mir die Neutralität und die kritische Auseinandersetzung mit unserem Wirtschaftssystem fehlen. Der Kapitalismus wird als gottgegebener Modus des Seins verstanden, die Schüler:innen eher zu Verbraucher:innen statt zu mündigen Bürger:innen erzogen. Aber das ist  nur meine konsumskeptische Spekulation. Natürlich gibt es momentan noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu, wie sich WiPo gegenüber SoWi auf junge Menschen auswirkt.

Die Auswirkungen auf die Studierenden hingegen sind sehr real. Laut Schulministerium könnte Wirtschaft/Politik bereits ab Herbst diesen Jahres für Studienanfänger:innen angeboten werden. Natürlich können aktuell Studierende ihr Studium noch abschließen und danach auch unterrichten, aber eben nicht mehr genau das Fach, für das sie sich eingeschrieben haben, weil es schlicht und einfach nicht mehr in dieser Form existiert. Allerdings wirft diese Tatsache auch die Frage auf, warum der Studiengang überhaupt angepasst werden muss, wenn doch SoWi Lehrer:innen bereits alle nötigen Qualifikationen besitzen, um WiPo zu unterrichten. Dadurch könnte möglicherweise auch Konkurrenz zwischen SoWi und WiPo Absolvent:innen entstehen, weil letztere vielleicht gefragter wären und bei der Stellenbesetzung den Vorzug bekommen könnten.

Eigentlich ist die Motivation für die Einführung des neuen Fachs keine schlechte. Im Gegenteil: mehr wirtschaftliche Bildung ist gut und wichtig. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, dass ich in der Schule gelernt hätte, wie man eine Steuererklärung macht, seine Finanzen regelt oder welche Rechte man als Verbraucher:in hat. Aber dieses Wissen auf Kosten der gesellschaftlichen und politischen Bildung zu vermitteln, ist einfach nicht richtig. Überhaupt erscheint mir die ganze Sache eher als Versuch, die Fehler eines Schulsystems, das schon seit Jahrzehnten generalüberholt werden müsste, zu kaschieren. Statt den Schüler:innen insgesamt mehr Zeit zum Lernen zu geben, wird versucht, mehr Stoff in dieselben 12 Jahre zu stopfen. Aber hey, wir machen ja was für die Bildung!  Meine komplette Vision eines neuen Schulsystems hier aufzuführen, würde wahrscheinlich den Rahmen sprengen. Also hier eine konkrete Idee fürs Bildungsministerium: SoWi wird wieder eingeführt. Wirtschaft kann es dann als eigenes Fach geben, wie es schon an einigen beruflichen Gymnasien unterrichtet wird. Das ist wiederum nur möglich, wenn die 12 Jahre Schulzeit mindestens auf 13 Jahre erhöht werden, wie das an beruflichen Gymnasien vielerorts bereits der Fall ist. In meiner Erfahrung erlaubt dieses Modell nicht nur eine umfassendere politische Bildung, es ist auch wesentlich stressfreier.

Kolumne - Zwischenruf

Alea iacta est?

Oder weiterhin alles möglich?

Eine Kolumne von Helene Fuchshuber

04.05.2021

Aurel Mertz wünscht sich einen Delfin als Bundeskanzlerin. Ich wünsche mir Annalena Baerbock als Kanzlerin. Ich habe die Befürchtung, dass wir beide nicht bekommen werden, was wir wollen. Auf der anderen Seite… Alternativ wird Armin Laschet Bundeskanzler und ich kann mir kaum vorstellen, dass das irgendjemand möchte. Außer vielleicht den 21%, die am 20. April bei der Forsa Umfrage „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…“ für CDU/CSU stimmten. Wenn man da genauer hinsieht: Wer weiß, ob dieser Wert nach der Bekanntgabe Laschets als Kanzlerkandidat entstand? Oder da noch heimliche, oder wahlweise verpeilte, Söder-Fans mit drinstecken? So oder so kommen die Grünen in dieser Umfrage auf 28%. Und das nach, und mit immerhin ein bisschen Abstand zu, der Veröffentlichung von Annalena Baerbocks Kandidatur.

Aber Umfragewerte aus dem April 2021 hin oder her. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer die oder der nächste Kanzler:in wird. Und auch wenn ich hoffe, dass mein Wunsch in Erfüllung geht: Hoffe ich das wirklich?

Versteht mich nicht falsch: Ich denke eine grüne Bundeskanzlerin wäre das Beste, was Deutschland passieren könnte. Wir brauchen frischen Wind in der Politik, am besten grünen, und ganz generell neue Antworten auf neue und alte Fragen, die uns 16 Jahre CDU-Regierung nicht gegeben haben. Aber ich habe auch Angst. Angst davor, dass das erstens ganz viele Deutsche ganz anders sehen. Und zweitens, dass due to Roni jede:r Kanzler:in gerade noch mehr, als regierende Politiker:innen sowieso schon, Kompromisse eingehen muss. Statt frischem Wind in den Segeln das Schiff auf Kurs halten soll. Keine Risiken eingeht, sondern einfach nur auf Land in Sicht hofft. Und ich möchte nicht, dass die Grünen ihre „historische Chance“ und die Sympathien ihrer Wähler:innen dadurch verspielen. Vielleicht ist ihre Zeit einfach noch nicht da?

Ich bin fast geneigt, mich Mertz anzuschließen. Wohlgemerkt ganz wichtig, MerTz, nicht Merz (der jetzt Laschet unterstützt und in letzter Zeit vor allem negativ mit Tweets zum Thema Gendern auffiel): Wie wäre es mit einem Delfin als Bundeskanzlerin? Das sind emphatische Wesen, die sich ziemlich sicher für den Erhalt unserer Weltmeere einsetzen und interessante Aspekte zum Thema Familie beisteuern würden. Aber noch einmal zurück zu Merz:

Vielleicht ist doch jetzt genau der richtige Zeitpunkt für eine grüne Bundeskanzlerin. Wann, wenn nicht jetzt. Wenn ein renommierter Politiker wie Friedrich Merz immer noch Witze a la „Grüne und Grüninnen“ macht. Wenn der CSU-Vorsitzende Markus Söder das Votum des CDU-Vorstands für Armin Laschet bloß „akzeptiert“, alea iacta est, und ankündigt, jetzt mit ihm zusammenzuarbeiten. Jetzt, nach mehrwöchigem Hahnenkampf beziehungsweise Zickenkrieg.

In dem Fall wüsste ein Delfin wahrscheinlich doch nicht so viel auszurichten, also bei Zickenkrieg, und Frau Baerbock bleibt die sinnvollere Kandidatin. Ich bleibe also dabei, ich wünsche mir eine grüne Bundeskanzlerin.

Ohne mich zu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, ist das ja sogar realistisch. Erstens, siehe die Umfragewerte. Und zweitens hatte ich in der Schulzeit aufgrund meiner mitunter hellseherischen Fähigkeiten den Spitznamen Cassandra. Ich war ziemlich gut darin, Trennungen oder auch glücklichere Umstände vorauszusehen. Und vor kurzem haben sich meine Fähigkeiten auf andere Weise so gut wie bewiesen:

Ich neige dazu, Dingen und auch Menschen, die ich nicht kenne, Namen zu geben. Pflanzen zum Beispiel taufe ich grundsätzlich, um eine Bindung zu ihnen aufzubauen und die Wahrscheinlichkeit, sie zu killen, zu verringern. Aber eben auch Menschen, die ich häufig sehe, die mir irgendwie auffallen, sympathisch oder auch ganz unsympathisch sind. Vor kurzem habe ich einen Crush von mir Jonathan getauft. Zwischenzeitlich hieß er Simon, Samuel und Gabriel, aber das passte irgendwie alles nicht. Jonathan dagegen passt. Fand ich. Der Punkt, weshalb ich das hier aufschreibe, ist der, dass Jonathan tatsächlich Jonathan heißt. Ich hab‘s ja gesagt, Cassandra und so. (An dieser Stelle übrigens Grüße an Jonathan, falls du das aus irgendwelchen Gründen lesen solltest).

Um jetzt die Kurve zur K-Frage zu kriegen: Ich finde nicht, dass Armin Laschet als Kanzler passt. Ich finde auch nicht, dass Olaf Scholz den Eindruck erweckt, dieses Land ab September regieren zu wollen. In mein Bild fügt sich Annalena Baerbock jedoch ziemlich gut als Kanzlerin (vielleicht ja sogar von RotRotGrün?) ein.

Aber um auch noch mal einen Schlenker zu Cassandra zu machen, für alle, die sich bis hierhin gewundert haben, was es mit diesem Namen auf sich hat: Cassandra ist eine mythische Gestalt. Der Gott Apollo verliebte sich in sie und beschenkte sie mit der Gabe der Hellseherei. Cassandra jedoch erwiderte seine Liebe nicht. In seinem Stolz gekränkt verfluchte Apollo sie daraufhin, zwar die Wahrheit über die Zukunft zu wissen, jedoch von niemandem ernst genommen zu werden. So wurde sie zu einer Weissagerin schlimmer Ereignisse, die niemand verhinderte, weil niemand ihr Glauben schenkte.

In Analogie dazu müsste ich zuallererst einmal Anhängerin des griechischen bzw. römischen Polytheismus sein und an einen in mich verliebten Apollo glauben. Des Weiteren wäre ich also dazu verdammt, eine Zukunft vorherzusehen, an die niemand glaubt. Spätestens hier scheitert meine Referenz, da ich uneitel eingestehen kann, dass vermutlich nicht nur ich gerne Annalena Baerbock als Bundeskanzlerin hätte. Und mein Traum, ja meine Vorhersage, würde ja gar nicht erst in Erfüllung gehen, wenn nicht auch andere daran glaubten.

Eine andere Perspektive wäre, dass ich mit der Prophezeiung, dass Deutschland demnächst hoffentlich von einer grünen Bundeskanzlerin regiert wird, Unheil vorhersage, das nicht verhindert werden wird. Auch dem würde ich widersprechen. Schlicht mit dem Verweis auf den Ist-Zustand und der Frage, was um Himmels Willen schlechter laufen könnte unter einer grünen Regierung? Außerdem liegt Unheil hier ganz eindeutig im Auge der Betrachtenden. Dass Friedrich Merz eine „Grünin“ an der Spitze Deutschlands nicht gut-heißen würde, scheint klar. Auch viele Querdenker:innen wären vermutlich schwer enttäuscht (wobei die eh nur enttäuscht werden können und ich es ihnen gar nicht recht machen will mit irgendeiner Prophezeiung). Aber all die anderen, die jetzt gerade hoffen, dass sich vielleicht wirklich mal etwas ändert. All die, die sich gefreut haben, dass Baerbock als Kandidatin der Grünen aufgestellt wurde. All die, die sich einfach nicht vorstellen können, wie CDU/CSU oder auch die SPD irgendwas zum besseren oder zumindest irgendwie wenden sollen. All die, und zu denen zähle ich mich als Cassandra auch, sähen in der Erfüllung meines Orakelspruchs kein Unheil.

Last but not least ein weiterer Bogen, damit sich der Kreis endlich schließt: Einem anderen Mythos zufolge wurde das Baby Apollo von einem Delfin an Land gebracht. Vielleicht passt diese Info auch gar nicht in den Kreis. Wie auch immer. Delfine, Grüne, Apollo, Wahlprognosen – alles in einen Topf: Iactate aleam!

Über die Autorin

Helene Fuchshuber

Weiß, dass sie keine hellseherischen Fähigkeiten hat. Sie glaubt auch weder an Horoskope noch Astrologie generell. Trotzdem fände sie es toll, wenn ihre Prophezeiung wahr wird. Und Delfine findet sie zwar auch toll, aber eben nicht ganz so toll…